Kitabı oku: «Der Tod - live!», sayfa 4

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NOTFALLSTATION, UNIVERSITÄTSSPITAL, BASEL

Die Warterei machte ihn madig. Zwar konnte Joël wegen seiner Verletzung durch das Gummischrot kaum noch etwas sehen, doch die grünen Wände des Eingangsbereichs der Notfallstation irritierten ihn. Zudem konnte er das Gestöhne und Gejammer der anderen Verletzten nicht mehr ertragen. Wer nicht in Lebensgefahr schwebte, musste in diesem grünen Raum warten und konnte darauf hoffen, dass irgendwann sein Name aufgerufen wurde.

Wie er hierhergekommen war, wusste er nicht mehr genau. Jemand hatte ihn wohl auf der Strasse gefunden und hierhergebracht. Langsam kam er aber wieder zu sich. Er prüfte, ob er seine Fotokamera noch hatte. Ja, sie war da. Das war das Wichtigste.

Jetzt müssen meine Bilder aber subito in die Redaktion geschickt werden, befahl er sich selbst. Wie spät ist es wohl? Meine Güte, ich verpasse den Redaktionsschluss! Und ich habe kein einziges Foto im Blatt!

Er stand auf und ging Richtung Ausgang, stiess aber mit jemandem zusammen. Er tappte weiter und lief gegen eine Wand. Jemand fragte ihn, wohin er wolle. Er müsse hinaus, Luft schnappen. Die Person, vermutlich eine Frau, aber da war sich Joël nicht sicher, führte ihn hinaus und sagte, er müsse jemand anderen bitten, ihn zurückzuführen. Joël fragte, ob er oder sie so nett wäre, ihn auf dem Handy mit seinem Chef, Peter Renner, zu verbinden, denn Joël konnte auf dem Display nichts erkennen. Seine Augen waren viel zu stark verschwollen.

«Alles okay bei dir?», fragte Renner.

«Ja», log Joël.

«Wo bist du?»

«Vor dem Spital.»

«Warum denn das?»

«Spielt keine Rolle.»

«Okay. Du triffst dich jetzt mit Flo und Alex. Die beiden sitzen beim Tinguely-Brunnen und schreiben Texte. Du musst alle Bilder von dir und auch jene von Henry und Sandra auswählen und subito mailen. Wir stehen unter Druck, Redaktionsschluss ist in einer Stunde. Verstanden?»

«Okay. Warum können Henry und Sandra das nicht …»

«Sie sind verletzt.»

«Okay.»

«Bei dir ist alles klar?», fragte Renner nach. «Du klingst irgendwie komisch.»

«Nein. Geht schon.»

«Was zum Teufel ist mit dir?»

«Nichts. Kommt gut.»

«Du bist auch verletzt, stimmt’s? Warum sagst du das nicht? Bleib, wo du bist! Wart, bleib am Telefon …»

Joël hörte wie Renner über eine zweite Leitung mit Alex sprach. Er müsse Joël beim Spital abholen. «Nein, es geht schon, Peter. Gib mir einen Moment!» Renner antwortete nicht. «Ich Idiot», murmelte Joël. «Die schmeissen mich raus. Ich gehe einfach immer zu weit und bekomme auf die Schnauze, das …»

«Joël?»

«Ja!»

«Alex und Henry kommen. Was ist los?»

«Nichts. Ich habe es einfach vermasselt … ich wollte den Kerl foto… dann … scheisse, ich hab Durst …»

«Joël!»

«Ja. Hier. Wer ist am Telefon …»

«Ich bin es, Renner, die Zecke, Peter!»

«Kannst mich rausschmeissen, Zecke. Oder Haberer, der Kotzbrocken. Ich kann’s einfach nicht. Ich bin ein mieser Reporter … ein ganz mieser …»

«Joël, beweg dich nicht von der Stelle! Die beiden werden gleich bei dir sein. Rede jetzt einfach mit mir. Hörst du? Was ist passiert? Erzähle es mir. Ruf um Hilfe!» Peter Renner klang plötzlich sehr weit weg.

«Joël!»

«Ich … ich …»

24. Februar

JURASTRASSE, LORRAINE-QUARTIER, BERN

Nach knapp zwei Stunden Schlaf piepste Peter Renners Smartphone. Es war der Weckruf. Renner stellte sich kurz unter die Dusche und trank drei Espressi. Dann machte er sich auf den Weg in die Redaktion.

Vermutlich war der gestrige Tag der bisher schlimmste seiner ganzen Journalistenkarriere gewesen. Nicht die Ereignisse und die Hektik hatten ihn kaputt gemacht, sondern die Tatsache, dass er von fünf Reportern drei verloren hatte. Hatte er zu viel von ihnen gefordert? Lohnte es sich wirklich, die Gesundheit, ja vielleicht, das Leben aufs Spiel zu setzen für eine Reportage? Übten er, Jonas Haberer und auch Emma Lemmovski, zu viel Druck auf die Mitarbeitenden aus?

Renner versuchte sein schlechtes Gewissen mit den Tatsachen zu beruhigen. Denn Henry würde sich schnell erholen, er hatte wirklich nur einen Schock erlitten. Joël hatte zugeschwollene Augen und eine Gehirnerschütterung. Das brauchte zwar Zeit, doch Joël würde ziemlich sicher wieder ganz gesund werden. Allerdings war noch eine Untersuchung seiner Augen nötig.

Sorgen machen musste man sich hingegen um Sandra Bosone. Sie lag mit einem Schädel-Hirn-Trauma im Koma. Es war noch unklar, ob das Trauma ein schweres oder ein mittelschweres war. Deshalb waren auch ihre Heilungschancen noch ungewiss. Mehr hatte Peter Renner gestern Nacht nicht erfahren. Er hatte kurz mit Sandras Mutter telefoniert und ihr von Seite der ganzen Redaktion Unterstützung und Mitgefühl zugesagt. Das hatte Frau Bosone aber nicht beruhigen können. Sie hatte während des Telefonats die ganze Zeit geheult, während ihr Mann am Steuer sass. Bosones waren mit dem Auto von ihrem Wohnort Gockhausen bei Zürich nach Basel unterwegs.

Reporterin und Politikjournalistin Sandra Bosone gehörte zu jenen Opfern, die in Lebensgefahr schwebten. Davon gab es fünf. Insgesamt wurden bei der Massenpanik auf dem Barfüsserplatz drei Personen getötet, darunter ein Kind. Neben den fünf, die mit dem Tod kämpften, waren dreiundvierzig Personen verletzt worden, davon sechzehn schwer. Einundsiebzig Personen mussten ambulant behandelt werden.

Ein Terrorakt konnte noch nicht vollständig ausgeschlossen werden – so die aktuellste Medienmitteilung der Basler Staatsanwaltschaft von 23.57 Uhr. Doch bis jetzt deute alles auf eine Panik hin, ausgelöst durch eine Gruppe schwarz-maskierter Personen, die Pyros und Knallkörper abfeuerten. Die Identität dieser Personen sei unbekannt, es würden Zeugen gesucht.

Peter Renner und das Redaktionsteam von «Aktuell» hatten den Redaktionsschluss überzogen. Das Material der Reporter vor Ort war von solcher Dramatik, dass Chefredaktor Jonas Haberer die ganze Zeitung mit der Basler Katastrophe füllte. Gegen ein Uhr morgens hatte Haberer am Telefon einen fürchterlichen Streit mit dem Druckereichef gehabt. Peter Renner hatte nebst all seiner anderen Arbeit die Verlegerin Emma Lemmovski angerufen, die sich des Druckereichefs annahm und ihm die aussergewöhnliche Situation erklärte. Jedenfalls gab es danach keine Probleme mehr mit dem Druckzentrum.

Als alles fertig war, wollte Haberer mit Renner unbedingt ein Bier trinken. In Haberers Büro tranken die beiden kurzerhand ein Sixpack. Haberer redete kein einziges Wort über die Story, sondern diskutierte mit Renner, was mit ihren Reportern wohl passiert sei und ob sie beide als Vorgesetzte etwas falsch gemacht hätten.

«Wir beide sind Haudegen», sinnierte Haberer. «Wir setzen unsere Leute zu fest unter Druck. Wir sind doch bloss Journalisten, es geht doch eigentlich um nichts. Bloss Rock’n’Roll, was, Pescheli?» Renner antwortete nichts darauf. Für ein Mal war er es, der seinem Kollegen auf die Schulter klopfte. Es war aber mehr ein Tätscheln.

Punkt sieben Uhr stand er vor dem schmucklosen Betongebäude im Wyler, in dem sich die Redaktion befand. Er wollte gerade hineingehen, als ein grosser Wagen hupend auf ihn zuraste und abrupt bremste. Es war ein schwarzer Toyota Land Cruiser V8. Renner kannte diesen Panzer, wie er ihn nannte. Die Scheibe wurde heruntergelassen und Jonas Haberer schrie: «Pescheli, heute machen wir alle fertig, nicht wahr? Heute beweisen wir, dass die Zecke und der Kotzbrocken alle anderen an die Wand spielen können. Ha, das wird ein geiler Tag!» Er hupte, gab Gas und raste Richtung Tiefgarage.

INNERSTADT, BASEL

Es wäre der dritte und letzte Fasnachtstag gewesen, bei schönstem Wetter und milden Temperaturen. Zehntausende wären in die Stadt geströmt und hätten den Abschluss der drei schönsten und wichtigsten Tage im Jahr der Stadt Basel bis weit in den Donnerstag hinein gefeiert und genossen.

Jetzt, kurz nach acht Uhr, fuhren fast menschenleere Trams und fast menschenleere Busse durch fast menschenleere Strassen. Überall standen Armeeangehörige und Polizisten. Durch die Seitenstrassen und Quartiere fuhren Polizeiwagen mit Megafonen auf dem Dach und forderten die Bevölkerung auf, zu Hause zu bleiben. Die Fasnacht sei abgesagt und sämtliche Läden in der Innerstadt blieben geschlossen. Dies sei eine polizeiliche Anordnung.

Viele Kneipen hatten bereits seit Dienstagabend geschlossen und die Fasnächtler nach Hause geschickt. In jenen Beizen, die noch offen waren, herrschte eine gedrückte Stimmung. Nur einige Betrunkene wollten noch feiern. Doch sie wurden weggeschickt oder der Polizei übergeben.

KRIMINALKOMMISSARIAT, WAAGHOF, BASEL

«Wir haben noch einen Toten mehr», meldete Giorgio Tamine, als Olivier Kaltbrunner das Büro betrat.

«Wer ist es?»

«Ein Mann, 63. Brauchst du den Namen?»

«Nein, lass.» Kaltbrunner setzte sich auf seinen Stuhl, nahm die Brille von der Nase und legte sie auf seinen Schreibtisch. «Zum Glück kein Kind. Eines reicht.» Die beiden schwiegen.

«Kaffee?», fragte Tamine nach einer Weile. «Gerne», antwortete Kaltbrunner und beobachtete, wie sein Kollege die Kapsel in die Maschine schob, den Knopf drückte und die Maschine anstarrte. Alles war eigentlich ganz normal. «In einer halben Stunde geht es los», rapportierte Tamine und stellte Kaltbrunners «Chef»-Tasse – ein Geschenk Tamines, das Olivier Kaltbrunner schon immer blöd gefunden hatte – auf den Tisch. «Was geht los?», fragte Olivier Kaltbrunner.

«Die ganze Scheisse. Rapport an Rapport. Alle erwarten, dass wir die Mitglieder dieser sogenannten Schwarzen Clique bereits gefasst, verurteilt und gehängt haben.»

«Hey, hey», mahnte Kaltbrunner. «Das erwartet doch niemand. Was machen die Medien? Wurden wir schon für schuldig erklärt?»

«Nein. Die berichten alle relativ vernünftig, geschockt et cetera. Ausser ‹Aktuell›.»

«Oha!» Tamine brachte seinem Vorgesetzten die Mittwochausgabe. Auf der Frontseite war das Bild einer Mutter im Clownkostüm, die ihr Kind versteckte. Beide hatten weitaufgerissene Augen. Ihre Blicke waren verstört, angstvoll, verzweifelt. Die Schlagzeile lautete: Terror! Kaltbrunner blätterte die Zeitung durch. Das ganze Blatt, 44 Seiten, war ausschliesslich mit Berichten und riesigen Bildern über die Basler Ereignisse gefüllt. Selbst der Sport, das Fernsehprogramm, Sudoku und Comics, ja sogar der Wetterbericht, waren für einmal aus dem Blatt geworfen worden, um mehr Platz für die Reportagen zu erhalten.

Die Bilder zeigten die «Schwarze Clique» beim Einmarsch auf den Barfüsserplatz, das Abbrennen der Pyros, beim Abfeuern der Knallpetarden. Dann viele Fotos, wie die Angehörigen der «Schwarzen Clique» flohen. Auf grossen und langen Bildstrecken waren viele dramatische Bilder der Massenpanik zu sehen. Dann wurde der Auftritt der Polizei dargestellt: Tränengas, Gummischrot. Und das Erscheinen der Sanität. Verletzte, Tote. In Grossaufnahme. Der Kommissär schlug die Zeitung zu. «Sag mal, Giorgio», sagte Kaltbrunner. «Was haben die anderen Medien?»

«Willst du alles sehen?»

«Nein. Und das Fernsehen? Die Online-Medien?»

«Alle haben in etwa das Gleiche. Rauch und flüchtende Menschen. Aber die ‹Schwarze Clique›, die Pyros, die Verletzten, die Toten – das alles hat nur ‹Aktuell›. Die sind einfach überall.»

«So, so», machte Kaltbrunner. «Hmm, hmm.»

«Was meinst du damit?»

«Weiss man jetzt, warum das gesamte Kommunikationsnetz in Basel gestern zusammengebrochen ist?»

«Die Kommunikation war ja nicht in ganz Basel gestört, nur im Bereich Innerstadt, und dort gezielt am Barfüsserplatz in einem Radius von etwa einem Kilometer. Die Techniker sind daran, mehr herauszufinden. Sicher ist nur, dass die Handynetze von aussen gestört wurden. Mit einem oder mehreren Störsendern. Oder so etwas Ähnlichem. Ich müsste René fragen, der das untersucht.»

«Hmm, hmm, so, so», machte Kaltbrunner.

«Es waren aber nicht nur die Handynetze gestört», erklärte Tamine weiter. «Auch das gesamte Internet war rund zwei Stunden lang blockiert. Sagt zumindest René.»

«Wie das?»

«Auch da müssen wir noch recherchieren. Die Provider, also die Internetanbieter, vermuten, dass sie gehackt worden sind.»

«Ach was», Olivier Kaltbrunner setzte seine Brille auf. «Die waren doch einfach überlastet, zusammengebrochen, wie an Silvester. Alle tippen in ihrer Panik und bumm, Netze tot. René soll mal nicht überbeissen, der sollte vielleicht weniger hinter dieser Kiste …»

«Oh, ihr redet über mich», René trat ins Büro. «Schön.»

«Was erzählst du da von Sabotage von Handynetzen und Internet?», fragte Kaltbrunner.

«Ja, Sabotage ist wohl der richtige Ausdruck. Habe gerade von der Swisscom die Meldung erhalten, dass sie von aussen angegriffen worden war. Genau zwischen 16.55 bis 19.03 Uhr.»

«Um 17 Uhr explodierten die Bomben auf dem Barfi …», sinnierte Tamine.

«Die Petarden, Giorgio, die Petarden, es waren keine Bomben», korrigierte Kaltbrunner.

«Das ist doch kein Zufall, wenn ihr mich fragt», sagte René. «Aber ihr fragt mich ja nicht.»

«Das war Sabotage», wiederholte Tamine Kaltbrunners Worte. «Du hast Recht.»

«Es war vielleicht doch ein Terrorangriff.»

«Aus dem Internet?»

«Ich weiss es nicht.» Olivier Kaltbrunner stand auf und schaute zum Fenster hinaus. Unter seinem Büro fuhr ein gelbes 10er-Tram der Baselland-Transporte Richtung Stadt vorbei. Doch, irgendwie ist dieser Tag doch normal, dachte er. Dann knüpfte er die Fakten, Vermutungen und Spekulationen weiter zusammen: «Erst ein kleines Bömbchen einer geistig Behinderten. Dann einige Pyros am nächsten Tag. Und schon hast du eine Massenpanik.»

«Und was soll die Sabotage des Internets und der Handynetze?», fragte Tamine.

«Und warum waren nur ‹Aktuell›-Reporter anwesend?», fragte Kaltbrunner zurück.

«Na ja, also anwesend waren schon auch andere Fotografen und Reporter. Aber sie haben einfach nicht diese Bilder, weil sie entweder zu weit weg waren oder was weiss ich. Ich meine, die Abfacklerei der Pyros dauerte höchstens einige Sekunden.»

«So, so», machte Kaltbrunner. «So, so.» Er schnappte sich die anderen Zeitungen und ging auf die Toilette.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

«Was meinst du, Jonas, sollten wir nicht unsere Verlegerin mit einbeziehen?», fragte Peter Renner. Er sass zusammen mit Haberer in dessen Büro, das der Chefredaktor abgeschlossen hatte. Das tat er eigentlich nie. Aber er hatte Grund dazu. Was die beiden zu besprechen hatten, war geheim und von allerhöchster Brisanz.

«Die Lemmo?», fragte Haberer und lachte. Er lag mehr, als dass er sass, auf seinem Stuhl und hatte die Beine auf den Konferenztisch gelegt. Unter seinen Boots bildete sich auf dem weissen Tisch ein kleiner Berg aus Sand und Erde. «Also die Lemmo muss nun wirklich nichts davon wissen.»

«Emma Lemmovski gehört immerhin die Zeitung, und sie sollte wissen, wenn wir …»

«Die Zeitung gehört vor allem ihrem Alten, Kamerad Dave, der hat die Kohle. Und dank uns ist seine Emmi beschäftigt und kommt nicht auf dumme Gedanken.» Haberer prustete los, der Tisch zitterte heftig, das Schmutzhäufchen wuchs.

«Solltest mal deine Schuhe putzen», sagte Renner trocken. Darauf bekam Haberer einen Lachanfall.

Plötzlich wurde er ernst: «Pescheli, wir ziehen jetzt das mit unserer Kirschtorte durch. Und wir reden erst mit irgendjemand anderem darüber, wenn die Story draussen ist und wir vor Exklusivität geplatzt sind.»

«Und wenn alles ein Fake ist, eine Ente?», wandte Renner ein.

«Das ist keine Ente. Dieser John Knox …»

«Fox!»

«Ist ja egal. Also, dieser Kerl hat uns die gestrige Show auf dem Platz in Basel angekündigt. Wir hatten alles exklusiv. Also, was willst du mehr? Der blufft nicht. Ich sage dir, Pescheli, da ist ein ganz grosses Ding im Gang. Da geht es um eine riesige Sache. Und wir sind mittendrin. Wenn mich dieser Fux kennt, dann von früher, als ich Politjournalist im Bundeshaus war. Der führt etwas im Schilde. Und wir werden herausfinden was. Und wir werden auch herausfinden, wer dieser Kerl ist. So schwierig kann das nicht sein. So viele kommen nicht in Frage. Der Anteil an dummen Nüssen ist unter Politikern extrem hoch. Also wird das für uns kein Problem sein. Und dann machen wir ihn fertig. Dann machen wir ihn und die ganze Organisation, die dahinter steht, kaputt!»

«Was ist denn mit dir los? Ich bin es normalerweise, der sich so in eine Story verbeisst, Jonas. Ich bin die Zecke. Du bist bloss der Kotzbrocken.»

«Werde ich auf der Redaktion immer noch so genannt?» Jonas Haberer schaute seinen Stellvertreter plötzlich mit reuigem Hundeblick an. Ein Ausdruck, den Renner erst ein- oder zweimal gesehen hatte. Und dann war immer mindestens eine Frau dabei. Eine mit langen, blonden Haaren …

«Logisch, du bist ja auch ein Kotzbrocken.»

«Gut. Das gefällt mir. Ich eröffne gleich ein Facebook-Profil. Jonas Kotzbrocken. Gefällt …»

«Stopp, stopp, stopp», rief Renner laut und hoffte, einen erneuten Lachanfall seines Chefs zu unterbinden. Aber er hatte keine Chance. Der Dreck wurde durch einen heftigen Schlag von Haberers Beinen auf den Tisch in die Höhe katapultiert und über die ganze Fläche verteilt.

«Sag mal, Pescheli», sagte Haberer ganz ruhig. «Was spürst du im Urin? Topstory oder Flop?» Peter Renner schloss die Augen.

«Na? Mach‘s nicht so spannend!»

Renner, die Zecke, liess sich Zeit. Dann sagte er zögernd: «Top …»

Haberer prustete los, schlug Renner auf die Schulter und marschierte davon. Klack – klack – klack.

INTENSIVSTATION, UNIVERSITÄTSSPITAL, BASEL

Eine Maschine piepte im Rhythmus von Sandras Herzen. Henry Tussot machte dieses Geräusch schier wahnsinnig. Am liebsten hätte er den Apparat aus dem Fenster geworfen.

Er selbst hatte sich von seinem Schock einigermassen erholt. Sandra durfte er nur besuchen, weil ihre Eltern es ihm erlaubten. Er hatte sich ihnen gegenüber nicht nur als Arbeitskollege, sondern auch als Sandras bester Freund ausgegeben. Und da Sandra ihren Eltern offenbar schon einiges über Henry erzählt hatte, liessen sie ihn zu ihr. Sandra lag im Koma. Wie stark ihre Hirnverletzung war, konnte noch nicht diagnostiziert werden. Sagten jedenfalls die Ärzte. Henry regte sich darüber auf. Aber irgendwie half ihm auch das nicht weiter. Es war einfach elend. Er hielt ihre Hand. Sie war so wunderschön zart. So verletzlich.

«Mach keinen Scheiss», flüsterte er Sandra zu. «Wir sind Reporter, keine Opfer, hörst du?» Er drückte ihre Hand. «Wir schaffen das! Du bist stark! Wir sind stark!» Er küsste Sandras Hand.

KRIMINALKOMMISSARIAT, WAAGHOF, BASEL

Als Kaltbrunner von der Toilette zurückkam und erneut zum Fenster hinausschaute, brach ein lautes «Goppeloni!» aus ihm heraus. «Was ist los?», fragte Giorgio Tamine.

«Das musst du gesehen haben: Hier wimmelt es von Soldaten der Schweizer Armee!» Tatsächlich marschierten Hunderte von Armeeangehörigen vom Zoo Richtung Innenstadt. «Das kann ja heiter werden», kommentierte Kaltbrunner. «Endlich haben die Deppen etwas Gescheites zu tun.»

CLARAPLATZ, BASEL

Ab 13.30 Uhr strömten trotz Fasnachtsverbot Hunderte von Kostümierten in die Innerstadt. Es spielte niemand auf seinem Instrument, nur wenige sprachen miteinander im Flüsterton. Es war ein wunderbarer Sonnentag. Alle trugen einen schwarzen Schal, eine schwarze Mütze oder ein schwarzes Kostüm. Viele hatten Blumen dabei.

Die Polizei und die Armee beobachteten die Leute. Der Stadtpräsident, die Polizei– und die Armeeführung waren zum Schluss gekommen, den angekündigten Trauerzug zum Barfüsserplatz nicht zu verhindern. Über Facebook und Twitter und über Radio und Fernsehen hatte die Polizei allerdings gebeten, danach sofort wieder nach Hause zu gehen.

Um 13.45 Uhr formierte sich der Zug am Claraplatz beziehungsweise an der Clarastrasse. Zuvorderst stand die Guggenmusik Negro-Rhygass ein. Danach weitere grosse Guggenmusiken wie die Ohregribler, bei denen normalerweise Olivier Kaltbrunner mittrompetete, die Schränz-Clique, die Schotte-Clique und andere, dahinter die grossen Trommel- und Pfeifervereine wie die Vereinigten Kleinbasler, die Wettstai-Clique oder die Olymper.

Punkt 14 Uhr pfiff der Major der Negro. Es wurde noch stiller in der Stadt. Ein grossgewachsener Tambour in einem Clownkostüm mit einer Plastiksau auf dem Kopf rief: «Langer Wirbel, vorwärts, Marsch!» Trommelklänge und Paukenschläge hallten durch die Strassen und Gassen. Danach intonierten die Blasmusiker der diversen Guggenmusiken den Gospel-Song «Just a Closer Walk with Thee». Der riesige Zug setzte sich langsam in Bewegung. Schritt für Schritt. Es wurde eine Prozession. Als der Zug am Barfüsserplatz ankam, legten die Fasnächtler ihre Blumen auf die grosse Treppe. Niemand sprach ein Wort.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

Der Trauerakt in Basel gab für Peter Renner eine schöne, emotionale Reportage ab. Sein Reporter Alex Gaster würde einen ergreifenden Text verfassen, Fotograf Joël Thommen die passenden Bilder dazu liefern. Renner machte sich diesbezüglich keine Sorgen. Leider war noch vor dem Aufschalten der Bilder und Clips von Joël auf «Aktuell»-Online ein Video auf Youtube zu sehen. Gegen diese gigantische Plattform hat niemand eine Chance, sagte sich Renner und ärgerte sich nicht wirklich darüber.

Was ihn mehr beschäftigte, war der Gesundheitszustand von Sandra Bosone und die Reaktion von Henry Tussot. Renner hatte bis heute nicht gewusst, dass die beiden ein Verhältnis hatten. Allerdings hatten auch alle anderen Journalisten, die Renner gefragt hatte, nichts davon gewusst. Umso mehr erstaunte ihn Henrys Totalausfall. Der etwas dickliche Romand spielte normalerweise gerne den harten Hund und den Charmeur, was bei Frauen meist gut ankam. Allerdings nur für einen Abend. Dass Henry Tussot sich verlieben könnte – das konnte sich eigentlich auf der ganzen Redaktion niemand vorstellen. Henry war doch ein Lebemann, ein Gigolo, ein Dandy.

Was dem Nachrichtenchef aber am meisten zusetzte, waren die Botschaften aus dem Deep Web. Haberer hatte bereits den Titel kreiert: Terroristen wollen Schweiz ausradieren, Untertitel: «Aktuell»-Exklusiv: Weitere Anschläge geplant! Renner war zwar mit allen journalistischen Wassern gewaschen, doch das machte sogar ihm irgendwie Angst. Zumindest löste es ein ziemlich ungutes Gefühl in ihm aus. In einer Stunde würde die oberste Chefin, Verlegerin Emma Lemmovski, auftauchen und ein Machtwort sprechen. Auf sie musste selbst Chefredaktor Haberer hören. Zumindest musste er sie anhören. Renner könnte sich dann aus der Verantwortung ziehen. Schliesslich war er nur Nachrichtenchef und Stellvertreter des Chefredaktors.

Peter Renner liebte seinen Job. Er wusste allerdings auch, dass er keinen anderen mehr finden würde. Zu lange war er im Boulevard-Journalismus tätig. Zu lange bildete er ein Gespann mit Jonas Haberer. Zu lange war er letztlich der willige Helfer einer der umstrittensten Figuren im Schweizer Journalismus.

Renner hatte schon früh an diesem Tag seinen Reporter und Wirtschaftsfachmann Flo Arber aus Basel nach Bern zurückbeordert. Er musste ihm bei dieser schwierigen Recherche helfen. Ihm und der Internet-Spezialistin Kirsten Warren. Die beiden waren seit Stunden daran, zu telefonieren, zu googeln und zu schreiben. Renner war froh, dass er zwei seriöse und genau recherchierende Journalisten an seiner Seite wusste.

Um 16.34 Uhr flog die Glastür zu seinem Newsroom auf. Renner hatte für einmal Haberers Schritte nicht gehört. Oder versuchte Haberer tatsächlich, mit seinen Boots weniger laut aufzutreten? Denn hinter ihm betrat Emma Lemmovski das Büro. Die langen, blonden Haare trug sie offen. In ihren High-Heel-Stiefeln war sie gleich gross wie Haberer. Sie sah wie immer umwerfend aus. Fand Renner. Trotzdem versuchte er, cool zu bleiben.

KRIMINALKOMMISSARIAT, WAAGHOF, BASEL

«Die Stadt ist praktisch wieder menschenleer», rapportierte Giorgio Tamine. «Die Leute halten sich an die Empfehlung, auf die Fasnacht zu verzichten.»

«So, so», machte Olivier Kaltbrunner.

«Wir haben Anfragen von grossen Firmen wie Novartis, Roche, UBS und anderen, ob die Sicherheit in Basel noch …»

«Mich interessieren die Pharma- und Bankfuzzis im Moment überhaupt nicht», wetterte Kommissär Kaltbrunner. «Ja, wir haben alles im Griff!»

«Okay», erwiderte Tamine leise. «Ich werde das so weitergeben.»

Eine gute Minute später sagte Kaltbrunner: «Wir haben gar nichts im Griff. Niemand hat noch irgendetwas im Griff. Was hier passiert ist, übersteigt unsere Fähigkeiten. Wir werden Hilfe benötigen.»

«Hilfe?»

«Ja, Hilfe.»

«Wozu? Von wem?»

«Von internationalen Terrorexperten.»

«Terrorexperten? Nur weil sich eine Irre in die Luft … und dann eine dämliche Massenpanik entstand …»

«Giorgio!», unterbrach Kaltbrunner. «In wenigen Stunden wird es hier von amerikanischen, britischen und deutschen Arschlöchern nur so wimmeln.»

PRIVATKLINIK OB DEM WALD, MÄNNEDORF

«Wie geht es Ihnen?»

«Gut.»

«Gut?»

«Ja. Gut.» Schweigen.

«Wollen Sie dieses ‹gut› näher beschreiben?»

«Ja.» Schweigen.

«Herr Derungs?»

«Es fühlt sich an wie nach geilem, versautem Sex.»

«Oh.»

«Ja. Wie wenn ich die billigste Nutte erbarmungslos gevögelt hätte.» Schweigen.

«Und wie fühlt sich das an? Können Sie das beschreiben? In Worte fassen?»

«Nein. Ich Idiot habe es ja nie getan.»

«Was?»

«Ich habe meine Frau nie mit einer Hure betrogen, ich habe mich anders …» Kilian Derungs zögerte.

«Ja? Wie haben Sie sich anders …?»

«Na ja. Ich hatte mal ein Verhältnis mit einer jungen Politikerin. Der Klassiker. Die wollte sich hochschlafen. Okay. Sie hat ihren Posten in der Partei bekommen. Dann wurde sie ins Parlament gewählt. Kurz darauf hat sie mich fallen gelassen. Diese Schlampe. Ist nicht mehr wert als eine billige Hure, oder?»

«Was ist denn eine billige Hure?»

«Hören Sie doch auf mit diesem Gelaber. Eine Hure ist eine Hure. Sex gegen Geld. Oder Sex gegen Macht. Wo ist da der Unterschied?» Schweigen.

«Wollen Sie mehr erzählen?»

«Danach habe ich eine andere Parlamentarierin gefickt. Die sah zwar Scheisse aus, war aber eine Granate. Die konnte ich … meine Güte … die hat alles mit sich machen lassen, verstehen Sie?»

«Ich glaube, ich verstehe. Aber was hat das mit Ihrer aktuellen Befindlichkeit zu tun?»

«Mit meiner aktuellen Befindlichkeit?»

«Ja.»

«Es fühlt sich so an.» Schweigen.

«Als sie im Bundesrat sassen, als Sie Minister waren, einer der mächtigsten Männer der Schweiz, was haben Sie da Frauen gegenüber empfunden?»

«Ach, was soll’s? Da hatte ich alle möglichen Weiber. Die haben sich mir regelrecht an die Brust geworfen!»

Schweigen. Dr. Christiane Schwertfeger machte sich einige Notizen.

«Wollen Sie mir erzählen, was Sie in den letzten Tagen oder Wochen beschäftigt hat? Etwas, das sich so anfühlt, als wenn sie eine …» Dr. Schwertfeger zögerte.

«Wie wenn ich eine billige Hure gefickt hätte? Wollen Sie das sagen? Kennen Sie überhaupt diese ordinären Ausdrücke? Haben Sie sie schon je verwendet? Haben Sie nie das Bedürfnis, einfach gefickt zu werden?»

«Es geht nicht um mich.»

«Aha.» Schweigen. «Ich habe Macht ausgeübt», sagte Kilian Derungs nach einer Weile. «Und das fühlte sich so an, wie wenn ich …»

«Danke.»

«Sie haben wohl auch ein Problem. Ein sexuelles, was?»

«Noch einmal, Herr Derungs, es geht nicht um mich. Und ich möchte dies nicht noch einmal sagen. Sie sind zu mir gekommen. Sie können die Therapie jederzeit abbrechen. Es hindert Sie niemand daran.» Schweigen.

«Sie haben also Macht ausgeübt.»

«Ja.»

«Das fühlte sich gut an.»

«Ja. Auch wenn Sie es nicht glauben. Als Bundesrat hat man Macht. Das hat mir gefallen. Dann wollte die Partei, dass ich zurücktrete, Platz mache für eine Frau. Können Sie sich das vorstellen? Diese dumme Fotze wurde sogar gewählt. Man hat mir versprochen, dass ich eine wichtige Funktion in der Partei behalten und die Fotze nach meinem Gutdünken lenken könne. Ich habe den Dreck sogar geglaubt. Aber wissen Sie, wer in der Partei das Sagen hat? Können Sie sich das vorstellen?»

«Sagen Sie es mir?»

«Ja. Die, die Geld haben. Nicht so wie ich, zwei, drei Millionen Franken, nein, nein, nein. Milliarden, meine liebe Frau Doktor, wir reden hier von Milliarden!» Kilian Derungs war aufgeregt. Er wusste, dass er sich irgendwie beruhigen musste. «Haben Sie einen Cognac?»

«Nein.»

«Bin ich Alkoholiker?»

«Das wissen Sie selbst am besten.»

«Ich habe manchmal schon morgens einen Cognac oder einen Wodka getrunken. Wodka riecht man nicht. Wissen Sie, was ich meine?»

«Nein.»

«Sie haben keine … Vergessen Sie’s, es geht ja nicht um Sie.»

«Sie sind also zurückgetreten und in ein Loch gefallen?»

«Ich ging aus diesem verdammten Büro hinaus, aus diesem gottverdammten Bundeshaus in Bern. Mein Chauffeur hat mich nach Hause gefahren. Er war der letzte Mensch, der mir die gebührende Ehre zukommen liess. Er sagte: ‹Herr Bundesrat, es war mir eine Ehre, Sie in den vergangenen zwölfJahren herumzufahren. Ich danke Ihnen.› Ist das nicht wundervoll?»

«Ja, es ist sehr nett.»

«Nett? Es ist wundervoll. Es war der ergreifendste Moment meiner Regierungstätigkeit.» Kilian Derungs zog ein Taschentuch aus seinem Veston und tupfte sich die Nase. «Seither werde ich wie ein Stück Scheisse behandelt. Wie ein Stück Scheisse.» Schweigen.

«Auch von Ihrer Frau?»

«Was hat denn meine Frau damit zu tun?»

«Behandelt sie Sie auch wie ein Stück … Scheisse?»

«Meine Frau, tssss, die … die … ach, vergessen Sie’s.» Schweigen. Sehr, sehr langes Schweigen.

«Herr Derungs, ich glaube …»

«Ich heisse alt Bundesrat Derungs, Frau Doktor Schwertfeger!» Schweigen.

Kilian Derungs bemerkte, dass Dr. Schwertfeger immer wieder auf die Uhr neben ihr auf dem kleinen Tischchen schielte. Sie versuchte es diskret zu machen, aber Kilian Derungs bemerkte es trotzdem. «Wir sollten das nächste Mal weiterreden, nicht wahr?», sagte er höflich.

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