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4.2 Kooperation oder Defektion

4.2KOOPERATION ODER DEFEKTION

Die Frage, wie eine Person am besten in einer fortlaufenden Interaktion mit einer anderen Person kooperieren soll, hängt nicht (nur) vom kulturell geprägten geteilten Hintergrund der Kooperationspartner ab, vielmehr spielt auch das konkrete Verhalten des Gegenübers eine entscheidende Rolle. Verhält sich ein Partner stets fair und profitieren wir beide in etwa gleichem Maße, so verhalte ich mich völlig anders als gegenüber einem Partner, der nur seinen Vorteil sucht und mich immer wieder übervorteilt.

Die Spieltheorie (vgl. zusammenfassend z. B. Diekmann 2009, Fisher 2010) beschäftigt sich wissenschaftlich mit der oben gestellten Frage. Das heißt, sie will herausfinden, «wie Individuen aufgrund ihrer eigenen Interessen handeln, um anschließend die Folgen dieser Handlungen für das gesamte System zu analysieren» (Axelrod 2009, S. 5). Ausgangspunkt vieler Untersuchungen ist das Grundproblem, dass einzelne Individuen ihre eigenen Interessen verfolgen und somit ein Ergebnis entsteht, das für alle negativ ist. Ein gutes Beispiel dafür sind die Handelsschranken zwischen zwei Staaten (bei Individuen handelt es sich nach der Logik der Spieltheorie nicht nur um Menschen, sondern auch um Staaten, Organisationen usw.). Am besten geht es beiden Staaten, wenn sie keine Handelsschranken errichten. Sobald jedoch der eine Staat Schranken errichtet und der andere nicht, profitiert nur noch der erste, und letzterer wird sich zum Schutz seiner eigenen Wirtschaft bald veranlasst sehen, auch Beschränkungen einzuführen. Damit besteht ein Anreiz, Handelshemmnisse aufzubauen, womit insgesamt ein schlechteres Ergebnis erzielt wird als bei einem kooperativen Verhalten beider Staaten.

Das sogenannte Gefangenendilemma ist Ausgangspunkt vieler spieltheoretischer Untersuchungen. Es soll hier kurz erläutert werden: Zwei Verbrecher, nennen wir sie Verbrecher A und Verbrecher B, werden von der Polizei verhaftet und verhört. Beide haben im Verhör zwei Entscheidungsmöglichkeiten, wobei sie eine Wahl treffen müssen, ohne zu wissen, wie sich ihr Kollege verhält. Die zwei Varianten bestehen darin, dass sie ihre Tat entweder gestehen oder leugnen können. Leugnen sie, verraten sie ihren Kollegen nicht, sondern kooperieren mit ihm. Gestehen sie hingegen, so verraten sie ihren Kollegen und kooperieren also nicht mit ihm (dieses Verhalten nennt man defektieren). Die Polizei bemüht sich natürlich um ein Geständnis, und je nach Verhalten ist das Strafmaß für die Verbrecher unterschiedlich:

•Wenn beide Verbrecher nicht gestehen (also miteinander kooperieren), erhält jeder je eine Strafe von einem Jahr Gefängnis (für Vergehen, die ihnen nachgewiesen werden können).

•Wenn beide gestehen (also einander verraten und damit nicht miteinander kooperieren), wird jeder zu je einer Gefängnisstrafe von drei Jahren verurteilt.

•Wenn einer gesteht (nicht kooperiert) und der andere schweigt (kooperiert), dann bleibt der Gestehende im Sinne der Kronzeugenregelung straffrei, während der andere zu fünf Jahren Gefängnisstrafe verurteilt wird.


TABELLE 2: Auszahlungen im Gefangenendilemma
VERBRECHER A
KOOPERATION DEFEKTION
VERBRECHER B KOOPERATION A:1; B:1 A:0; B:5
DEFEKTION A:5; B:0 A:3; B:3

In Tabelle 2 sind die verschiedenen Möglichkeiten des Gefangenendilemmas grafisch dargestellt. Vergleicht man die Ergebnisse der Kooperation beziehungsweise der Defektion bei beiden Verbrechern, so bedeutet beidseitige Kooperation die beste Lösung (insgesamt lediglich zwei Jahre Gefängnis), während beidseitige Defektion (zusammen sechs Jahre) sowie einmal Kooperation und einmal Defektion (insgesamt fünf Jahre) deutlich schlechter abschneiden. Aus der Sicht der einzelnen Verbrecher ändert sich das jedoch drastisch. Nehmen wir zum Beispiel die Perspektive von Verbrecher A ein und wollen wir eine möglichst geringe Strafe für ihn erreichen (jene für Verbrecher B interessiert uns nicht), dann ist Defektion in jedem Fall die richtige Strategie: Wenn Verbrecher B kooperiert, erhält Verbrecher A bei Kooperation ein Jahr Gefängnis, bei Defektion geht er jedoch straffrei aus. Defektiert Verbrecher B, dann ergibt Kooperation für Verbrecher A fünf Jahre, Defektion hingegen nur drei Jahre Gefängnis.

4.3 Direkte Reziprozität

4.3DIREKTE REZIPROZITÄT

Zwei Egoisten, die einmal vor das Gefangenendilemma gestellt sind, werden beide nicht kooperieren und höhere Strafen erhalten (je drei Jahre), als wenn beide kooperierten (je ein Jahr). Auch wenn das Spiel über eine bekannte endliche Anzahl von Durchgängen gespielt wird, ändert sich an der dominanten Strategie der Defektion nichts. Anders sieht es hingegen bei einer unbestimmten Anzahl von Durchgängen aus, was eher der Realität entspricht, da wir in der Regel nicht wissen, wann die letzte Interaktion mit einem Spielpartner stattfindet.

Der Politikwissenschaftler Robert Axelrod (vgl. zusammenfassend 2005) nahm diese spieltheoretische Situation zur Ausgangslage, um unter anderem zu untersuchen, welche Art von Strategie die Kooperation zwischen Egoisten fördert. Zu diesem Zweck lud er Spieltheorie-Experten ein, Computerprogramme mit den besten Strategien zu entwickeln, die dann in einem Turnier gegeneinander antraten und so die beste Strategie ermittelten. Zu Axelrods eigener Überraschung gewann (wie auch im darauffolgenden Turnier) das einfachste Programm mit der simplen Strategie TIT FOR TAT (wie du mir, so ich dir). Man beginnt mit Kooperation und verhält sich dann so, wie der Partner sich im letzten Zug verhalten hat. Axelrod schließt daraus:

(AXELROD 2005, S. 159)

Der robuste Erfolg von TIT FOR TAT ergibt sich daraus, dass es freundlich, provozierbar, nachsichtig und verständlich ist. Seine Freundlichkeit bedeutet, dass es niemals als erstes defektiert, eine Eigenschaft, die es vor unnötigen Schwierigkeiten bewahrt. Seine Bereitschaft zur Vergeltung entmutigt die andere Seite, bei einer Defektion zu verharren, wann immer sie ausprobiert wird. Seine Nachsicht trägt zur Widerherstellung wechselseitiger Kooperation bei. Seine Verständlichkeit schließlich lässt sein Verhaltensmuster leicht erkennbar werden; und wenn es einmal erkannt worden ist, ist es leicht einzusehen, dass man mit TIT FOR TAT am besten kooperiert.

Einen bedeutenden Vorteil dieser Strategie sieht Axelrod auch darin, dass die Basis der Kooperation nicht Vertrauen ist, das sich schwer erreichen lässt und leicht zerstört werden kann, sondern eine gewisse Dauerhaftigkeit in der Beziehung. Zudem erfordert die Evolution der Kooperation keine Freundschaft, und das einfache Prinzip der Reziprozität kann zu einer Verhaltensmaxime werden.

Die mit Computersimulationen ermittelte beste Kooperationsstrategie negiert allerdings eine wesentliche Tatsache: Störungen beziehungsweise Fehler spielen bei der Evolution einer Kooperation eine wesentliche Rolle – denn Menschen machen immer Fehler. Spielen zwei Menschen gegeneinander, die beide der TIT FOR TAT-Strategie folgen, so kann nur ein einziger Fehler eines Spielers zu einem Teufelskreis der Vergeltung führen, dem man nicht mehr entrinnen kann. Der Mathematiker Martin A. Nowak (2013) untersuchte unter Berücksichtigung dieses Mangels die Evolution von Kooperation, wobei er in einer Simulation Programme mit verschiedenen Strategien über Tausende von Generationen hinweg gegeneinander kämpfen ließ, und gleichzeitig unterlagen die Strategien einem unerbittlichen Prozess der Auslese, und auch die Reproduktion war nicht immer perfekt, sodass manchmal neue Strategien entstanden. So entdeckte er zusammen mit einem Kollegen eine Strategie, die als Abwandlung der TIT FOR TAT-Strategie in direkt reziproken Spielen (wie z. B. im Gefangenendilemma) noch erfolgreicher war als diese. GENEROUS TIT FOR TAT vergalt Kooperation immer mit Kooperation, während bei Defektion im Schnitt etwa jedes dritte Mal vergeben und daher kooperiert wurde (wann das jeweils geschah, unterlag dem Zufall). Diese freundliche Strategie vermied tatsächlich die Gefahr des Defektions-Teufelskreises. Bei einer weiteren Simulation entwickelte sich eine neue Strategie, die sich ständig durchsetzte. Sie bestand aus folgenden Anweisungen (vgl. ebd., S. 62):

•Wenn wir beide in der letzten Runde kooperiert haben, werde ich erneut kooperieren.

•Wenn wir beide defektiert haben, werde ich (mit großer Wahrscheinlichkeit) kooperieren.

•Wenn du kooperiert hast und ich defektiert habe, werde ich wieder defektieren.

•Wenn du defektiert hast und ich kooperiert habe, werde ich defektieren.

Zusammenfassend lautet die Strategie: Wenn ich Erfolg habe, wiederhole ich mein Verhalten (kooperieren oder defektieren); wenn ich scheitere, wechsle ich mein Verhalten. Nowak nannte die Strategie WIN STAY, LOSE SHIFT. Unter den gegebenen Bedingungen war dies also die beste Strategie. Allerdings ist die Evolution der Kooperation doch komplexer, denn die Verhältnisse ändern sich radikal, wenn die Partner statt gleichzeitig (wie z. B. im Spiel Schere, Stein, Papier) alternierend entscheiden. So zeigte sich bei weiteren Experimenten, dass bei simultanen Spielen WIN STAY, LOSE SHIFT am erfolgreichsten war, und in alternierenden Spielen war es GENEROUS TIT FOR TAT. Insgesamt zeigte sich aber auch, dass in den Simulationen Zyklen gefunden werden konnten, in denen mal die Kooperation und dann wieder die Defektion dominierten. Nowak schließt daraus:

(EBD., S. 67 F.)

Betrachtet man die Entwicklung der Forschung zum Gefangenendilemma über die Jahre hinweg, so erkennt man eine wichtige Linie: An Bedeutung gewonnen haben probabilistische Strategien, bei denen die Spieler zu einer bestimmten Zeit mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf bestimmte Weise spielen werden, wobei ihr tatsächliches Verhalten aber mit Unsicherheiten behaftet ist. […] Im echten Leben wird das Spiel gleichzeitig oder abwechselnd gespielt, wobei in unterschiedlichem Maße bekannt ist, wie sich der jeweils andere Mitspieler verhalten hat. […]

Die klassische Vorstellung vom Leben, das sich auf einen stabilen und unveränderlichen Zustand hin entwickelt, wurde inzwischen von einem deutlich stärker bewegten Bild abgelöst. Keine Strategie ist wirklich stabil und ewig erfolgreich. Beständig ist nur der Wandel. Das Glück ist dem Einzelnen nicht auf Dauer hold. Auf einen Himmel an Kooperation folgt stets eine Hölle an Defektion. Der Erfolg der Kooperation hängt davon ab, wie lange sie sich halten kann und wie oft sie sich nach einem Zusammenbruch erholt und wieder erblüht.

Wladimir Putins Ukraine-Politik, Chinas Verhalten im Streit um die Inseln im südchinesischen Meer und Donald Trumps Außenhandelspolitik könnten Hinweise auf die gegenwärtige geopolitische Phase sein, in der Defektion offenbar dominiert.

4.4 Die Bedeutung der Reputation

4.4DIE BEDEUTUNG DER REPUTATION

Neben den oben knapp dargestellten Strategien für direkte Reziprozität spielt für die Kooperation auch die indirekte Reziprozität eine wichtige Rolle. Statt nur die direkten Erfahrungen mit einem Mitspieler zu berücksichtigen, werden auch die Erfahrungen anderer mit diesem Spieler einbezogen. In eng vernetzten überschaubaren Sozialverbänden sind die Mitglieder gut informiert über das tägliche Leben, sie beobachten es und berichten darüber. So entsteht ein enges Netz an Reputationen in Bezug auf die einzelnen Mitglieder, die als indirekte beziehungsweise berichtete Erfahrung wichtige Hinweise für die Zusammenarbeit liefern. Heute wachsen Gesellschaften schnell, sie werden komplexer, und die Vernetzungen werden dichter. Vor allem der wirtschaftliche Austausch der Mitglieder dieser Gesellschaften beruht auf indirekter Reziprozität. Sie entscheidet, mit wem wir Geschäfte machen und kooperieren. Reputation wird damit zur wichtigsten Währung für Mitglieder einer noch vernetzteren Gesellschaft, und dies in zweierlei Hinsicht: Meine Reputation ist wichtig für mögliche Kooperationspartner, die noch keine Erfahrungen mit mir gemacht haben, und ich muss mich kundig machen über potenzielle neue Kooperationspartner. Nowak fasst dies in einem einfachen mathematischen Verhältnis zusammen: «Die Evolution (das Auftauchen) von Kooperation kann stattfinden, wenn die Wahrscheinlichkeit, die Reputation des anderen zu kennen, höher als das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist» (ebd., S. 81).

4.5 Kooperation und menschliche Kommunikation

4.5KOOPERATION UND MENSCHLICHE KOMMUNIKATION

Michael Tomasello (2011) präsentierte vor wenigen Jahren ein raffiniertes mehrstufiges Modell der Sprachentwicklung, das sich auf vielfältiges empirisches Material aus der Primaten- und Säuglingsforschung sowie auf die wichtigsten Theorien der Sprachphilosophie stützt. Zentral für das Modell sind Gesten und die psychologische Ausstattung «geteilter Intentionalität», mit deren Hilfe die Menschen ihre Wahrnehmungen und Absichten zum Bezugspunkt ihres gemeinsamen Handelns machen können. Tomasello geht von drei Hypothesen aus (vgl. ebd., S. 68–120):

1.Die menschliche kooperative Kommunikation entwickelte sich anfangs im Bereich der Gesten (Zeigegesten und Gebärdenspiele).

2.Diese Entwicklung wurde durch Fertigkeiten und Motivationen geteilter Intentionalität verstärkt. Die geteilte Intentionalität ihrerseits entstand in der Folge kooperativer Tätigkeiten.

3.Willkürliche sprachliche Konventionen konnten nur im Zusammenhang mit sinnvollen Tätigkeiten entstehen, die durch natürliche Formen der Kommunikation wie Zeigegesten und Gebärdenspiel koordiniert wurden.

Schon früher haben namhafte Wissenschaftler angenommen, dass in Gesten der erste Schritt der Menschen auf dem evolutionären Weg zur Sprache zu sehen ist. Von großer Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass Kleinkinder sinnvoll mit Gesten kommunizieren, bevor sie zu sprechen beginnen. Und gehörlose Kinder beginnen schon früh, auf komplexe Weise zu kommunizieren, indem sie erfundene Gesten verwenden. Dies lässt den Schluss zu, dass der Mensch in seiner Entwicklungsgeschichte zuerst die gestische Kommunikation ausgebildet hat und dass erst danach stimmliche Lautäußerungen die dominante Rolle in der menschlichen Kommunikation übernahmen. Das zeigt auch die Forschung an Primaten: alle vier Menschenaffenarten setzen Gesten auf sehr differenzierte Weise ein; und sie verwenden diese Gesten mit einer gewissen Sensibilität, indem sie durchaus zwischen Empfänger (soziale Ebene) und Inhalt (referenzielle Ebene) unterscheiden. Das steht in bemerkenswertem Kontrast zu ihrem undifferenzierten stimmlichen Ausdrucksvermögen. Davon ausgehend, kann man sich gut vorstellen, wie sich menschliche Zeigegesten und bildliche Gesten entwickelt haben, die bereits lange vor der Herausbildung der stimmlichen Sprache zur Grundlage der menschlichen kooperativen Kommunikation wurden.

Die These, wonach die menschliche Kommunikation sich von elaborierten Gesten zur Sprache entwickelte, scheint sehr plausibel zu sein, sie kann durch ein drastisches Beispiel erhärtet werden. Man stelle sich zwei Gruppen von «nichtsprachlichen» Kindern vor: Die eine Gruppe kann keine stimmlichen Laute von sich geben, die andere kann nicht mit Gesten kommunizieren. Bei einem heraufziehenden Sturm können die Kinder ohne Laute recht gut durch Gesten vor dem Sturm warnen, während die Kinder, die über keine Gestik verfügen, allein durch diffuse Laute zu keinen inhaltlichen Mitteilungen über das Heraufziehen des Sturmes fähig waren. Tomasello nimmt daher an, dass der Pfad zur gesprochenen Sprache des Menschen über ein Zwischenstadium erfolgt. In diesem stehen sinnvolle, handlungsbasierte Gesten in Zentrum, die sich auf die natürliche Neigung des Menschen stützen, der Blickrichtung anderer zu folgen und ihre Handlungen als absichtsvoll zu interpretieren. Zugespitzt könnte man sogar sagen, dass ursprünglich die gesprochene Sprache nur darum kommunikative Bedeutung annahm, weil sie sich auf der Grundlage von natürlichen sinnvollen Gesten entwickelt beziehungsweise sich gleichzeitig als Verstärkung des Gestischen ausgebildet hat.

Geteilte Intentionalität heißt grundsätzlich, mit anderen zusammen an kooperativen Aktivitäten mit gemeinsamen Zielen und gemeinsamen Absichten beteiligt zu sein. Vergleicht man Menschen mit Menschenaffen, so zeigt sich, dass die Menschenaffen zwar individuelle Intentionalität verstehen, das heißt, sie können erkennen, dass andere Affen für sich Ziele verfolgen, sie beteiligen sich im Gegensatz zu den Menschen jedoch nicht an kollektiver Intentionalität. Aus diesem Grund ist auch ihre Kommunikation individualistisch. Menschen sind im Unterschied dazu zu kooperativen Tätigkeiten und zu kooperativer Kommunikation fähig; und das lässt die Vermutung zu, dass diese beiden Fertigkeiten auf einer gemeinsamen psychologischen Infrastruktur geteilter Intentionalität gründen. Und diese gemeinsame Infrastruktur deutet auf einen gemeinsamen evolutionären Ursprung hin.

Auch die Entwicklung von Kleinkindern stützt die Hypothese von der geteilten Intentionalität als Antrieb für die Entwicklung der kooperativen Kommunikation. Kleinkinder sind schon recht früh, mit ihren Händen und ihrem Körper zu Zeigegesten und Gebärden in der Lage. Sie beteiligen sich jedoch nicht an kooperativer Kommunikation, bis sie circa ein Jahr alt sind. Das ist genau das Alter, in dem sie beginnen, bei gemeinschaftlicher Tätigkeit mit anderen Personen Fertigkeiten geteilter Intentionalität zu zeigen. Die Gesten und Gebärden der Kinder zeugen ab diesem Alter von wechselseitiger Annahme von Kooperativität, das heißt, das Kind erkennt, dass der Kommunikationspartner kooperieren will, und es weiß gleichzeitig, dass der Kommunikationspartner seinerseits weiß, dass es selbst kooperieren will usw.

Es zeigt sich also, dass sich aus dem Verstehen von Absichten und Aufmerksamkeitsgesten bei den Menschenaffen geteilte Intentionalität und kommunikative Absichten bei den Menschen entwickelten. Diese Wandlungen ergeben sich alle aus einer bestimmten Art von strukturiertem, gegenseitigem Verstehen zwischen zwei oder mehreren Menschen, von denen jeder weiß, dass der andere weiß usw., wobei dieser Prozess endlos hin und her geht.

Vor dem Hintergrund der ersten beiden Hypothesen wird klar, dass arbiträre (willkürliche) Kommunikationsregeln wie diejenigen der gesprochenen Sprache nur durch die Vermittlung von natürlichen, handlungsbasierten Gesten innerhalb gemeinschaftlicher Interaktionen entstanden sein konnten. Die besten Belege dafür stammen wahrscheinlich aus der frühen Kindersprache. Obwohl Kleinkinder bereits mit wenigen Monaten vollkommen dazu in der Lage sind, Laute und Erfahrungen miteinander zu verbinden (und sogar Lautäußerungen nachzuahmen), fangen sie mit dem Erwerb sprachlicher Konventionen erst an, wenn sie im Alter von circa zwölf Monaten damit beginnen, sich mit anderen an gemeinschaftlichen Tätigkeiten zu beteiligen, die von gemeinsamer Aufmerksamkeit strukturiert werden.

Die Entstehung der Grammatik (und damit der entscheidende Schritt in der Entwicklung der Sprache) in der Evolution des Menschen war Tomasellos Hypothese zufolge Teil eines einzigen Prozesses, in dem Menschen begannen, Kommunikationsmittel zu konventionalisieren (regeln). Es war ein schrittweiser Prozess, in dem neu entstehende Kommunikationsmotive des Informierens und Erzählens einen neuen Druck auf Individuen ausübten, die bereits mittels Gesten und auch durch Einwortäußerungen Dinge voneinander verlangten. Als Reaktion darauf schufen Menschen konventionelle grammatische Strukturierungen von mehrwortigen Äußerungen und erfüllten auf diese Weise die neuen Kommunikationsbedürfnisse, die durch das Informieren und Erzählen angestoßen wurden. Diese Hilfsmittel wurden dann selbst zu vorgefertigten Mustern sprachlicher Regelung für wiederkehrende Kommunikationsfunktionen.

Sprechhandlungen sind gesellschaftliche Handlungen, die eine Person an eine andere richtet, um deren Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft auf eine bestimmte Weise zu lenken, sodass sie das tut, weiß oder fühlt, was die erste Person von ihr will. Diese Handlung funktioniert nur dann, wenn beide Beteiligten mit einer psychologischen Infrastruktur von Fertigkeiten und Motivationen geteilter Intentionalität ausgestattet sind. Die Sprache, oder besser die sprachliche Kommunikation, ist daher eine Form gesellschaftlichen Handelns, um gesellschaftliche Zwecke zu erreichen, die zumindest auf einem gewissen geteilten Verstehen und geteilten Zielen der Benutzerinnen und Benutzer beruht.

Mit seiner Arbeit zum Ursprung der menschlichen Kommunikation zeigt Tomasello die Bedeutung der Kooperation für die menschliche Phylogenese (Stammesgeschichte).

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