Kitabı oku: «Hundert Geschichten», sayfa 7
Kakophonie
Schon immer hatte A eine unbändige Lust, die Carrer Balmes in die entgegengesetzte, in die verbotene Richtung zu fahren; entweder irrtümlich (nach einer durchzechten Nacht, wenn alles schon geschlossen war) oder ganz bewusst (als Mittel gegen den Alltagstrott). Er stellte sich die wachsende Flut der sich stauenden Autos vor, kunterbunte Farben in den empört kochenden Mündern: verschrockene Lichter, die ihm rechts oder links ausweichen und folglich ineinanderfahren: die größte Katastrophe in der Geschichte: ein konzentrisches Chaos, das sich von Straße zu Straße ausdehnt, von Stadtteil zu Stadtteil, von Stadt zu Stadt und sich von einem Kontinent zum anderen, zum Meer hin öffnet . . .
So wie gerade jetzt: Jetzt verspürte er diese Lust auch wieder. Stattdessen (und er schnalzte mit der Zunge gegen den Gaumen, um einen grünen, galligen Geschmack loszuwerden) fuhr er die Balmes hinunter, streng orthodox: in Richtung Meer; die Rotonda lag gerade hinter ihm. Am Fuße des Berges hatte er unter Palmen auf Liegestühlen aus Naturleinen Gimlets getrunken, genau dort, wo die letzte Straßenbahn des Planeten wendet und ein zerstreuter Pianist in seinen letzten Zügen an einem glänzenden Klavier immer wieder holperig Three Little Words spielt.
Auf der Höhe des Bahnhofes El Putxet musste er bremsen: eine blöde Ampel. Er stellte das Radio an. Drehte am Knopf. Er stieß auf Benny Goodman, das stimmte ihn optimistisch. Er drehte die Musik lauter. Die Ampel wurde grün, und er dachte an Anilin. Beim Überqueren der Mitre wechselte er die Spur. Gab Gas, wie auf trockenem Laub. Gegenüber dem Buchladen-Café Crystal City hielt er und parkte auf dem Gehweg. Er betrat das Café. Am Tresen blätterte eine junge Frau in Zeitschriften. Nur ein Tisch war besetzt. Er bestellte einen Kaffee und stöberte in den Regalen: Es war alles da: von den Abhandlungen zur Geographie des Baskenlandes bis hin zu den Geheimnissen des staubigen Ägyptens. Er blätterte in The Last Tycoon und trank in kleinen Schlucken seinen Kaffee. Dann zahlte er Buch und Kaffee und trat auf die Straße hinaus. Es war rot, als er die Via Augusta überquerte.
Er fühlte sich sehr allein. Überlegte, ob er noch schnell etwas essen sollte und schaute auf die Uhr: noch eine halbe Stunde bis zu seiner Verabredung mit B. Er zündete sich eine Zigarette an und stellte sich vor, drei auf einmal zu rauchen. Er zündete sich noch zwei an und rauchte alle drei auf einmal. Er stellte sich seinen Anblick von einem anderen Auto aus vor. Grinste. Er fühlte sich wohl. Er dachte, auf der Welt gäbe es nichts Besseres als alles andere; er dachte an in sich zusammenstürzende Straßenlaternen. Es war kalt.
Kurz vor der Travessera fragte er sich, ob er links abbiegen und sich in Gràcia verlieren sollte. Doch konnte er sich bis zur Granada nicht entscheiden, dann war es zu spät, und er haderte erneut mit sich: Sollte er in der Tuset parken und eingesunken in weißem Skai ein Omelett essen? An der Diagonal wartete er vor der Ampel und zweifelte daran, jemals wieder diese Straße zu verlassen.
Er fuhr sofort an, als das Grün der Fußgängerampel zu blinken anfing. Ein verspätetes Auto in Richtung Macià wich ihm hupend aus, schrie ihn an und bohrte sich in einen Papierkorb. A gab Gas, ließ Straßen und farblose Ampeln hinter sich. Fuhr dreist bei Rot über die Gran Via (und verursachte damit zwei Zusammenstöße, Verletzte, Sirenengeheul und eine Sternschnuppe, das aber war Minuten später). Die Konditorei Forn del Cigne war zu. Er fragte sich, ob wohl zu dieser Stunde drinnen Kuchen gebacken wurde. Er überlegte kurz, ob er mit dem Auto gegen die Tür donnern, durch das Loch bis in den hinteren Raum fahren, den Bäckern einen Guten Abend wünschen und sich das Mehl von den Ärmeln klopfend durch einen Notausgang wieder hinausfahren sollte. Seine Zweifel bezüglich des Verlassens der Straße erwiesen sich als Irrtum: Er überfuhr die durchgezogene Linie und bog in die Rambla ein. Er parkte vor dem Eingang des Baviera. Setzte sich dort an ein Tischchen auf dem Gehweg. Wenig Fußgänger. Er gähnte.
B kam zu spät, in engen blauen Hosen und weißem Pulli. A stellte sich ihren Hintern vor. Er schaute auf die Uhr.
– Nicht gerade pünktlich.
– Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie es mit dem Verkehr aussieht. Ich bin mit dem Taxi gekommen; wir mussten uns über die Parallel quälen, und Massen von Leuten strömten aus den Theatern, die Polizei machte in der Carrer Nou eine Razzia. Die haben eine Meise: Sie haben das Marseille und das London dicht gemacht. Wir durften nicht über die Rambla fahren. Ich musste von der Kathedrale bis hierher laufen.
A fiel ein, dass er seit mindestens zehn Jahren keinen Fuß in das London gesetzt hatte. Er erinnerte sich an eine Nacht mit einem Freund: an das Enfants Terribles, das Polizeirevier, die Bäckerei mit den Schneckennudeln, die ganz frühmorgens aufmachte. Er dachte darüber nach, wie die Zeit vergeht. B fuhr fort:
– . . . so als wollten sie sich Gehorsam verschaffen. Stell dir vor: in unserem Alter, jetzt, wo jeder von uns selbst der kleine Chef einer kleinen Wahrheit ist. Mach nicht diese blöde Visage. Merkst du nicht, dass sich alle für den Nabel der Welt halten? Neulich hat mir Tèbia erzählt . . .
A hatte Durst. Er winkte einem Kellner, der so tat, als würde er ihn nicht sehen. B redete wie ein Wasserfall:
– . . . und Riba hat Geld (und Geld ist für ihn das Allerwichtigste auf der Welt: das einzig Wichtige), und Joan vögelt jede Nacht mit einer anderen (denn für ihn gibt es nichts Wichtigeres als jede Nacht eine andere im Bett, und nach seiner Meinung ist jeder, der seine Zeit mit anderen Dingen vergeudet, etwas beschränkt), und Marcel isst viel (und kann nicht verstehen, wie jemand länger ohne gut gedeckte Tafel auskommen kann) und . . .
A stellte sich vor, wie ein Blitz die Rambla hinunterzurasen und sich ins Wasser zu stürzen. Der Kellner bediente drei Tische weiter.
– . . . liest unheimlich viel, und Manel ist derjenige, der in unserer Clique am meisten Amphetamine nimmt (am meisten; also: die Nummer eins), und Marta ist blöd (die Blödste im ganzen Haus: die Nummer eins), und Pere und Núria lieben sich innig (weil sie viele Filme mit Doris Day gesehen haben und, was feste Beziehungen angeht, brechen sie eindeutig den Rekord in unserem Viertel), und Xavier ist introvertiert (vielleicht der einsamste Introvertierte im Land) und Maria die Extrovertierteste . . .
A senkte den Kopf. Er stellte sich vor, wie das Auto dem Bordstein des Kolumbusdenkmals ausweichend auf die Treppen zuraste, wie B kreischte, das Auto, außer Kontrolle, sich überschlug, umkippte und sanft in das schmierige, öltrübe Hafenwasser fiel.
– . . . und Eugeni ist derjenige, der in der ganzen Gegend am meisten vor dem Fernseher hockt (der absolute Regionalrekord), und Herr Pere arbeitet viel (mehr als alle anderen in der Werkstatt), und Octavi säuft wie ein Loch (und ist ungemein stolz darauf, der größte Säufer in seiner Familie zu sein), und Tomàs ist ein Filmfanatiker und Manolo gehört zur Avantgarde der Arbeiterklasse und Ignàsia ist Possibilitistin und Eulàlia radikal und Artur schwul und Herr Jaume glücklich und heterosexuell und Andreu Dichter und Fina eine Frostbeule. Alles geht gut, weil jeder sich selbst ist: Jeder hat sein eigenes Verhaltensmuster: Jeder nach seiner Fasson.
In dem Augenblick, in dem B kurz schwieg, holte A schnell Luft:
– Wir könnten irgendwohin gehen, wo man uns bedient. Sie standen auf, als der Kellner sich endlich entschlossen hatte, ihren Tisch zu beachten. Er schaute sie empört an und schimpfte vor sich hin. Sie stiegen ins Auto. Sie fuhren um den Platz herum und bogen in die Ronda Universitat ein. Ecke Balmes bremste A. Nach den Straßenlaternen stürzten jetzt auch noch die Gebäude ein.
Er bog rechts ab, fuhr also die Balmes hoch, das Gekreisch von B, ihr Gekicher und ihre Warnschreie vermengten sich mit den Beschimpfungen der wenigen, aber umso streitlustigeren Passanten auf der Straße. A fiel auf, dass es keine Ampeln gab, wenn man eine Straße in die Gegenrichtung fuhr. Nach der Gran Via kam ihnen das erste Auto entgegen; die drinnen schauten sie ziemlich verdutzt an. Bis zur Diagonal waren es sieben weitere (und keinem der sieben fiel es schwer, die Spur zu wechseln). Ab der Via Augusta war es wieder legal, die Balmes hochzufahren, und die Ampeln zeigten sich wieder von vorne. Sie fuhren die Avinguda del Tibidabo hoch, und als sie oben ankamen, wo die Straßenbahn endet, waren die Bars schon geschlossen. A dachte, es sei Betrug, die Balmes mitten in der Nacht hochzufahren, wenn kaum Autos auf der Straße waren. Sie parkten und schauten, an ein Geländer gelehnt, das über dem Nichts hing, auf die Stadt, die sich zum grenzenlosen Meer hin ausdehnte (und zugleich zusammenzog). Drei Stunden später ging langsam die Sonne auf.
Globus
Die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte er beim Zirkus, zog von einem Ort zum anderen und hatte in all den Jahren keine Stadt zweimal betreten. War jemals ein anderer Zirkus so maßlos herumgeirrt ? Als Akrobatenkind war sein Leben eine Folge von neuen Landschaften, und alle paar Wochen freundete er sich mit neuen Zwergen und Clowns, Dompteuren und Löwen, Ponys, Trapezkünstlern, Seiltänzern, Kanonenmännern und Elefanten an. Er kannte drei Buffalo Bills und zwei Indianerinnen, die sich ihre Körperumrisse mit Messern markieren ließen. Mit vierzehn verliebte er sich in ein Mädchen, das an drei Abenden hintereinander auf dem selben Platz in der zweiten Reihe saß. Am dritten Abend (er assistierte der Dame mit den dressierten Schoßhündchen) zwinkerte das Mädchen ihm zu, und er wurde rot. Er wusste nicht, wie reagieren, und als ihm schließlich etwas einfiel, war es zu spät: Er befand sich wieder auf der Landstraße in einer Karawane von Zirkuswagen auf dem Weg in die nächste Stadt.
Mit dem Zirkus war Schluss, als er zwanzig wurde. Als Grund gab man die alte Geschichte an: Die Konkurrenz von Film und Fernsehen habe dem Zirkus den Todesstoß versetzt. Wer konnte, wechselte in einen anderen Zirkus, aber es gab nicht genug Stellen für alle. Jung wie er war, hätte er Arbeit gefunden (und es nicht nur seinen Erzeugern, sondern den besten Akrobaten der Welt nachtun können), doch er entschied sich anders, er wollte wissen, ob an der berühmten Sesshaftigkeit irgendetwas interessant war.
Er wurde Beamter bei einer Eisenbahngesellschaft. Er verließ in zwanzig Jahren nicht ein Mal die auserwählte Stadt. Jeden Tag legte er Fahrpläne fest, prüfte und korrigierte sie, ohne dass beim Lesen der Orte auf den Fahrkarten nur ein Funken Sehnsucht aufgekommen wäre. Er, der vor seinem zwanzigsten Lebensjahr den halben Planeten bereist hatte, verbrachte nun weitere zwanzig Jahre eingesperrt zwischen einem ruhigen Heim und einem Eisenbahnerbüro und nahm Tag für Tag den selben Weg. An den ersten Abenden, an denen er gelangweilt daheim saß, erinnerte er sich noch an die Orte aus einer Vergangenheit, die sich jeden Tag weiter entfernte. Er glaubte, nur sesshaft könne er Geschmack an der Sesshaftigkeit finden: Vielleicht brauchte er einfach Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Doch bald verlor er nicht nur die Fähigkeit, sich gegen den Alltagstrott zu wehren, der ihn allmählich auffraß, sondern war auch (was viel schlimmer war) am Tage nicht mehr in der Lage, die Erinnerungen wachzurufen. Stattdessen träumte er nun mit einer meisterlichen Präzision jede Nacht ein paralleles Leben, das nichts anderes war als die Wiederholung seines bisherigen Lebens mit zwanzig Jahren Verspätung. So kam es (er träumte ja in jeder Nacht den Tag von vor zwanzig Jahren), dass er an seinem vierzigsten Geburtstag träumte, wie der Zirkus dichtmachte und er beschloss, sesshaft zu werden. Der Albtraum weckte ihn, er war schweißgebadet, hastig atmend starrte er mit weit aufgerissenen Augen an die Decke, als würde sie ihm gleich auf den Kopf fallen. Erwacht aus einem Traum, der zwei Jahrzehnte gedauert hatte, packte er die Koffer. Am Bahnhof nahm er den ersten Zug.
Er reiste von Land zu Land. Gleich zu Beginn hatte er beschlossen, die verlorene Zeit aufzuholen: Er vermied alle Orte, in denen er bereits in seiner Jugend gewesen war, und betrat keine Stadt zweimal. Zehn Jahre später, mit einem halben Jahrhundert Leben hinter sich, hatte er die Hälfte der Hälfte der Welt gesehen, die er in seiner Kindheit und Jugend nicht bereist hatte. Jedes Mal, wenn er einer Stadt Lebewohl sagte, wusste er, es war für immer. Jeder erste Blick auf eine Landschaft war zugleich der letzte.
Nach weiteren zehn Jahren hatte er den ganzen Planeten gesehen. Es war ihm unmöglich, ein Stück Erde zu betreten, wo er nicht schon einmal gewesen war. Schon Jahre zuvor war ihm aufgefallen, dass er, je mehr er reiste, desto weniger träumte. Nun, wo er die ganze Welt gesehen hatte, träumte er fast gar nicht mehr. Sogar das Erinnern fiel ihm schwer. Er durchforstete sein Gedächtnis: In welcher Stadt hatte er zum ersten Mal ein Mädchen, seine seiltanzende Cousine, geküsst? War der Kuss in Berlin oder Danzig gewesen? Ihm kamen Zweifel, ob er sich wirklich alles eingehend angesehen hatte. Wenn ja, gäbe es keine Entschuldigung für eine derart große Ungewissheit. Es fiel ihm ganz offensichtlich schwer, sich an Landschaften und Bauten zu erinnern: Einige Plätze verflüchtigten sich, und der Lauf der Flüsse überraschte ihn immer aufs Neue. Er fragte sich, was es ihm letztendlich gebracht hatte, die ganze Welt zu bereisen, wenn er sich nun nicht mehr erinnern konnte.
Seine Unruhe riss ihn in einen Strudel. Jetzt, er wartete gerade auf den Zug nach Parma (die erste Stadt in seinem gigantischen Inventar: die, an die er sich am wenigsten erinnerte, weil es seine Geburtsstadt war), merkte er, dass er sich kaum noch an das Bild seiner Mutter erinnern konnte, das einem Spiegelbild im Wasser glich und sich auflöste, wenn die Wasseroberfläche in Bewegung geriet. Er saß auf der Holzbank und betrachtete die Gräser zwischen den Gleisen. Er sah hin, aber plötzlich verstand er sie nicht mehr: Er hatte ihren Namen vergessen und (wie die Seiten, die der Wind aus einem schlecht gebundenen Buch reißt) flohen aus dem Archiv seines Gedächtnisses alle vorigen Gräser. Er fragte sich, was all diese Reihen von kleinen grünen Trieben sein könnten. Er fürchtete, den Kopf zu verlieren. Er schaute hoch: Auf der Mauer vor ihm auf der anderen Seite der Gleise lachte ihn ein riesiges, zerrissenes Zirkusplakat an. Er dachte, es wäre schön hinzugehen, nach so langer Zeit, die er unter keinem Zelt gestanden hatte. Doch als er noch einmal auf das Plakat schaute, um nach dem Datum zu gucken und dem Ort, wo das Zelt aufgeschlagen war, fragte er sich, was dieses weiß bemalte Gesicht sollte mit einem Kreuz in einem Auge und einem senkrechten Strich in dem anderen, mit einem Hut wie eine leuchtende Papiertüte, einer runden Knubbelnase und Lippen, die zweimal lachten.
Der Bahnsteig war verlassen. Er rutschte mit dem Körper hinunter, bis sein Nacken auf der Lehne der Bank lag. Er machte die Augen zu und gähnte. Schaute nach rechts und nach links und klagte: »Wenn ich nicht einmal die Stadt kenne, in der ich geboren bin . . .« Er hörte eine Tür aufgehen: Eine Frau steckte den Kopf durch den Spalt, schaute nach rechts und nach links und verschwand wieder. Als er gleich darauf die Tür zuschlagen hörte, war er nicht in der Lage, sich zu erinnern, ob diese Tür vorher geöffnet worden war, und auch nicht, wer eingetreten war oder ob überhaupt jemand eingetreten war oder es jemals eine Tür gegeben hatte.
Er hatte gerade noch Zeit, sich zu fragen, was ihm zustieß. Er erinnerte sich an einen grauen Teich unter einem weißen Himmel vor einem feuchten Wald (und das Bild war so lebendig in seinem Gehirn, dass es vielleicht doch Wirklichkeit war, was er da sah). Gleich darauf (und nun war es offensichtlich, dass er die Bilder nicht mehr beherrschen konnte, die losschossen wie Luftballons, wenn sie Luft verlieren) war da ein spartanisches Hotel, das nach Staub schmeckte, mit weißen Wänden und kubistischen Holzmöbeln. Dann verschwanden alle Bilder vollständig: Er erinnerte sich an nichts mehr: Alles war nur noch ein schwarzes Rechteck: Er vergaß den Namen der Stadt, in die er fuhr, schaute entgeistert auf den Bahnhof und wusste weder, wo er sich befand, noch, was diese parallelen Linien aus Eisen waren, die sich am Horizont verloren. Als der Zug eintraf, konnte er ihn nicht mehr erkennen. Er erschien ihm weder als Maschine noch als Monster, weil beides seine Bedeutung verloren hatte. Da er ebenfalls vergessen hatte, was Angst war, floh er nicht.
Der Norden des Südens
N nahm immer zwei Stufen auf einmal, nervös und völlig fertig versuchte er, sein Herzklopfen zu verbergen. Auf dem letzten Treppenstück, bei dem Versuch, sich zu beruhigen, merkte er, dass das einzige Detail, was ihn rein äußerlich verdächtig machte, seine beschleunigte Atmung war. Er atmete mehrmals ein und aus und öffnete ängstlich die Tür. Er hörte in das Schweigen, um zu sehen, ob er daraus etwas ableiten konnte. Er wusste, alles war kurz davor zusammenzubrechen, sich in einen Berg von Schutt zu verwandeln, und es gab keine Möglichkeit, das zu verhindern. Doch nun war nicht die Zeit zu klagen und zu reden über das, was man hätte tun müssen (und was man nicht getan hatte, weil man im entscheidenden Moment alles runterschluckte und weitermachte wie bisher). Schließlich leben wir nur ein oder zwei Mal, und Risse in Decke und Fußboden und der Einsturz aller Fundamente, auf die er seit Jahren seine Existenz gründete, war das Mindeste, was man von einer Situation wie dieser erwarten konnte, einer Sackgasse, die ihn für immer zu verschlingen drohte und ihn in dem Schlund einer endlosen Spirale verschwinden ließ. Er setzte sich. Ließ seinen Kopf nach hinten fallen.
Er stellte sich die Wut von S vor, die ihn mit blank liegenden Nerven und offenem Mund anstarren würde, als erkenne sie ihn nicht und als sähe sie dieses Reptil zum ersten Mal, das diskret vor ihr hüstelte und ihrem Blick auswich, der sich in seine Haut einbrannte. Er konnte sich keine andere Reaktion vorstellen: Ab diesem Moment schossen die Möglichkeiten unkontrolliert durcheinander. N wusste, von nun an gehörten die geteilten Bonbons für immer der Vergangenheit an, die Marmelade am Sonntagmorgen, der Abendspaziergang, die Küsschen im Fahrstuhl, das Lachen auf der Pferderennbahn, die einmal unter dem Hut und einmal unter der Serviette versteckten Kinokarten. Stattdessen begannen nun die frostigen Morgen, die Schweizer Wecker, die deprimierenden Nachmittage als Löwe, eingesperrt in einem zu großen Käfig, als Mönch in einer Zelle, als ausgestopfter Vogel, der Motten und Staub fängt.
Natürlich würde es irgendwann wieder tauen und der Raureif zu Wasser schmelzen, dann kämen die Fußballspiele am Donnerstag, die Spielhallen am Samstag, die Bierdosen unterm Bett, die Füße auf dem Tisch, das Sektfrühstück vor dem Schlafengehen. Und nicht nur das: Die Besuche von verrunzelten Verwandten und besserwisserischen Freunden, die bei Pflichtabendessen Asche auf dem Parkett fallen ließen, würden endgültig vorbei sein. Keine Strümpfe mehr auf dem Sofa, keine Ratschläge mehr im falschen Ton, keine Haare mehr im Waschbecken und keine unangebrachten Ansprüche mehr. N lief eine Weile in der Wohnung auf und ab. Dann war ihm schwindelig, und er glaubte, gleichzeitig essen und sich übergeben zu müssen. Er wusch sich, räumte Bücher weg und vertrieb sich die Zeit, indem er den Plattenspieler mal schneller und mal langsamer laufen ließ.
Dann hörte er die Schritte von S: Sie stieg schnell die Treppe hoch, steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür. Wie ein Kind, das seine Augen zukneift, um nicht gesehen zu werden, sah er weg und hörte nur, wie sie Mantel und Hut auf einen Stuhl warf und »Hallo« sagte. Ihr Blick, viel zaghafter, als er es sich vorgestellt hatte, konnte ihm nichts anhaben. Beunruhigt schaute N auf und nahm es mit ihrem Blick auf: S war völlig fertig und versuchte, das heftige Herzklopfen zu verbergen. N war verwirrt: Er hatte alle Fallstricke gewittert, in denen er sich hätte verheddern können, diese unerwartete Ruhe aber hatte er nicht vorausgesehen. Ganz offensichtlich würde keiner der beiden den Mund aufmachen, da beide gleich durcheinander waren. N erkannte messerscharf, die Pokerrunden waren vorbei, ehe sie überhaupt begonnen hatten, es würde keine Füße auf dem Tisch geben, keinen Fußball am Donnerstag, keine Bierdosen unterm Bett, kein Sektfrühstück vor dem Schlafengehen. Natürlich aber wieder geteilte Bonbons, Marmelade am Sonntagmorgen, zwei unter dem Hut versteckte Eintrittskarten. Doch auch die Haare im Waschbecken, die Strümpfe auf dem Sofa, die Ratschläge im falschen Ton, die Besuche von verrunzelten Verwandten, die besserwisserischen Freunde, die bei Pflichtabendessen Asche auf dem Parkett fallen ließen, die unangebrachten Ansprüche, die Hand, die so oft das Messer packte. Er stand auf (und es war ihm klar, alles, worüber er nachgedacht hatte, war auch ihr durch den Kopf gegangen), sie drückten die Wangen aneinander, sagten noch einmal »Hallo« und küssten sich in einer unbändigen, wütenden Umarmung.