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2 Die Veränderung der Wirtschaft
2DIE VERÄNDERUNG DER WIRTSCHAFT
Die rasante Veränderung von Wirtschaft und Arbeitswelt basiert in erster Linie auf Technologisierung und Digitalisierung. Diesen Trend kann man zwar schon seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts beobachten, doch neu ist die Vernetzung der Produktionsprozesse, die auch zu neuen Formen in der Produktentwicklung führt sowie zu einer weitgehenden Selbststeuerung bei der Fertigung von Produkten. Diese Neuerungen wiederum erlauben eine auf individuelle Ansprüche ausgerichtete Gestaltung von Produkten.
2.1 Industrie 4.0 und Arbeit 4.0
2.1INDUSTRIE 4.0 UND ARBEIT 4.0
Eine intensive Debatte um einen entscheidenden Schritt bei der Veränderung von Produktion und Arbeit wird seit rund sieben Jahren in Deutschland unter dem Begriff Industrie 4.0 geführt. Sie wurde ausgelöst, als 2011 auf der Hannover Messe Vertreter von Wirtschaft und Wissenschaft Handlungsempfehlungen entwickelten und sie einer breiteren Öffentlichkeit vorstellten (vgl. Kagermann, Wahlster & Helbig 2013). Die Verfasser des Berichts erkannten nach der Mechanisierung, der Elektrifizierung und der Informatisierung der Industrie im «Internet der Dinge und Dienste» die vierte industrielle Revolution (ebd., S. 2):
(KAGERMANN, WAHLSTER & HELBIG 2013, S. 5)
Unternehmen werden zukünftig ihre Maschinen, Lagersysteme und Betriebsmittel als Cyber-Physical Systems (CPS) weltweit vernetzen. Diese umfassen in der Produktion intelligente Maschinen, Lagersysteme und Betriebsmittel, die eigenständig Informationen austauschen, Aktionen auslösen und sich gegenseitig selbstständig steuern. So lassen sich industrielle Prozesse in der Produktion, dem Engineering, der Materialverwendung sowie des Lieferketten- und Lebenszyklusmanagements grundlegend verbessern. […]
Das Potenzial von Industrie 4.0 ist immens: Die Smart Factory kann individuelle Kundenwünsche berücksichtigen und selbst Einzelstücke rentabel produzieren. In Industrie 4.0 sind Geschäfts- und Engineering-Prozesse dynamisch gestaltet, das heißt, die Produktion kann kurzfristig verändert werden und flexibel auf Störungen und Ausfälle, zum Beispiel von Zulieferern, reagieren. Die Produktion ist durchgängig transparent und ermöglicht optimale Entscheidungen. Durch Industrie 4.0 entstehen neue Formen von Wertschöpfung und neuartige Geschäftsmodelle.
Für die Autoren leistet Industrie 4.0 darüber hinaus auch einen wesentlichen Beitrag zur Ressourcen- und Energieeffizienz; zudem kann mit ihr dem demografischen Wandel begegnet werden. Routineaufgaben fallen mehr und mehr weg. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können sich auf kreative Tätigkeiten konzentrieren, und dank flexibler Arbeitsorganisation können sie Beruf und Privatleben miteinander kombinieren und damit die Work-Life-Balance verbessern (vgl. ebd.).
Für die erfolgreiche Transformation von der traditionellen Produktion zur Industrie 4.0 führt der Arbeitskreis Industrie 4.0 acht Handlungsempfehlungen auf (vgl. ebd., S. 6 f.):
•STANDARDISIERUNG: Für die firmenübergreifende Vernetzung braucht es gemeinsame, einheitliche Standards.
•BEHERRSCHUNG KOMPLEXER SYSTEME: Planungs- und Erklärungsmodelle sollen die komplexen Systeme beherrschbar machen.
•FLÄCHENDECKENDE BREITBANDINFRASTRUKTUR: Nur mit einem hochwertigen schnellen Kommunikationsnetz kann Industrie 4.0 realisiert werden.
•SICHERHEIT: Die Produktionssysteme müssen für Mensch und Umwelt sicher sein, und die Netze vor Angriffen geschützt werden.
•ARBEITSORGANISATION UND -GESTALTUNG: Die veränderten Arbeitsinhalte, -prozesse und -umgebungen erlauben partizipative Arbeitsgestaltung und ermöglichen somit stärkere Eigenverantwortung und Selbstentfaltung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
•AUS- UND WEITERBILDUNG: Die Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter muss flexibel sein, die Weiterbildung lebensbegleitend und nahe am Arbeitsort.
•RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN: Für die radikal veränderten Produktionsformen braucht es neue Gesetze in den Bereichen Datenschutz, Haftung und Handelsbeschränkung.
•RESSOURCENEFFIZIENZ: Ressourcenproduktivität und Energieeffizienz müssen gesteigert werden.
Die Veränderung der Wirtschaft in Richtung Industrie 4.0 führt zu einem weitreichenden Wandel der Arbeitsgesellschaft. Der Hauptfokus wird dabei auf dem Fachkräftemangel, der Polarisierung zwischen hoch- und geringqualifizierten Tätigkeiten, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der erhöhten Zeitsouveränität, dem Rückgang der Arbeitszeit, dem Anstieg befristeter Arbeitsverhältnisse und der Ausbreitung von Niedriglohnarbeit liegen.
Der Wandel des ökonomischen Feldes führt zu starken Veränderungen der Erwerbsarbeit. Die Bildungs- und Erziehungswissenschaftlerin Antje Pabst (2016, S. 11 f.) zeigt diesen für Deutschland in fünf Bereichen auf der Grundlage empirischer Erhebungen auf. Die Digitalisierung wird Berufe ersetzen. Bereits 2015 nutzten 83 Prozent aller Beschäftigten digitale Technologien, bei den Niedrigqualifizierten waren es 50 Prozent, bei den Hochqualifizierten 98 Prozent. Nach Schätzungen können bei den Berufen der Industrieproduktion über 70 Prozent der Tätigkeiten durch digitale Technologien ersetzt werden (vgl. Dengler & Matthes 2015).
Arbeitsbefragungen ergeben, dass die Arbeitsanforderungen stark zunehmen, vor allem der Leistungs- und Termindruck (besonders bei Störungen und Unterbrechungen) steigen enorm (vgl. DGB 2015, S. 5). Viele Beschäftigte fühlen sich gehetzt, und einfache Angestellte sowie Hilfskräfte sind von der zunehmenden Eigenverantwortung (z. B. bei Kundenkontakten) überfordert (vgl. Bosch & Weinkopf 2011). Die zeitliche Flexibilisierung der Arbeit nimmt vor allem wegen der Zunahme von Wochenend- und Schichtarbeit zu, und seit 1980 hat sich die Entwicklung der Löhne von jener der Produktivität entkoppelt. Die Beschäftigungsquote nimmt zwar kontinuierlich zu, allerdings ist die Zunahme verbunden mit einer Steigerung von Teilzeitarbeit. Zudem beziehen nicht wenige Beschäftige sozialstaatliche Leistungen. So erhielt laut Bundesamt für Gesundheit (2016) in der Schweiz im Jahr 2014 rund ein Viertel der Bevölkerung eine Prämienverbilligung für die Krankenkasse.
2.2 Wandel von Berufen
2.2WANDEL VON BERUFEN
Die Digitalisierung wirkt sich umfassend auf verschiedenste Berufsbereiche aus. Die Nachfrage nach Berufen in den Bereichen Informatik, Unternehmensführung, Unternehmensorganisation sowie Werbung und Marketing steigt, und im Rahmen von Industrie 4.0 wird auch der Bedarf an Mechatronikerinnen, Maschinen- und Fahrzeugtechnikern steigen, wohingegen das Angebot an Berufen in den übrigen Fertigungstechniken, in der Textil- und Bekleidungsbranche und im Ernährungsbereich abnimmt.
In der Prognose Arbeitsmarkt 2030 berechnen Vogler-Ludwig, Düll und Kriechel (2016, S. 27) die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Berufsstruktur in Deutschland in zwei Modellen (Basisszenario und beschleunigte Digitalisierung). In Tabelle 1 sind die Veränderungen dargestellt, die die Entwicklung beschleunigter Digitalisierung zwischen den Jahren 2014 und 2030 begleiten.
TABELLE 1: Auswirkungen der beschleunigten Digitalisierung auf die Berufsstruktur Erwerbstätige ( Vogler-Ludwig, Düll & Kriechel 2016, S. 27 ) | |
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BERUFSBEREICH | VERÄNDERUNG 2014–2030 IN % |
Land-, Forst- und Tierwirtschaft und Gartenbau | -15,1 |
Rohstoffgewinnung, Produktion und Fertigung | -6,5 |
Bau, Architektur, Vermessung und Gebäudetechnik | -1,3 |
Naturwissenschaft, Geografie und Informatik | +18,6 |
Verkehr, Logistik, Schutz und Sicherheit | -2,6 |
Kaufmännische Dienstleistungen, Warenhandel, Vertrieb, Hotel und Tourismus | -3,8 |
Unternehmensorganisation, Buchhaltung, Rechtund Verwaltung | +1,4 |
Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung | +8,9 |
Sprach-, Literatur-, Geistes-, Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften, Medien, Kunst; Kultur und Gestaltung | +16,3 |
Militär | -21,4 |
Lesebeispiel: Im Militär werden im Jahr 2030 rund 21 Prozent weniger Erwerbstätige arbeiten als im Jahr 2014.
Die Autorin und die Autoren der Prognose Arbeitsmarkt 2030 gehen von einer leicht erhöhten Erwerbstätigenzahl im Jahr 2030 aus (+0,6 %, ebd.). Allerdings kann ihrer Meinung nach die Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Menschen den demografischen Wandel (besonders die Alterung der Erwerbspersonen) nicht auffangen. Diesem Trend kann nur mit einer steigenden Geburtenziffer und Zuwanderung begegnet werden. Doch auch dann bleibt der Fachkräftemangel akut. Als wichtige Maßnahme zur Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erachten die Verfasserin und die Verfasser den starken Ausbau der Erwachsenenbildung zu einer tragenden Säule des beruflichen Bildungssystems (ebd., S.32).
Ein umfassender Wandel in der Berufsstruktur vollzieht sich auch durch die Automatisierung beziehungsweise Robotisierung. Auf der Basis des Deloitte-Berichts der University of Oxford, der prognostizierte, wie viele Jobs in den USA einem hohen Automatisierungsrisiko ausgesetzt sind, analysieren Dennis Brandes und Luc Zobrist (2015) die Folgen der Automatisierung für den Schweizer Arbeitsmarkt. Die wichtigsten Erkenntnisse sind:
(BRANDES & ZOBRIST 2015, S. 1)
− In der Schweiz sind die Auswirkungen der Automatisierung sichtbar: Tätigkeiten, die kaum durch Automatisierung ersetzt werden können, sind in den letzten 25 Jahren stark gewachsen, während Tätigkeiten mit hoher Automatisierungswahrscheinlichkeit kaum gewachsen sind oder sogar abgenommen haben.
− In den nächsten Jahren und Jahrzehnten könnten fast 50 Prozent der Beschäftigten durch Automatisierung ersetzt werden.
− In den letzten 25 Jahren wurden jedoch insgesamt mehr Stellen geschaffen als verdrängt. Automatisierung dürfte deshalb auch in Zukunft mehr Chancen als Risiken bieten.
− Zukunftschancen gibt es über alle Qualifikationsstufen hinweg. Dies gilt insbesondere für Stellen, bei denen es auf Kreativität, soziale Interaktion und hochwertigen Kundenservice ankommt.
− Für Unternehmen bietet die fortschreitende Automatisierung eine Chance, wenn sie ihre Geschäftsprozesse frühzeitig anpassen.
− Preise und Margen lassen sich durch Betonung des Kundenerlebnisses verbessern, zusätzlich einfachere und schlankere Strukturen durch Fokussierung auf das Design implementieren.
− Durch Automatisierung sinken die Grenzkosten der Produktion, und es entsteht mehr Spielraum bei der Preisgestaltung.
Eine weitere wichtige Erkenntnis der Analyse lautet: Es gibt eine auffällige Diskrepanz zwischen der Automatisierungswahrscheinlichkeit und dem Ausbildungsniveau. Das heißt: Je geringer das jeweilige berufsbezogene Ausbildungsniveau ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Beschäftigtenzahl in diesem Beruf abnimmt. Eine sehr hohe Automatisierungswahrscheinlichkeit haben unter anderem folgende Berufe mit geringem Ausbildungsniveau (vgl. ebd., S. 5): Sekretariatskräfte, Bank- und andere Schalterbedienstete (je 97 %) Telefonisten (96 %), Kassiererinnen und Kartenverkäufer (90 %), Postverteiler und -sortiererinnen (86 %), Drucker (83 %) und Fachkräfte in der Landwirtschaft (73 %). Gefährdet sind aber auch Berufe mit hohem Ausbildungsniveau: Buchhalterinnen, Steuerberater und verwandte Berufe (95 %), Kartografinnen und Vermessungsingenieure (63 %) sowie Finanz- und Anlageberater (40 %).
2.3 Postkapitalismus
2.3POSTKAPITALISMUS
Es fällt auf, dass Studien, wie die bisher zitierten, die im Auftrag von wirtschaftsnahen und staatlichen Organen (Ministerien) entstanden sind, aufgrund ihrer affirmativen Haltung zum kapitalistischen Wirtschaftssystem die Digitalisierung und Automatisierung der Wirtschaft positiv sehen. Der Strukturwandel schaffe in genügendem Maße neue Arbeitsplätze und Absatzmärkte, und auch ein weiteres Auseinandergehen der Schere zwischen hohen und geringen Einkommen sei nicht zu befürchten.
Im Gegensatz dazu postulieren Theoretiker des Postkapitalismus das Ende des kapitalistischen Wirtschaftssystems, ohne dass sie in der Regel sagen können, wie die zukünftige Ökonomie funktionieren wird. Für den englischen Journalisten und Autor Paul Mason (2016, S. 194–196) vollzieht sich seit den 1990er-Jahren eine Revolution, die von der Art, wie Informationen verarbeitet, gespeichert und vermittelt werden, angetrieben wird. Sie bildet die Grundlage für eine «Netzwerkökonomie», welche die kapitalistischen Eigentumsbeziehungen untergräbt. Die geschieht wie folgt: Der klassisch-kapitalistische Preisbildungsmechanismus kommt bei digitalen Gütern an seine Grenzen, da die Kosten für die Reproduktion der Information gegen null tendieren. In der Netzwerkökonomie werden auch physische Güter mit einem hohen Informationsgehalt ausgestattet, was dazu führt, dass auch deren Preis gegen null tendiert. Ihr Wert hängt daher weniger von den Produktionskosten ab als von der gesellschaftlich produzierten Idee, gleichsam der Marke. Die Netzwerkökonomie befördert die «Finanzialisierung» (ebd., S. 43 f.), das heißt, Unternehmen werden selbst auf den Finanzmärkten aktiv, Banken erhöhen das Risiko beim Investmentbanking, die Konsumentinnen und Konsumenten werden über Kreditkarten, Hypotheken, Leasing, Studiendarlehen direkt in die Finanzmärkte eingebunden, womit ein Teil der wirtschaftlichen Gewinne durch Geldverleih für die Konsumentinnen und Konsumenten erzielt wird. Es bestehen zwei Profitströme von der arbeitenden Bevölkerung zu denjenigen, die Kapital besitzen: Der traditionelle Strom besteht aus Arbeitskraft und der neue aus Zinszahlungen. Die Produktivität der Güter, Prozesse und Netzwerke wird revolutioniert, da die digitalen Verbindungen zwischen den Maschinen zahlreicher werden als jene zwischen den Menschen. Die Unternehmen reagieren darauf mit drei Strategien: Mit Informationsmonopolen verteidigen sie hartnäckig ihre Eigentumsrechte, sie versuchen im Strom der sinkenden Preise und der erweiterten Angebote zu überleben, und sie bemühen sich um den Erwerb von Konsumentendaten, um diese für sich zu nutzen. Daneben wird der Anteil der Nichtmarkt-Produktion stetig größer, es entstehen Netzwerke der Allmendeproduktion von Gütern, die kostenlos sind oder keinen kommerziellen Wert haben und die zunehmend die kommerziellen Güter verdrängen (Beispiele: Wikipedia verdrängt Lexika, LaTeX verdrängt kommerzielle Textverarbeitungsprogramme wie Word). Die Grenzen von Produzentinnen und Konsumenten verwischen sich zusehends (Beispiel: das Open-Source-Statistikprogramm R). Gegen diese Tendenzen wehrt sich der Kapitalismus, indem er unter anderem Informationsmonopole errichtet und die Schwächung der Lohnbeziehung zulässt. Die Netzwerkökonomie verändert laut Mason auch den Menschen:
(MASON 2016, S. 196)
Der rasante technologische Wandel verändert das Wesen der Arbeit, verwischt die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit und zwingt uns, in jedem Lebensbereich an der Wertschöpfung teilzunehmen. Dabei eignen wir uns mehrere ökonomische Persönlichkeiten an und werden zu neuen Menschen. Das vernetzte Individuum mit seinem vielgestaltigen Selbst ist Träger der postkapitalistischen Gesellschaft, die jetzt entstehen könnte.
Die technologische Ausrichtung dieser Revolution widerspricht ihrer gesellschaftlichen Ausrichtung: Technologisch sind wir auf dem Weg zu kostenlosen Gütern, nichtmessbarer Arbeit, exponentiellen Produktivitätszuwächsen und der umfassenden Automatisierung physikalischer Prozesse. Gesellschaftlich sind wir Gefangene einer Welt, die von Monopolen, Ineffizienz, den Ruinen eines vom Finanzsektor beherrschten freien Markts und der Ausbreitung von «Bullshit-Jobs» geprägt ist.
Immerhin gesteht auch Mason ein, dass die postkapitalistische Netzwerkgesellschaft nicht notwendigerweise aus dem Spätkapitalismus entsteht, damit entfernt er sich von einem teleologischen Geschichtsverständnis, wie es Marx und seinen nachfolgenden Theoretikern der klassenlosen Gesellschaft eigen war. Möglich ist auch die Entstehung eines «kognitiven Kapitalismus, gestützt auf eine neue Mischung von Firmen, Märkten und vernetzter Kooperation» (ebd.).
Einen ganz anderen Weg aus der Krise des Kapitalismus zeichnen der Ökonom Oliver Fiechter und der Journalist Philipp Löpfe (2016): Sie glauben, dass die Digitalisierung uns dank der neuen technischen Möglichkeiten, dazu befähigt, erneut eine Tauschgesellschaft, aber auf viel höherem Niveau als jene der Stammesgesellschaft einzuführen. Warum dabei Stammesgesellschaften als ideale Gesellschaftsform angepriesen werden, ist nicht nachvollziehbar. Auf die Probleme eines solchen Tribalismus gehen wir in Abschnitt 4.6 ein.
2.4 Ökonomisierung von Gesellschaft und Kultur
2.4ÖKONOMISIERUNG VON GESELLSCHAFT UND KULTUR
Interessanterweise finden wir sowohl bei dem Konzept Arbeit 4.0 als auch bei Masons Postkapitalismus-Theorie eine Verwischung der Grenzen von Arbeit und Freizeit und mithin eine umfassende Ökonomisierung des Menschen, die begrüßt wird.
Die fortschreitende Ökonomisierung von Gesellschaft und Kultur hat schon Jürgen Habermas in den frühen 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts kritisiert. Die Funktionsrationalität des Marktsystems dringt zunehmend in nichtwirtschaftliche Lebensbereiche ein, sie kolonisiert und pathologisiert diese und höhlt dadurch deren Eigensinn aus (vgl. Habermas 1981, S. 277 f. u. a. O.). Zu Recht weist der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich (1995, S. 77) darauf hin, dass bereits lange vor Habermas große Denker wie Max Weber und Karl Polanyi die «fortschreitende(n) Subordination unter anonyme Sachzwänge der eigensinnigen ökonomischen Systemdynamik» (ebd.) der demokratischen Politik beklagt haben. Mittlerweile dominiert die marktwirtschaftliche beziehungsweise betriebswirtschaftliche Rationalität die politischen Debatten, wobei diese nicht nur hohe normative Kraft auf gesellschaftliche Problemlösungen ausübt, sondern auch als oberste Leitlinie für die Organisation politischer Prozesse innerhalb demokratischer Strukturen wirkt. Nach dieser Rationalität übt beispielsweise das Parlament die strategische Führung aus, analog zum Verwaltungsrat, während der Regierung die operative Führung obliegt. Der Regierungschef wird zum CEO, die Finanzministerin zum CFO usw.
Auch wenn 2016 mit dem Brexit, mit der Wahl Donald Trumps und mit der Rückweisung des TTIP-Abkommens die Globalisierung möglicherweise einen leichten Dämpfer erhalten hat, dominieren die globalen Märkte und das Wettbewerbsprinzip die internationalen Beziehungen weiterhin, und die nationale Politik verliert gegenüber der Wirtschaft zusehends an Bedeutung. Nichts macht diesen Trend deutlicher als der Standortwettbewerb von Staaten, aber auch Gliedstaaten (z. B. Bundesländer und Kantone) und sogar Kommunen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Steuerwettbewerb in der Schweiz, der mittlerweile die Finanz-, Fiskal-, aber auch die Sozial- und Bildungspolitik dominiert. Die Kantone und Gemeinden stehen in harter Konkurrenz zueinander und zu internationalen Mitstreitern (Staaten, Gliedstaaten und Kommunen), und die langfristige Strategie, mittels Steuersenkungen und der Aufhebung von Erbschaftssteuern Unternehmen und vermögende Ausländerinnen und Ausländer anzulocken, rechtfertigt drastische Abbaumaßnahmen wie die Schließung von Schulen für eine Woche, wie vor einigen Jahren in den Kantonen St. Gallen und Luzern.
Die Ökonomisierung dominiert nicht nur das öffentliche Leben zusehends, sie drängt auch mit Macht in unser alltägliches und intimes Leben. Die Soziologin Eva Illouz (2007, 2011) zeigt das eindrücklich am Beispiel der Liebe und der Partnerwahl:
(ILLOUZ 2011, S. 112 F.)
Die Partnerwahl findet nunmehr in einem hochgradig wettbewerbsorientierten Markt statt, in dem romantische und sexuelle Erfolge eine Folge früherer Formen der sozialen Schichtung sind und ihrerseits von neuem stratifizierende Effekte zeitigen. […] Eine der wichtigsten Transformationen der sexuellen Beziehungen in der Moderne besteht in der engen Verflechtung des Begehrens mit der Ökonomie und der Frage des Werts, einschließlich des Selbstwerts einer Person.
Die sexuelle Arena ist konkurrenzorientiert geworden, konstatiert Illouz (ebd., S. 202). Frauen und Männer erlangten Status und erotisches Kapital auf unterschiedlichen Wegen, und besonders für die Männer sei dieser Konkurrenzkampf verbunden mit Bindungsängsten. Die Ökonomisierung der Lebenswelt dringe in die Kultur und in unsere Seelen (vgl. ebd.).