Kitabı oku: «Hundert Geschichten», sayfa 6
Er erwachte, als keine Geräusche mehr zu hören waren. Der Fernseher war weiß; er schaltete ihn aus. Er war genauso hungrig wie müde. In der Küche hörte er ein leises Tropfen, das von keinerlei Wasserhahn herrührte: Es war der Kühlschrank, der ausgegangen war. Das wenige Eis, das in der kurzen Zeit gefroren war, schmolz langsam vor sich hin. Er zog den Stecker. Mit Kräften, die ihm titanisch vorkamen, drehte er den Kühlschrank um. Er verstand nichts von diesen hieroglyphischen Serpentinen. Er drehte den Kühlschrank in seine Ausgangsposition zurück und steckte den Stecker wieder in die Steckdose: Nicht einmal das Lichtchen innen drin ging an. Bevor er die Küche verließ, ging er auf die Veranda und schaute nach der Therme: Die Flamme war da, wo sie sein sollte.
Er holte seinen Schlafsack aus einem Schrank. Er schlüpfte hinein und legte sich auf das Parkett neben einen Heizkörper. Er drehte sich mehrere Male hin und her: Es fiel ihm schwer, die ideale Stellung zu finden. Er überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, die Matratze umzudrehen und dort zu schlafen. Vielleicht war sie weniger nass, als er anfangs gedacht hatte. Doch jetzt war er zu faul zum Aufstehen.
Eine Dreiviertelstunde später sah er ein, dass er nicht schlafen konnte. In der Küche machte er sich ein Brot mit Öl und Zucker. Aß es. Dann setzte er sich vor die Schreibmaschine und fing an zu schreiben. Er schrieb eine halbe Seite voll, die er sofort wieder herausriss. Er knüllte sie zusammen und warf sie in den Papierkorb. In der Küche schnitt er Brot und Schinken auf und verzehrte das Ganze. Aus der Reisetasche zog er Candide ou l’optimisme. Er setzte sich auf einen Stuhl in der Küche und las.
Es dauerte genau dreizehn Sekunden, bis das Licht ausging. Beim Schein einer Kerze kontrollierte er die Sicherungen. Sie sahen aus, als seien sie in Ordnung. Er schaute aus dem Fenster: Im Dorf brannte kein einziges Licht, doch das besagte gar nichts: Um halb fünf Uhr morgens war das normal. Er machte noch mehr Kerzen an und las weiter.
Als er aufwachte, war es bereits Tag. Er war über dem Tisch eingeschlafen und war total erfroren. Er gähnte; die Knochen waren kurz davor, sich in Stalaktiten zu verwandeln. Er berührte die Heizkörper: Alle waren kalt. Er rannte zur Therme: Die Flamme war da, wo sie sein sollte, doch das Thermometer zeigte null Grad an. Er ließ noch einmal Wasser in die Heizung laufen: 3, 4, 4½ . . . Er überschritt die rote Linie. Aus einer Röhre, die außen am Gebäude angebracht war, begann das überschüssige Wasser abzufließen. Die Therme grunzte, die Flamme sah aus, als würde sie sich endlich über die ganze Brennplatte ausbreiten, doch stattdessen ging sie aus.
Er beschloss, sich einen Kaffee zu kochen. Beim Anblick der ungemahlenen Bohnen in der Dose erinnerte er sich, dass bei seinem letzten Aufenthalt die Kaffeemühle kaputtgegangen war. Er suchte ein Henkeltöpfchen und goss Milch hinein. Doch dann hatte er eine bessere Idee: Er stellte das Töpfchen auf die Marmorplatte und holte zwei Töpfe heraus; er stellte eine Herdplatte an, wenigstens der Herd funktionierte. Er säuberte und kochte die Garnelen. Dann stellte er einen der Töpfe mit Butter auf den Herd. Er gab den in große Würfel geschnittenen Schinken und eine zerkleinerte grüne Paprika dazu. Er rührte ein paar Minuten lang und schüttete etwas Mehl hinzu. Später gab er die Garnelen, Wasser, die in vier große Stücke geschnittenen Tomaten, gehackte Zwiebeln, Knoblauch und Petersilie hinein. Als das Ganze zu kochen anfing, gab er Reis, Salz, Thymian, roten Pfeffer, Soyasoße und Essig dazu. Er legte den Deckel auf den Topf und stellte den Herd klein. Eine halbe Stunde lang kontrollierte er das langsame Sieden.
An der Tür klingelte es: Ein Jüngelchen stand davor, vom Barmann geschickt, um die Therme zu reparieren. Pol zeigte ihm nicht nur die Therme, sondern auch alle anderen Geräte, die repariert werden mussten; und die Heizkörper: einen nach dem anderen. Doch er verlor zu viel Zeit mit Erklärungen. Er merkte es, als er einen verräterischen Geruch aus der Küche wahrnahm. Der Versuch, die Jambalaya auf eine Platte zu stürzen, scheiterte, denn sie war angebrannt und das, was er noch herauskratzen konnte, war ein ungenießbarer Brei.
Er stellte den Milchtopf auf den Herd. Das Jüngelchen rief ihn, um ihm zu zeigen, wie einfach es war, den Heizkörper nicht kaputt zu machen, man müsse nur das Ventil richtig herum abschrauben. Es war zu spät, als er wieder in die Küche kam: Die Milch war übergekocht und klebte auf der Herdplatte. Aus Faulheit trank er den Milchstrahl nun gleich aus der Flasche. Er steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster. Sie kamen verkohlt wieder heraus.
Er versteckte sich auf dem Klo und schwor, erst wieder herauszukommen, wenn alle Geräte im Umkreis von einem Kilometer repariert waren. Er zog an der Kette und sie ging an drei Stellen kaputt. Er schaute in den Spiegel: Sah ein unrasiertes Wesen auf der Flucht. Kurz davor, den größten Fehler seines Lebens zu begehen, betrachtete er den Rasierapparat in seiner Hand. Entsetzt warf er ihn ins Bidet, er hatte seine Zähne gesehen.
Draußen erwartete ihn der junge Mann. Zusammen überprüften sie, ob die Therme, die Heizkörper, die Kaffeemühle, der Kühlschrank, der Toaster und der Rasierapparat perfekt funktionierten. Bis zum Kauf einer neuen ersetzte er die kaputte Kette durch ein Seil. Pol bezahlte. Der Handwerker ging von dannen.
Nach dem Rasieren setzte er sich an die Schreibmaschine. Es packte ihn die Wut: Er hatte sich gestern auf der ganzen Reise darauf gefreut, anzukommen, sich sofort hinzusetzen und zu schreiben. Stattdessen ärgerte er sich seit seiner Ankunft mit irgendwelchen Gegenständen herum und hatte noch nicht eine Zeile zu Papier gebracht. Im Vertrauen auf sein Gedächtnis, was aber offenbar schlecht war, hatte er sich von den Ideen, die auf der Reise herangereift waren, keine Notizen gemacht. Doch seit er in diesem Haus war, hatte er nicht ein Bild wieder hervorholen können: Sein Kopf war leer und ihm fiel nichts ein. Alle Heizkörper liefen jetzt hundertprozentig: Die Luft füllte sich mit einer übermäßigen Wärme. Er zündete sich eine Zigarette an. Er fing an zu tippen, fast ohne zu wissen, was. Doch gleich darauf war es ihm klar: genau diese Aneinanderreihung von Gemeinheiten, die ihn seit zwanzig Stunden in Panik versetzten. Die Zeilen schossen heraus wie ein Strahl: ». . . Die Reise war anstrengender gewesen als sonst, so als ob sich alle in den Kopf gesetzt hätten, ihm unnötig Schwierigkeiten zu machen . . .« Er hielt inne: Die Sonne flammte vom Himmel. Er schwitzte. Er zog seinen Pullover aus, ging auf die Veranda und machte die Heizung aus. Er hatte keine Angst vor der Irreversibilität seines Tuns. Am Tisch las er noch einmal durch, was er geschrieben hatte: ». . . versuchte erneut, die Therme auf der Veranda anzukriegen. Er drückte den Knopf bis zum Anschlag, drehte ihn nach rechts und ließ ihn los . . .« Nun wusste er, je mehr Zeilen er schreiben würde, desto sicherer würde er sich fühlen. Er musste alles aufschreiben: von der Abreise aus der Stadt bis zur Ankunft des Jüngelchens; nein: bis genau zu dem Moment, als alles wieder in den Normalzustand zurückgekehrt war, er sich vor seine Schreibmaschine gesetzt und den richtigen Dreh herausgefunden hatte. Erst wenn er sich alles von der Seele geschrieben hatte, würde er mit dem beginnen können, weswegen er eigentlich hierher in die Einsamkeit gekommen war; die ganzen Ideen, die ihn auf der Reise bombardiert hatten, würden wieder in vollkommener Ordnung da sein: Mühelos würde er auf den Blättern des rechten Stapels Absatz für Absatz aneinanderreihen; und wenn er sie alle beschrieben hatte, würde er hinunter ins Dorf gehen und für die unvergleichliche Jambalaya, die er sich zur Feier des Tages kochen würde, eine Flasche Alella kaufen. Doch plötzlich flog eine Taste der Olivetti in einem akrobatischen Sprung in die Luft. Innerhalb von Sekunden flog die Schreibmaschine auseinander und blieb als ein Haufen Schrauben, Gestänge und Federn liegen.
Apfelpfirsich
Ich kann die Geschichte des Films nicht mehr erzählen; ich erinnere mich nur (sehr vage) daran, dass er voller billiger Späße und Slapsticks war. Ab und zu fiel die Hauptdarstellerin mit Makkaroni in der Hand hin oder der junge Mann in Unterhosen geriet in ein Verwechslungsdrama. Das Publikum lachte, doch nie, weil der Film lustig war, sondern so dumm, dass er immer grotesker wurde. In den hinteren Reihen wurden Witze gerissen und laute Kommentare abgegeben, die geistreicher waren als der Dialog auf der Leinwand. Mir fiel sie zum ersten Mal auf, als ich die Platznachbarn um mich herum beobachtete: ein dunkles, Erdnüsse futterndes Profil, das die Schalen auf den Boden warf. Sie hüstelte einmal und ein anderes Mal drehte sie sich um (doch nicht zu mir, zu niemandem), und sie gähnte beim Verlassen des Kinos wie alle anderen auch.
Am späten Nachmittag war mir die Lust, durch Buchhandlungen zu ziehen, bereits vergangen. Ich hatte vergeblich versucht, ein Buch zu klauen; und wenn derartige Missionen schiefgehen, versinke ich immer in Depressionen und denke an Selbstmord. Just, als ich eine Abhandlung über Trigonometrie in meine Tasche stecken wollte (es war das einzig erreichbare Buch in der einzigen uneinsehbaren Ecke der Buchhandlung), sah ich sie ein weiteres Mal. Nun trug sie eine gelbe Brille, und angesichts des komplizenhaften Blickes, den sie mir zuwarf, fragte ich mich, ob sie mich (aus dem Kino) wiedererkannte oder ob sie sich mit meinem kleptomanischen Leiden solidarisierte. Für eine Sekunde glaubte ich, es sei ein vorwurfsvoller Blick.
Muss ich erwähnen, dass mich die nächste Begegnung mit ihr (an jenem selben Abend in einem exotischen Restaurant, in dem sie zwei Tische weiter, dunkel gekleidet, die Hand eines kalten Mannes streichelte) davon überzeugte, dass wir offenbar nicht nur am Tag darauf (im Theater), sondern auch in der ganzen folgenden Woche in Straßen, Bars, Läden und Kinos aufeinandertreffen würden, sie, allürenhaft vergesslich, beharrlich so tuend, als würde sie den unterschiedlichsten Beschäftigungen nachgehen? Endlich stellte uns ein gemeinsamer Freund (bei der Vernissage einer völlig zu vernachlässigenden Ausstellung von Skulpturen) einander vor. Sie leugnete, mich jemals gesehen zu haben, ein Verhalten (anfangs von mir als Versuch interpretiert, mir ihre Verachtung zu zeigen), das mich späterhin ziemlich verwirrte, weil sie so ungemein nett zu mir war. Wir aßen zusammen zu Abend, und um dies nicht in eine pornographische Geschichte abgleiten zu lassen, sage ich nur, dass sie, als ich aufwachte, schon nicht mehr da war. Nur eine Nachricht: »Ich rufe dich an. Kuss.«
Sie meldete sich den ganzen Vormittag nicht. Am selben Abend (als ich eine Eisenwarenhandlung verließ, in der ich ein neues Käsemesser gekauft hatte) ging sie an mir vorbei, ohne mich zu erkennen, sie sah in ihren schwarzen Shorts superklasse aus. »Erkennst du mich nicht?«, protestierte ich und kniff ihr in den Hintern. Sie spielte die Überraschte und verpasste mir eine Ohrfeige, die vier Finger ihrer Hand auf meinem Gesicht hinterließ. Sie hieß mich einen unverschämten Frechling, eine Einschätzung, die ihren wiederholten Beteuerungen, mich nicht zu kennen, widersprach. Von der halben Stadt (die sich mit ihr solidarisierte) beschimpft und angegriffen, flüchtete ich in eine Seitengasse, wo ich sie wiedertraf, diesmal in einer extravaganten Bluse und einem roten, offen gestanden sehr kurzen Rock. Lächelnd fragte sie mich, ob ich mit ihr kommen wolle, und als ich sie fragte, wohin (eine absolut dumme Frage, die sich nur mit meinem Erstaunen darüber erklären ließ, wie sie es angestellt haben könnte, sich so schnell umzuziehen), schaute sie mich von oben bis unten an, schnalzte mit der Zunge und drehte mir den Rücken zu. Diese Gelegenheit nahm ich blitzschnell wahr und rannte los, bis zum Boulevard. Doch natürlich war sie auch dort und saß in Blau gekleidet auf einer Bank. Die Lage verschlimmerte sich, da sie zeitgleich ein paar Meter weiter in weißen Jeans ein Eis kaufte. Als der Abend hereinbrach, war sie überall: Entweder hatten alle Frauen ihr Gesicht oder ihr Gesicht reproduzierte sich in dem aller Frauen unter einem Mond, der sich wie alles um mich herum unendlich fotokopierte und dem Himmel das Aussehen von Computerdateien gab. Man braucht nun nicht besonders intelligent zu sein, um mir die Zukunft vorauszusagen und zu erraten, welches die nächste Stufe dieses kosmischen Komplotts sein würde: Als ich vor einem Zirkusplakat stand, drehte ein Mann, der es gleichfalls betrachtete, im selben Moment wie ich den Kopf um, und eine Sekunde lang wusste ich nicht, auf welcher Seite des Spiegels ich mich befand: Ein anderes Ich, verschieden von mir, schaute mich erstaunt an, ohne zu wissen, warum ich dieses Messer aus der Tasche zog. Ich fragte mich noch, ob ich es nicht, wenn ich es in ihn bohrte (in ihn und in all die, die, wie er, ich waren, ohne ich zu sein), auch in mein eigenes Herz bohren würde.
Die Lachsdame
Ihre Art, die Beine übereinanderzuschlagen, war das Erste, was mich in sie verliebt machte. Ganz sachte, fast ängstlich, als seien sie zerbrechlich wie Eis, hob sie ein Bein hoch und legte es über das andere: Beide Beine berührten sich nun vom Knie bis zum Fuß. Das war der Madeleine-Effekt: Plötzlich wirbelten in meinem Kopf Bilder umher von Tanten und Kusinen und sepiafarbenen Fotos einer Großmutter aus den zwanziger Jahren mit rundem Hut und kurzem Rock, auf denen sie die Beine genauso übereinandergeschlagen hatte wie meine Begleiterin im Zugabteil. Diese streckte nach einer Weile, um die Beine in ihren nicht gekreuzten Zustand zurückzuversetzen, ein Bein nach vorne, und eine Sekunde lang war es (vom Schambein bis zum Fuß) kerzengerade. Parallel nebeneinanderstehend, kippte sie dann diese vollkommenen Prachtexemplare ein wenig zu einer Seite hin. Solche Beine konnten den glücklich machen, der an ihnen teilhaben durfte (und Teilhabe hieß in dem Fall, sie jederzeit betrachten zu können, sie dann und wann zu streicheln, nackt unter der Strumpfseide . . .); und konnten den, der sie verlor, ins Unglück und in den Selbstmord treiben; konnten unendliche Kriege auslösen. Die neue Helena von Troja mit Beinen wie Marlene Dietrich schaute aus dem Fenster durch einen Vorhang aus halb ockerfarbenen, halb weißen Bäumen auf eine endlose Folge grüner Wiesen mit spärlich eingestreuten Häusern.
In Hønefoss hielt der Zug, und wir mussten aussteigen. Ich verstand nicht, warum wir umsteigen sollten, da aber niemand protestierte, ging ich davon aus, dass alles seine Richtigkeit hatte. Die Waggons, in denen wir angereist waren, entfernten sich sofort, und nach fünf Minuten trafen neue ein.
Alle beeilten sich beim Einsteigen, und jeder setzte sich, wie es ihm beliebte. Ich, der ich keine Hoffnung hegte, dem Beinspiel der Dame weiter folgen zu können, begab mich in einen der letzten Waggons. Dort fand ich ein leeres Abteil und ließ mich nieder. Ich kramte den Guide Bleu aus meiner Reisetasche und vertiefte mich in die Lektüre von Höhenangaben, Ortschaften und möglichen Restaurants. Die Ruhe nahm ziemlich schnell ein Ende: Jemand öffnete die Tür, und von nun an hörte man nur noch Kindergeschrei und das Geraschel von ständigem Ein- und Auspacken. Ich tauchte in mein Buch ab, das sich in Betrachtungen über die Qualität der Heringe auf den Inseln vor der Küste erging. Das Gefühl, beobachtet zu werden, lenkte mich ab. Ich hob den Kopf. Vor mir verlangte ein Kind von einer Dame, die seine Mutter zu sein schien, aber offensichtlich keine Lust hatte, Erklärungen zu einem Comic. Gedankenverloren ließ ich meinen Blick im Abteil wandern: Neben mir saß die wunderschöne Dame, die mit dem Beinspiel.
Das überraschte mich. (Bei so viel leeren Plätzen im Zug musste sie sich ausgerechnet neben mich setzen!) Sie schaute nach vorne, anscheinend zu dem Jungen, der weiter darauf bestand, dass seine Mutter ihm die Comics erklärte. Ich kehrte zum Reiseführer und zu den Heringen zurück.
In Sokna stiegen Mutter und Kind aus, und ein alter Mann kam herein. Sobald der Zug den Bahnhof hinter sich gelassen hatte, spürte ich einen Druck an meinem Bein. Sie (die Dame mit den lachsfarbenen Beinen) rieb ihr Bein an meinem! Ich zögerte nicht lange: Ich antwortete nicht nur auf die Zärtlichkeit, vielmehr steigerte ich sie noch. Aus dem Augenwinkel erschien es mir, als lächle sie. Was war nun zu tun? Ich hoffte, dass der alte Mann im nächsten größeren Ort ausstieg und wir dann alleine wären. Doch es kamen eine Menge Bahnhöfe, ohne dass der alte Mann sich von seinem Platz bewegt hätte. Seine Augen waren geschlossen, und sein Kopf lehnte an einer Kopfstütze am Sitz. Er schlief so entspannt, dass ich mich fragte, ob er inzwischen nicht gestorben sei. Oder, falls er noch lebte und tatsächlich schlief, ob er nicht seinen Bahnhof verpassen würde. Vielleicht musste er ja genau da aussteigen, wo der Zug gerade anhielt, und merkte gar nicht, dass er am Ziel war? Vielleicht wäre es ja sogar eine gute Tat, ihn zu wecken. Als vernünftiger Ausländer hielt ich Schweigen für richtiger, vor allem, weil wir nun in unserem Abteil Zuwachs bekamen: eine etwa Zwanzigjährige mit einem übertrieben großen Rucksack und ganz hellen Augen.
Mein Bein und das Bein der Dame hielten Kontakt: So wie es aussah, fehlte es uns beiden an Esprit, um unser Begehren ins Ziel zu führen. Erst eine ganze Weile nach der neuerlichen Weiterfahrt des Zuges hatte ich genug Mut zusammen und fragte sie, ob sie weit fahre. Sie schaute mich nicht einmal an, erst als ich meine Frage wiederholte, wandte sie ihr Gesicht zu mir (jetzt so ganz nah vor mir, sah ich, wie wunderschön sie war), lächelte mich mit ihren Blutlippen an und antwortete mir auf Norwegisch. (Meine Hoffnung, sie könne zu der beträchtlichen Anzahl der norwegischen Bevölkerung gehören, die Englisch als Zweitsprache sprach, war schlagartig dahin.) Ich schwieg. Sie fügte noch etwas hinzu und wartete dann auf eine Antwort, die ich ihr nicht geben konnte. Die Zwanzigjährige las in einer Modezeitschrift und schien in einer ganz anderen Welt. Der alte Mann jedoch, der mir vorhin in seinem Schlaf noch tot erschienen war, öffnete die Augen und bot sich mir als Übersetzer an: Die Dame entschuldige sich, nicht meine Sprache zu sprechen. Als Antwort ging mir durch den Kopf, die Sprache, auf die sie sich bezog, sei ja nicht meine eigene, sondern eine geliehene, aber ich schwieg. Der Mann bot weiter seine Übersetzungsdienste an. Das brachte mich völlig durcheinander (ich stellte mir vor, wie ich ihr mithilfe eines Übersetzers auf Knien meine Liebe erklärte), ich wusste nicht, was antworten, und sagte schließlich dankend nein (zum alten Mann). Danach herrschte ein etwas angespanntes Schweigen. Die Beine, jedoch, blieben zusammen. Der Alte machte seine Augen wieder zu, doch nur für kurze Zeit: Als wir Torpo erreichten, sagte er uns Auf Wiedersehen und stieg aus.
Zwischen Torpo und Ål ließ ich meine Hand langsam auf die ihre gleiten und streichelte mit den Fingerspitzen ihren Handrücken. Mir schien, als bewege sie ihre Augenlider. Sie drehte ihre Hand so, dass sich ihre mit meiner, ähnlich wie zwei Nusshälften, zusammenschloss. Die Zwanzigjährige von gegenüber blätterte laut raschelnd die Seiten um und schaute dann und wann aus dem Fenster. Unvermittelt schlug sie die Zeitschrift zu und legte sie auf den Sitzplatz neben sich. Sie streifte uns mit ihrem Blick, ließ ihn zwei Sekunden auf unseren verschlungenen Händen ruhen, lenkte dann sogleich diskret den Blick auf ihren Rucksack, zurrte einen Riemen fest und tauchte gähnend wieder in die Seenlandschaft ein.
Die abendliche Dämmerung wurde nie zur Nacht. In Geilo war ein grün uniformierter Mann mittleren Alters zugestiegen, der aussah wie ein Waldhüter. Meine Möglichkeiten schwanden dahin. Ich fasste einen Entschluss: Die Hand der Dame fest in meiner, würde ich aufstehen und auf den Gang hinaustreten, wo wir, wenn schon nicht reden, uns zumindest leichter verständigen könnten. Allerdings bestand dabei die Gefahr, dass sie das Spiel nicht mitspielen wollte und mir etwas sagen würde, was ich zwar nicht verstand, aber alle anderen im Abteil, und davor fürchtete ich mich. Andererseits sprach für diese Vorgehensweise, dass die Initiative ja eigentlich von ihr ausgegangen war und das Einzige, was ich bisher beigetragen hatte (nämlich ihre Hand zu nehmen), nicht abgewiesen worden war. Es störte mich freilich, dass sie meine nachteilige Lage als Fremder in einem kalten Land nicht wahrnahm. Für sie war es ein Heimspiel, und es war an ihr zu entscheiden, was zu tun sei. Oder reichte ihr das etwa schon, Händchen halten und die Beine aneinander reiben?
Ich stand auf, ihre Hand fest in meiner. Eine Sekunde lang glaubte ich, sie würde nicht aufstehen: Sie sah mich überrascht an, lächelte aber dann. Sie schritt vor mir durch die Tür. Wir zogen durch den Gang bis ans Wagenende. Auf der Plattform, von Angesicht zu Angesicht, sagte sie ganz langsame Worte zu mir, die ihr sicher einfach erschienen, doch mir kamen sie norwegisch vor. (Was für ein blöder Witz!) Wir mussten ganz offensichtlich das linguistische Terrain sondieren (und hier verweigere ich mich in der Tat dem leichten Witz), welches das Unsere sein würde. Silbenweise breitete ich meine vier Möglichkeiten vor ihr aus. Sie verstand mich, denn sie zählte derer drei auf, die ich zwar verstand, doch zu meinem Unglück (und vermutlich auch zu ihrem) stimmte keine ihrer drei mit einer meiner vier überein. Wie also sollte ich ihr sagen, dass ich verrückt nach ihren Beinen war; dass ich sie umarmen und streicheln wollte, ehe sie auf einem Bahnhof entschwand, den ich nicht vorhersehen konnte; dass ihre Initiative, sich an meinem Bein zu reiben, das Angenehmste war, was ich seit einer Woche erlebt hatte? Indem ich sie küsste. Wir küssten uns leidenschaftlich (und das war unser erster Kuss: die Ouvertüre zur Sinfonie) in einer Umarmung, die so lange dauerte wie die Brücke, über die wir fuhren, und endete, als sich die Tür zum Gang öffnete: Das Mädchen aus unserem Abteil lief in Richtung Klo, das sich (wie ich jetzt erst bemerkte) an der Stelle befand, an der wir unsere Zeit vergeudeten, indem wir uns wie Kinder küssten, ohne zu den wesentlichen Dingen vorzustoßen. Als das Mädchen sich im Klo einschloss, fiel mir ein, dass wir ja nur darauf zu warten brauchten, bis sie wieder herauskam, um diese Liebeshöhle in Beschlag zu nehmen, die sich uns hier auf dem Silbertablett darbot.
Zehn Minuten später war sie immer noch drin. Der Gedanke an die Köstlichkeiten, denen sie sich da drinnen hingeben mochte, erregte mich. Ich hätte meiner unbekannten Freundin gerne Andeutungen gemacht, die jetzt in jeder Sprache, die sie beherrschte, Worte (vielleicht der Liebe, der sexuellen Erregung) wiederholte, um zu sehen, ob ich sie vielleicht doch verstand; aber es war nichts zu machen: Alle klangen für mich wie gurgelndes Eis, Echos in einem Fjord. Und auf der anderen Seite des Fensters eine weite, verschneite Ebene.
Viele Minuten später kam der Schaffner und verlangte die Fahrkarten. In der Eile hatten wir die Reisetaschen im Abteil vergessen und mussten nun die Fahrkarten holen. Der Waldhüter war nicht mehr da. Der Schaffner erledigte seine Arbeit und ging weiter. Wir saßen wieder alleine im Abteil. In dem Moment, als ich begann, ihr Knie zu streicheln, trat das Mädchen wieder ein. Also, folgerte ich, war das Klo nun wieder frei. Die lang ersehnte Gelegenheit. Ich schickte mich an aufzustehen, aber die Dame sagte etwas und blieb sitzen. Anscheinend schaute ich verdutzt drein, denn das Mädchen fühlte sich verpflichtet, mir den Satz zu übersetzen:
– Sie sagt, dass sie am nächsten Bahnhof aussteigt. Der Zug bremste lauter als zuvor. Ich reichte ihr den Koffer aus dem Gepäcknetz herunter. Sie verabschiedete sich mit einem Kuss auf meine Wange und fügte ein paar Worte hinzu.
– Sie sagt – übersetzte das Mädchen – dass sie es sehr bedauert, Sie nicht unter günstigeren Umständen kennengelernt zu haben.
– Sagen Sie ihr, dass es mir genauso geht – improvisierte ich.
Sie übersetzte es. Die Dame meiner Träume lächelte und verschwand im Gang.
Ich setzte mich, doch nur für ein paar Sekunden, denn dann entschied ich, die Welt sei nicht für Feiglinge gemacht: griff nach meiner Reisetasche und dem Tornister und wandte mich zur Tür. Die Zwanzigjährige, der man ansah, dass sie meinen Entschluss nicht verstand, schaute mich verdutzt an. Auf dem Bahnsteig fühlte ich mich verloren: Die Frau war nicht zu sehen, und auch sonst war niemand da. Ich betrat das Bahnhofsgebäude: Das war ebenfalls leer. Ich verließ es durch den Hinterausgang: Dort war ein menschenleerer Platz voller Neonreklamen. Zehn Meter vor dem Bahnhofsportal stand meine Ex-Sitznachbarin, die Dame mit der lachsfarbenen Haut, und umarmte einen Mann, küsste einen Buben und stieg dann in einen Volkswagen ein. Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte zurück: Jetzt fehlte nur noch, dass ich den Zug verpasste! Ich sprang auf den anfahrenden Zug auf und kehrte ins Abteil zurück. Das Mädchen schaute mich an. Ich hob den Tornister auf die Gepäckablage, setzte mich hin, atmete tief durch und holte wieder den Reiseführer heraus. Das Mädchen hob ihre Füße auf den Sitz, schlang ihre Arme um die Beine und schaute mich lachend an, was ich in einem Sinn verstand, der sich anschließend als falsch herausstellte. Sie sagte:
– Es tut mir leid, dass ich Ihren Flirt vermasselt habe, aber ich musste mich im Klo verstecken, weil ich keine Fahrkarte habe.
Und da saß sie, mit vollendet übereinandergeschlagenen Beinen: parallel, vollkommen, wunderschön.
Nach Mitternacht verriet sie sich durch Zufall: Als sie die Zigaretten aus ihrem Rucksack holte, fiel ihre Fahrkarte auf den Boden. Ich tat, als schaute ich aus dem Fenster.