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3 Digitalisierung
3Digitalisierung
Die große Bedeutung der zunehmenden Digitalisierung unseres Lebens zeigte sich schon im letzten Kapitel, sie spielt für den Wandel der Wirtschaft die entscheidende Rolle. In diesem Kapitel wird nicht auf technische Entwicklungen wie selbstfahrende Autos, vernetzte intelligente Häuser und Wohnungen und bildverarbeitende Steuerungstechniken in der Robotik eingegangen, vielmehr soll zunächst das Phänomen der Netzwerkgesellschaft beleuchtet werden, um anschließend auf die Auswirkungen auf Bildung und Politik einzugehen.
3.1 Netzwerkgesellschaft
3.1NETZWERKGESELLSCHAFT
Netzwerke bedürfen fließender Informationen, und die Digitalisierung schafft dafür die Grundlagen. In einer umfassend digitalisierten Welt sind Informationen gleichzeitig überall abruf- und nutzbar, und das Medium dafür ist das Internet. Im Informationszeitalter herrscht die Organisationsform der digitalen Netzwerke vor.
(CASTELLS 2001, S. 527)
Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaft, und die Verbreitung der Vernetzungslogik verändert die Funktionsweise und die Ergebnisse von Prozessen der Produktion, Erfahrung, Macht und Kultur wesentlich. Zwar hat es Netzwerke als Form sozialer Organisation auch zu anderen Zeiten und in anderen Räumen gegeben, aber das neue informationstechnologische Paradigma schafft die materielle Basis dafür, dass diese Form auf die gesamte gesellschaftliche Struktur ausgreift und sie durchdringt. Außerdem möchte ich behaupten, dass diese Vernetzungslogik zu einer sozialen Determination auf höherer Ebene führt, als jener der spezifischen gesellschaftlichen Interessen, die in den Netzwerken zum Ausdruck kommen: die Macht der Ströme gewinnt Vorrang gegenüber den Strömen der Macht. Anwesenheit oder Abwesenheit im Netzwerk und die Dynamik eines jeden Netzwerks gegenüber anderen sind entscheidende Quellen von Herrschaft und Wandel in unserer Gesellschaft; einer Gesellschaft, die wir daher zutreffend Netzwerkgesellschaft nennen können, [sic] und die geprägt ist durch die Dominanz der Bedeutung der sozialen Morphologie gegenüber dem sozialen Handeln.
Der Soziologe Manuel Castells (ebd., S. 528 f.) bestimmt Netzwerke als Verbund mehrerer untereinander verbundener Knoten. Was diese Knoten konkret sind, ist durch die spezifische Form der Netzwerke bestimmt, zum Beispiel Aktienmärkte im Netzwerk der Finanzströme, Regierungschefinnen, Ministerräte und Kommissare im Netzwerk der Europäischen Union, Kokafelder, Schmuggelbanden, Geldwäscheorganisationen und Straßenhandelsgangs im Netzwerk des Drogenhandels. Die Digitalisierung ermöglicht es, dass die Informationen zwischen den Knoten praktisch ohne Zeitverzögerung fließen können, die Distanz zwischen den Knoten in einem Netzwerk tendiert so gegen null. Unsere Gesellschaft wird in ihren Prozessen und Funktionen mittlerweile bestimmt durch den Einschluss in, den Ausschluss aus Netzwerken und die Beziehungen zwischen verschiedenen Netzwerken. Netzwerke sind offene und dynamische Systeme, die Knoten mit gleichem Kommunikationscode beliebig integrieren, aber auch über neue Codes andere Knoten oder gar Netzwerke aufnehmen können. Für die kapitalistische Wirtschaft sind Netzwerke das wichtigste Instrument, das wurde im letzten Kapitel mit dem Konzept Industrie 4.0 deutlich gemacht.
Die Netzwerkgesellschaft bedingt auch tiefgreifende soziale Transformationsprozesse (vgl. ebd., S. 534–535):
•Die kulturellen Ausdrucksformen werden über digitale Kommunikationsnetzwerke vermittelt (z. B. über Blogs, Facebook, Twitter usw.).
•Politik findet zunehmend in vernetzten digitalen Medien statt. Das befördert die Personalisierung der Politik, und das individuelle Image wird zum Mittel zur Macht. Trumps Twitter-Politik ist ein gutes Beispiel dafür.
•Durch den Zwang, Politik in der Sprache der digitalen Medien zu betreiben, verändern sich politische Strukturen sowie Prozesse, und nicht zuletzt wird die Macht der Politik durch die Macht der Netzwerke verdrängt. Ein Beispiel dafür liefert der hilflose Kampf der Politik gegen Fake-News in sozialen Medien.
•Auch die menschliche Erfahrung wird quantitativ verändert, und zwar im Verhältnis von Natur und Kultur. Jahrtausendelang bestimmte in der Geschichte die Natur über die Kultur, im menschlichen Handeln bezog sich Kultur auf Natur. Mit der Moderne und der industriellen Revolution wandelte sich dieses Verhältnis zwar schon stark, aber erst in der Netzwerkgesellschaft wird die Natur derart verdrängt, dass Kultur sich vornehmlich auf Kultur bezieht.
Informationen bilden das Blut der heutigen gesellschaftlichen Organisation, und die Informationen strömen in den Netzwerken, den Adern der modernen Gesellschaft.
3.2 Veränderte Produktionsverhältnisse
3.2VERÄNDERTE PRODUKTIONSVERHÄLTNISSE
In der digitalen Gesellschaft verändern sich die Produktionsverhältnisse. Menschen, die ihre Arbeitskraft auf dem Markt anbieten müssen, sind einem ständigen Wandel der Anforderungen im Produktionsprozess unterworfen, Sie müssen einerseits selbst feststellen, welche Fähigkeiten für die Bearbeitung gewisser Aufgaben notwendig sind; andererseits müssen sie Wege und Ressourcen finden, um sich diese Fähigkeiten anzueignen. «Aufgerieben zwischen Null und Eins» (Müller 2016) müssen wir uns immer wieder neu programmieren, damit wir auf dem Arbeitsmarkt bestehen können. Obwohl immer auf Arbeit angewiesen, werden die Menschen zu Ich-Unternehmern (Masschelein & Simons 2005, S. 19–22). Flexibilität wird zum entscheidenden Kriterium. Was das für den einzelnen Menschen tatsächlich bedeutet, hat der amerikanische Soziologe Richard Sennet (1998) beschrieben: Die ständige Anpassung an den flexiblen Kapitalismus stürzt den Menschen in extreme Turbulenzen und bedroht seine subjekthaft fundierte Identität und Individualität. Der Deformations- und Destruktionsdruck auf den Menschen führt zu schwachen Bindungen, zu Bedeutungsverlust von gegenseitiger Verpflichtung, zur Zerstörung des Kreativen, zu Negation der Erfahrung und zu einer ironischen Sicht des eigenen Ichs, das sich selbst nicht mehr ernst zu nehmen vermag.
Für den Menschen als Ich-Unternehmer spielt sein Wissen die entscheidende Rolle, es ist sein Betriebskapital, es ist sein Mittel zum Zweck eines erfolgreichen Unternehmens. Damit erhält auch das Wissen selbst eine neue Qualität: Es ist praktisch in unendlich viele Portionen aufteilbar, diese kann man sich aneignen, und sie können abgestoßen werden, je nach Geschäftstätigkeit und Geschäftsgang. Aus dieser Optik erscheinen auch die in der pädagogischen Diskussion oft verwendeten Schlagwörter vom lebenslangen Lernen und von der geringen Halbwertszeit des Wissens in einem neuen Licht: Wissen ist ein kommodifiziertes Produktionsmittel, das für eine beschränkte Zeit im Produktionsprozess eingesetzt werden kann. Wenn es verbraucht oder nicht mehr zeitgemäß ist, wird es durch ein neues und besseres Mittel ersetzt. Wissen ist mithin ein unmittelbar nutzbares und zeitlich beschränktes Set von Daten und Anwendungsprogrammen. Der Mensch wird zum Träger und Verarbeiter dieser Daten und Anwendungsprogramme, erst durch ihn wird Wissen ökonomisch nutzbar – der Mensch ist die Hardware, das Wissen die Software. Die Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen usw. bilden gleichsam das für alle Menschen notwendige Betriebssystem. Darauf können dann die Individuen je nach ökonomischen Notwendigkeiten mit verschiedenen Programmen (prozedurales Wissen) und mit Daten (deklaratives Wissen) ausgestattet werden, damit sie ihre Aufgaben möglichst effizient erfüllen.
Auch das Kapital wird in der digitalen Netzwerkgesellschaft transformiert. Die globalen Finanznetzwerke lösen die Großunternehmen ab, sie werden «das Nervenzentrum des informationellen Kapitalismus», die Finanzmärkte sowie «ihre Managementnetzwerke [sind] tatsächlich der kollektive Kapitalist, die Mutter aller Akkumulation» (Castells 2003; S. 394). Die Bewegungen der globalen Finanzmärkte entscheiden über den Wert von Aktien, der zunehmend von der Performanz und der Potenz des jeweiligen Unternehmens abgekoppelt ist. Diese Bewegungen folgen aber nicht der Marktrationalität, vielmehr wird der Markt «durch eine Kombination computergestützter strategischer Manöver, Massenpsychologie aus multikulturellen Quellen und unerwarteten Tendenzen verzerrt, manipuliert und transformiert» (ebd.).
Auch die sozialen Verhältnisse sind von den veränderten Produktionsverhältnissen betroffen. Die soziale Ungleichheit und die Polarisierung nehmen zu. Weltweit steigt die Zahl der Milliardäre, während gleichzeitig die Zahl der Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, immer größer wird. Hauptgründe dafür sind erstens die Aufsplittung der Arbeitskräfte in einerseits selbstunternehmerische, hochproduktive und andererseits in ersetzbare Arbeitskräfte. Zweitens führt die Individualisierung der Arbeit zur Schwächung kollektiver Organisation (z. B. der Gewerkschaften), und drittens verschwindet allmählich der Wohlfahrtsstaat angesichts der deutlichen Absenkung der Steuerbelastung von hohen Einkommen, Kapitalbesitzern und Unternehmen. Eine weitere soziale Folge ist die Exklusion eines Teils der Bevölkerung – heute wird häufig euphemistisch von Prekariat gesprochen –, deren Mitglieder keinen ökonomischen Wert als Arbeitskräfte und Konsumentinnen beziehungsweise Konsumenten haben und auch als Menschen ignoriert werden. Zudem geht zunehmend die Erfahrung des Arbeitslebens als existenzielle Sinnstiftung für das Individuum verloren (vgl. dazu auch Gardner, Csíkszentmihályi & Damon 2005, Sennett 2008 und Crawford 2010).
Die Digitalisierung und der soziale Austausch über Netzwerke bewirkt auch eine Individualisierung von Informationen. Im Netz aktive Menschen suchen zunehmend Informationen in immer denselben Netzwerken, und sie tauschen sich auch immer in diesen aus. Gleichzeitig erhalten sie in ihren Netzwerken personalisierte Informationen (als Folge von Big Data), die ihrem Profil entsprechen. Vernetzt mit der ganzen Welt, in der keine räumlichen Grenzen mehr bestehen, pflegen diese Menschen digitale Beziehungen in einer hermetischen Blase: Sie hören, sehen, lesen nur das, was sie hören, sehen, lesen wollen, und sie erhalten auf ihre Beiträge hauptsächlich positive Rückmeldungen in stark reduzierter Form von Likes oder Emojis. Das Sammeln von Likes hat sich in einigen Kreisen geradezu zu einem Volkssport entwickelt. Die Globalisierung und die weltweite Vernetzung bewirken paradoxerweise bei vielen Menschen eine drastische Limitierung des kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Gesichtsfelds. Wirklichkeit wird selbstreferenziell verarbeitet.
Das soziale Kapital der Digitalbeziehungen misst sich an den Likes und besonders an den Followers, wofür es bereits weltweite und bereichsspezifische Ranglisten gibt. Das «Ranking der Fanseiten bei Facebook mit den meisten Fans weltweit im November 2016 (in Millionen)» (Statista 2017) weist zum Beispiel den Fußballer Christiano Ronaldo als den Menschen mit den meisten Facebook-Fans (rund 117 Millionen) aus.
3.3 Big Data
3.3BIG DATA
Big Data ist ein Sammelbegriff für die Verarbeitungstechnologie unserer digitalen Spuren die wir im Internet hinterlassen: jede Suchmaschinen-Anfrage, jede Kreditkartenzahlung, jede Ortsveränderung unseres Handys, jeder Eintrag, jeder Like in sozialen Netzwerken und Blogs usw. wird gespeichert – und verwendet. Ein bezeichnendes Beispiel ist der Online-Wahlkampf von Donald Trump. In einem aufsehenerregenden Bericht zeigen die beiden Journalisten Grassegger & Krogerus (2016), wie mithilfe der Psychometrie die Persönlichkeit von Facebook-Usern ermittelt und diese Erkenntnisse für individualisierte politische Propaganda verwendet wurden. Zwei Studenten an der Cambridge University in England stellten im Jahr 2008 eine App auf Facebook, über die man als User einige Fragen zur eigenen Person beantworten konnte. Diese Fragen stammten aus dem berühmten Ocean-Fragebogen, mit dem seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts die fünf Persönlichkeitsmerkmale Offenheit, Extraversion, Gewissenhaftigkeit, soziale Verträglichkeit und Neurotizismus – die sogenannten Big Five – erhoben werden. Diese Merkmale erlauben es sehr gut, einen Menschen in Bezug auf seine Ängste, Bedürfnisse, aber auch in Bezug auf sein Verhalten einzuschätzen. Die User erhielten – quasi als Belohnung für das Beantworten der Frage – ein eigenes Ocean-Persönlichkeitsprofil. Entgegen der Erwartung der beiden Studenten nutzten Millionen von Usern die App, und so gelangten sie überraschend in den Besitz des größten je erhobenen psychometrischen Datensatzes. In der Folge glichen die beiden Forscher die Befragungsergebnisse der einzelnen User mit den anderen Daten ab, die diese auf Facebook hinterlassen hatten (Likes, Inhalte der Posts, Shares, Geschlecht, Alter, Wohnort usw.). Bei der Auswertung dieser komplexen Daten konnten Zusammenhänge hergestellt und überraschend valide Schlüsse gezogen werden. Wer zum Beispiel als Mann die Kosmetikmarke MAC likt, ist, wenn man den Ergebnissen der beiden Forscher Glauben schenkt, mit hoher Wahrscheinlichkeit homosexuell. Nachdem die Methode noch verfeinert worden war, konnte die Forschergruppe um einen der beiden ehemaligen Studenten im Jahr 2012 anhand durchschnittlich 68 Facebook-Likes eines Users seine Hautfarbe (Sicherheit 98 %), seine sexuelle Orientierung (95 %) und seine Parteipräferenz (Demokraten oder Republikaner zu 85 %) vorhersagen. Aber auch Intelligenz, Religionszugehörigkeit, Zigaretten-, Alkohol- und Drogenkonsum lassen sich mit dieser Methode zu einer hohen Wahrscheinlichkeit ermitteln. Und die Forscher gehen noch weiter:
(GRASSEGGER & KROGERUS 2016, S. 12)
Bald kann das Modell anhand von zehn Facebook-Likes eine Person besser einschätzen als ein durchschnittlicher Arbeitskollege. 70 Likes reichen, um die Menschenkenntnisse eines Freundes zu überbieten, 150 um die der Eltern, mit 300 Likes kann die Maschine das Verhalten einer Person eindeutiger vorhersagen als deren Partner. Und mit noch mehr Likes lässt sich sogar übertreffen, was Menschen von sich selbst zu wissen glauben.
3.4 Microtargeting und Bullshit
3.4MICROTARGETING UND BULLSHIT
Mittlerweile werden nicht mehr nur Facebook und andere Sozialnetzwerk-Dienste zum Sammeln von Daten genutzt, als wahre Fundgrube erweist sich vor allem das Handy. Das Profiling von Menschen über Big Data kann aber auch in die umgekehrte Richtung genutzt werden: Es können Menschen mit besonderen Eigenschaften gesucht und beworben werden. Dies geschah offensichtlich im Jahr 2016 im Abstimmungskampf über den Brexit (ausgehend von den Befürwortern) und im US-Wahlkampf um die Präsidentschaft (von der Donald-Trump-Kampagne). Mithilfe von sogenanntem Microtargeting sprach man potenzielle Wählerinnen und Wähler an. Dabei waren die unzähligen kurzen (Twitter-)Botschaften von Donald Trump, die oft widersprüchlich waren, von unschätzbarem Wert. Nach der dritten Fernsehdebatte versandte das Trump-Kampagneteam 170 000 Versionen seiner Argumente vor allem an Facebook-User. Und um Hillary Clinton zu diskreditieren, wurden beispielsweise Afroamerikanerinnen und -amerikanern, die man aufgrund von Facebook-Likes als solche identifizierte, Videos zugepostet, in denen die demokratische Kandidatin schwarze Männer Raubtiere nannte.
Big Data und Politik treffen sich aber auch in einem weiteren zunehmenden Phänomen, nämlich jenem des Postfaktischen. Wir neigen dazu, zum Beispiel unseren Persönlichkeitsmerkmalen entsprechend gewissen Informationen eher zu glauben als anderen. Ein hochneurotischer, weißer Mann aus der Unterschicht wird mit hoher Wahrscheinlichkeit, die (falsche) Information, dass Bundesrätin Simonetta Sommaruga sich für die Lockerung der Aufnahmebedingungen für Asylsuchende einsetzt, unhinterfragt glauben, und wenn er im Netz aktiv ist, wird er diese empört und mit entsprechenden Kommentaren versehen weiterverbreiten. Im US-Wahlkampf waren die Nachrichten, der Papst empfehle die Wahl Trumps, die am meisten verbreiteten Fake News. Für konservative katholische US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner werden sie für den Wahlentscheid von Bedeutung gewesen sein, auch wenn zum Beispiel Trumps Sexualmoral in starkem Kontrast zur katholischen Kirche steht.
Die Netzwerkkultur der digitalen Welt verstärkt nicht nur die Verbreitung von Fake News zum Zweck politischer Manipulation. Mit seiner Selbstreferenzialität, wie sie oben beschrieben wurde, entfernt sich das Netz-Subjekt zusehends von der Wirklichkeit, die sich immer weiter auflöst, und die Leidenschaft für die Wahrheit geht verloren. In Anlehnung an den Philosophen Harry Frankfurt kann festgestellt werden, dass Fake News als Lügen immerhin noch einen Bezug zur Wahrheit haben, während selbstkonstruierte Wirklichkeit, die Frankfurt «Bullshit» nennt, diesen völlig verloren hat.
(FRANKFURT 2005, S. 30)
The liar is inescapably concerned with truth-values. In order to invent a lie at all, he must think he knows what is true. And in order to invent an effective lie, he must design his falsehood under the guidance of that truth. On the other hand, a person who undertakes to bullshit his way through has much more freedom. His focus is panoramic rather than particular. He does not limit himself to inserting a certain falsehood at a specific point, and thus he is not constrained by the truths surrounding that point or intersecting it. He is prepared, so far as required, to fake the context as well. This freedom from the constraints to which the liar must submit does not necessarily mean, of course, that his task is easier than the task of the liar. But the mode of creativity upon which it relies is less analytical and less deliberative than that which is mobilized in lying.
Sowohl die Lügnerin als auch der «Bullshitter» tun so, als ob sie die Wahrheit kommunizieren würden. Beide müssen uns täuschen, wollen sie erfolgreich sein. Aber während die Lügnerin uns von einer korrekten Wahrnehmung der Wahrheit abhalten will, hat für den «Bullshitter» der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen keinerlei Bedeutung, er trifft sie einfach, weil sie ihm passen. Und Frankfurt schließt folgerichtig: «By virtue of this, bullshit is a greater enemy of the truth than lies are» (Frankfurt 2005, S. 34).
4 Kooperation
4KOOPERATION
Die Zusammenarbeit zwischen Menschen ist für das Funktionieren von Gesellschaften von zentraler Bedeutung. Allerdings besteht dabei ein Unterschied zwischen der gesamtgesellschaftlichen Perspektive und jener eines einzelnen Mitglieds der Gesellschaft: Während für die Gesellschaft Kooperation der Schlüssel zu ihrem Funktionieren ist, kann für ein Individuum Egoismus und damit Nicht-Kooperation von Vorteil sein. Es stellt sich damit die Frage, ob und in welcher Form gesellschaftliche und individuelle Interessen in Einklang gebracht werden können.
4.1 Die Evolution der Kooperation
4.1DIE EVOLUTION DER KOOPERATION
Die stammesgeschichtliche Evolution des Menschen ist eng mit dem Modus der Kooperation verbunden. Der Anthropologe Michael Tomasello (2016) beschreibt in seinem jüngsten Werk den Zusammenhang zwischen Moral und Kooperation:
(TOMASELLO 2016, S. 13)
Wir gehen von der Annahme aus, dass die menschliche Moral eine Form der Kooperation ist, insbesondere diejenige Form, die entstand, als Menschen sich an neue und für die Spezies einzigartige Formen der sozialen Interaktion und Organisation angepasst haben. Weil Homo sapiens ein ultrakooperativer Primat ist und vermutlich auch der einzige moralische, nehmen wir weiter an, dass die menschliche Moral ebenjene einzigartigen artspezifischen und proximalen Mechanismen umfasst – psychologische Prozesse der Kognition, sozialen Interaktion und Selbstregulation –, die es den Menschen ermöglichen, in ihren besonders kooperativen sozialen Arrangements zu überleben und zu gedeihen.
Die Evolution der menschlichen Kooperation hat ihren Ausgangspunkt im prosozialen Verhalten von Menschenaffen, das diese gegenüber Verwandten und Freunden zeigen, von denen sie abhängig sind. Ausgehend von dieser sogenannten Interdependenzhypothese zeichnet Tomasello die Entwicklung der sozialen Interaktion und Organisation nach, die sich hauptsächlich in zwei Schritten vollzog, wobei sich verändernde ökologische Verhältnisse die wichtigsten Triebfedern waren.
Vor Hunderttausenden von Jahren veränderte sich die Umwelt der damaligen Frühmenschen derart, dass die bisher auf absolut individuelle Intentionalität beruhende Lebensart das Überleben der Spezies gefährdete. Zur erfolgreichen Nahrungssuche reichte die bisherige Form der Interdependenz (Mitgefühle gegenüber Verwandten und Freundinnen beziehungsweise Freunden) nicht mehr aus. Das Mitgefühl musste auf Partner ausgeweitet werden, mit denen gemeinsame Ziele gebildet und gemeinschaftliche Aktivitäten geplant und umgesetzt werden konnten. Daraus entstand als erster Schritt der Kooperations-Evolution die gemeinsame Intentionalität. Diese bedingte einen gemeinsamen Hintergrund als «Urform sozial geteilter normativer Standards» (ebd., S. 15), auf dessen Basis Rollenideale bestimmt wurden und insbesondere die Gleichwertigkeit der an der gemeinsamen Aktion beteiligten Individuen anerkannt wurde. Basis für das Funktionieren dieser Form der Kooperation war die natürliche zweitpersonale Perspektive. Damit sich die gemeinsame Verpflichtung als neue Form der Kooperation gegenüber der bisherigen durchsetzen konnte, mussten Trittbrettfahrer ausgeschlossen werden, indem man ihnen zum Beispiel keinen Anteil an der Beute überließ. Die evolutionäre Entwicklung der menschlichen Kooperation bedeutet also von Anbeginn an auch Ausschluss: Neben den Kooperationspartnern gibt es immer auch Ausgeschlossene.
Der zweite Evolutionsschritt in der Entwicklung der Kooperation erfolgte etwa vor 150 000 Jahren, als aufgrund der erfolgreichen Kooperationsstrategien und der günstigen Umweltbedingungen die Zahl der Menschen zunahm und und sich die Gruppen vergrößerten. Infolgedessen entstanden kleinere geschlossene Gruppen – Stämme –, die mit anderen Stämmen in direkter Konkurrenz standen. Damit ein Stamm überleben konnte, mussten sich die Stammesmitglieder mit ihrem Stamm identifizieren und arbeitsteilige Rollen einnehmen. Mitgefühl und Gefühle der Verpflichtung galten ausschließlich den Mitgliedern des eigenen Stammes, alle anderen Menschen wurden als Konkurrenten wahrgenommen, nicht selten verfolgt und sogar getötet.
Die Stammesgesellschaft war auf die kognitive Koordination der Gruppenaktivitäten und auf die soziale Kontrolle angewiesen. Aufgrund dieser kollektiven Intentionalität entstand ein gemeinsamer kultureller Hintergrund, auf dessen Basis Konventionen, Normen und Institutionen entstanden.
Die Kooperationsfähigkeit des modernen Menschen steht unter dem Einfluss von drei verschiedenen Arten von Moral:
•Ähnlich der kooperativen Neigung der Menschenaffen zeigen wir ein großes Mitgefühl für Verwandte und Freunde. Droht Gefahr, sorge ich mich als Erstes um meine Kinder und meinen Ehepartner, dann um meine Eltern und Geschwister und um meine Freunde.
•Die zweite Kooperationsmoral bezieht sich auf konkrete Kooperationspartner. Als Nächstes sorge ich mich um jene Menschen, mit denen ich zum Beispiel eine Gefahr bekämpfe, mit denen ich also gerade zusammenarbeite. Auch diese Moral beruht auf persönlichen Beziehungen.
•Die dritte Kooperationsmoral ist die unpersönliche und kollektive, die auf kulturellen Normen basiert. Da alle Mitglieder der Gruppe gleich wertvoll sind, kümmere ich mich im gleichen Maße um sie.
Diese verschiedenen Arten von Kooperationsmoral können in Konflikt zueinander geraten und sind nicht selten der Ursprung von moralischen Dilemmas.
Menschen sind soziale Wesen, die nur in einer Gesellschaft überleben können, und insofern sind sie angewiesen auf Kooperation. Gleichzeitig suchen Menschen als Individuen den größtmöglichen Nutzen für sich zu gewinnen. Infolgedessen stellt sich für den Menschen die Frage, ob er zu seinem Nutzen mit anderen Personen kooperieren oder sich egoistisch verhalten soll.