Kitabı oku: «Homo sapiens movere ~ gezähmt», sayfa 3

Yazı tipi:

Rosalies Wagnis

„Erklären Sie mir, warum sie nach Weller-Opt gesucht haben, Frau Sommer. Ich bin wirklich neugierig.“ Eigentlich hatte ich vermutet, dass mein Chef mir die Leviten lesen würde, aber vor mir saß Huber, der Leiter der Sicherheitsabteilung. Ein Respekt einflößender Mann, dem ich nicht allein im Dunkeln begegnen wollte. Etwas in mir schrie mir zu, ihm alles zu sagen – nur nicht die ganze Wahrheit. Meine Hände sittsam auf dem Schoß gefaltet, arbeitete mein Gehirn auf Hochtouren.

Ich brauchte eine plausible Antwort. Und zwar schnell!

„Ich… also, ich war neugierig. Am Freitag hab ich beim Einkaufen den Namen aufgeschnappt. Ich war mir sicher, ihn schon mal gehört zu haben. Oder gelesen. Und da dachte ich…“ Der Sicherheitschef trommelte ungehalten mit den Fingern auf die Schreibtischkante. „Da dachten sie was, Frau Sommer?“ Schluckend wich ich seinem Blick aus. „Ich dachte, ich schaue mal nach. Es hat mich gewurmt, dass es mir nicht eingefallen ist. Woher sollte ich denn wissen, dass ich keinen Zugriff auf die Akte habe oder dass der Mann ein Verbrecher ist.“ Der Kerl vor mir ließ sich nicht anmerken, ob ihm meine Antwort genügte, aber er hakte weiter nach. „Wie kommen Sie darauf, dass er ein Verbrecher ist?“ Ha, als ob ich das ernsthaft glaubte! „Wäre sonst seine Akte für mich gesperrt? Ich habe sämtliche Akteneinsichten, außer bei Dingen, die die nationale Sicherheit betreffen. Etwa bei Terroristen oder Leuten, die durch auffälliges Verhalten von der Behörde für innere Sicherheit ins Auge gefasst wurden.“

Huber drückte einen Knopf der Gegensprechanlage und instruierte seinen Gesprächspartner, den Scanner herein zu bringen. „Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich den Wahrheitsgehalt ihrer Aussage überprüfe?“ Vorsichtig den Kopf schüttelnd, erklärte ich mich einverstanden. Etwas Gegenteiliges hätte mir vermutlich nur noch mehr Schwierigkeiten gebracht. „Natürlich nicht. Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt.“

Hatte ich wirklich. Nur dass ich die Dinge so formuliert hatte, dass sie zwar alles sagten, aber ich die Hälfte verschweigen konnte. Niemand musste von Alisa erfahren. Das war es vermutlich, was mein Instinkt mir vorhin zugeschrien hatte. War Alisas Leben in Gefahr?

Warum war die Weller-Opt Akte gesperrt?

War er gefährlich?

Was hatte er mit Alisa zu tun?

Hatte er überhaupt etwas mit ihr zu tun oder war der gleiche Familienname nur ein Zufall?

Trebhold, einer von Huberts Untergebenen kam kurz darauf mit dem Scanner herein. Einem kleinen, viereckigen Kasten, der kaum größer als ein Zehn-Euro-Schein war. „Sind Sie nervös?“ Und ob ich das war! „Ja, ich war bisher nie in einer solchen Situation.“ Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, und meine Stimme war kurz davor, den Geist aufzugeben. „Das ist normal. Der Scanner berücksichtigt das. Nehmen Sie ihn in die Hand und beantworten Sie meine Fragen lediglich mit Ja oder Nein. Verstanden?“ Ich nickte und schloss meine Finger fest um das viereckige Stück Metall, das mich vernichten könnte. Wenn ich nicht derart fest in meinen Gedanken wäre, um dieses kleine Ding zu überlisten. „Ist ihr Name Rosalie Sommer?“ Ah, die Einführungsfragen. „Ja.“

„Sie sind 34 Jahre alt. Ist das korrekt?“

„Ja.“

„Lügen Sie jetzt, bitte. Sind Sie verheiratet?“

„Ja.“ Ein lautes Piepen hätte mich das Ding fast fallenlassen. Huber lächelte zuvorkommend, während er mir versicherte, dass ich den Scanner nicht derart fest halten müsse. Das sagte sich so leicht! Trotzdem lockerte ich meine Finger ein wenig. „Gut. Dann können wir anfangen. Sie haben nach der Akte von Weller-Opt gesucht, weil Ihnen der Name zu Ohren gekommen ist?“

„Ja.“

„Waren Sie wirklich nur neugierig?“

„Ja.“

„Ist es korrekt, dass Sie Einsicht in sämtliche Akten haben, sofern diese nicht der inneren Sicherheit unterliegen?“

„Ja.“

„Kennen Sie jemanden mit dem Namen Weller-Opt?“ Mein Gehirn ordnete die Option derart schnell, dass ich sofort mit einem Nein antworten konnte. Ich war Alisa nur einmal begegnet. Ich kannte sie also nicht wirklich. „Hatten Sie ein persönliches Interesse die Akte zu suchen?“

„Ja.“

„Weil es sie gewurmt hat, wie Sie sagten?“

„Ja.“

„Hat Sie jemand damit beauftragt, nach Weller-Opts Unterlagen zu suchen?“

„Nein.“

„Hatten Sie die Absicht, den Inhalt der Akte an eine andere Person weiterzugeben?“

„Nein.“

„Waren Sie sich darüber bewusst, dass dieses Vorgehen Konsequenzen nach sich ziehen würde?“ Was? Woher denn? Als ob ich nach dem Namen gesucht hätte, wenn ich vorher gewusst hätte, dass dessen Akte gesperrt war! „Nein.“ Huber nickte zufrieden. „Sie sehen ein bisschen blass aus. Geht es Ihnen gut?“ Ich hauchte ein leises Ja, was den Scanner sofort laut und schrill lospiepen ließ. Vor Schreck blieb mir fast das Herz stehen; ich umklammerte den Kasten noch fester. Huber klaubte ihn mir aus meinen tauben Fingern, die leicht zitterten. „Alles in Ordnung, Frau Sommer. Es wird für Sie zwar Konsequenzen nach sich ziehen, doch so schlimm wird es nicht sein. Ich verdächtigte Frauen ungern, aber ich tue nur meinen Job. Sie haben nichts zu befürchten. Holen Sie sich draußen einen Kaffee, trinken Sie ihn und gehen Sie dann zu Herrn Oberer. Keine Panik, er wird Ihnen schon nicht den Kopf abreißen.“ Da war ich mir nicht so sicher. Lieber würde ich mich vor ein Rudel Wölfe werfen, als meinem Chef gegenüber zu treten. Aber Huber hatte Recht. Ich konnte unmöglich hier sitzen bleiben und den Kopf in den Sand stecken.

Wie schlimm sollte es schon werden?

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Zwei Wochen später war ich nicht nur deprimiert, sondern kurz davor während meiner Arbeit vor Langeweile zu sterben. Meine Befürchtungen waren umsonst gewesen. Mein Chef hatte weder gebrüllt noch geknurrt noch sonst etwas getan. Er hatte mich lediglich indigniert angesehen, als wäre ich es nicht mal wert, dieselbe Luft zu atmen wie er. Ein einziger Satz war aus seinem Mund gekommen, der kälter hatte gar nicht sein können. „Ich bin von Ihnen enttäuscht, Frau Sommer.“

Schön, ich war nicht gekündigt worden.

Allerdings hatte ich auch nicht damit gerechnet, in eine andere Abteilung versetzt zu werden, in der ich mich mehr oder weniger auf das Abstellgleis geschoben fühlte. Auch dieses Büro war eine farbliche Augenweide. Grau, grau und grau. In verschiedenen Nuancen. Sogar der Schreibtisch und die Jalousien waren grau. Die Auslegeware war es sicher früher einmal gewesen, jetzt war sie einfach nur noch fleckig und starrte vor Dreck. Mein Job war nun noch trister als zuvor und in etwa so aufregend wie Fusseln anzustarren. Mein Zugang auf dem Laptop war derart eingeschränkt, dass ich weder spielen noch ins Internet gehen konnte. Einzig und allein das Programm zum Ausdrucken von Geburts- und Sterbeurkunden war verfügbar. Sämtliche Daten, die ich einzugeben hatte, wurden mir per Rohrpost übermittelt und ebenso leitete ich sie weiter. So wurde sichergestellt, dass ich keinerlei Kontakt zu irgendjemandem pflegen konnte.

Höchstens zum persönlichen Hausgeist der Stadtverwaltung

Falls es diesen gab, vermied er dieses triste Büro wie die Pest. Hier gab es noch nicht mal ein Telefon! Außerdem befand es sich im fünften Untergeschoss, so dass selbst mein Handy keinen Empfang hatte. Würde draußen die Welt untergehen, würde ich das erst nach Feierabend bemerken.

Obwohl ich erst zwei Wochen hier arbeitete, spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken zu kündigen. Früh aufzustehen fiel mir immer schwerer, weil mich absolut keine Herausforderung erwartete. Ebenso gut konnte ich in die Produktion gehen und mich an ein Fließband stellen. Oder daheim bleiben, was mir wesentlich verlockender erschien, wenn ich in zwei Wochen meine Traumwohnung bezöge. Ha, die ich mir nicht mehr leisten könnte, wenn ich kündigte.

Gelangweilt blätterte ich durch das Magazin, das ich mir heute Morgen am Kiosk gekauft und schon komplett durchgelesen hatte. Allmählich wurde das zu einer Gewohnheit. Aber was sollte ich sonst tun, um die Zeit tot zu schlagen? Der Grund meiner Versetzung wurmte mich nach wie vor. Doch bisher war mir keine vernünftige Erklärung eingefallen. Die Akte von Weller-Opt war gesperrt. Welche Daten auch immer darin standen, ich hatte sie nicht in Erfahrung bringen können. Also hing meine Versetzung nicht mit dem – vermutlich brisanten – Inhalt der Unterlagen zusammen. Lag es einzig und allein daran, dass ich eine Akte gesucht hatte, ohne zu ahnen, dass mir der Zugriff verweigert werden würde? Freilich könnte ich mich mit Alisa kurzschließen. Aber ich hatte Angst, dass ich bei einer weiteren Befragung nicht mehr flunkern könnte, was die Bekanntschaft mit Alisa betraf. Deren Versicherung hatte sich übrigens schon bei mir gemeldet.

Immerhin etwas.

Doch es war besser, alles weitere nur schriftlich zu klären, ohne mit Alisa oder Briony Kontakt aufzunehmen. Trotzdem! Was war an Weller-Opt dran, dass schon allein die Suche nach seiner Akte mich in eine derartige Lage gebracht hatte? Nun, hier unten war ich ganz allein. Niemand kam vorbei oder beobachtete mich. Es war so still, dass ich – abgesehen von dem leisen Rascheln, wenn ich eine Seite umblätterte – nur meine eigenen Atemzüge hörte. Draußen auf dem leeren Gang war das nicht anders. Und ein weiteres Büro gab es hier unten nicht. Selbst um zur Toilette zu gehen, musste ich erst drei Etagen nach oben fahren.

Was es hier unten allerdings gab, war das Archiv.

Zwar noch eine Etage tiefer und sich über mehrere Etagen erstreckend, doch offiziell hatte ich dort nichts mehr zu suchen. Im Archiv befanden sich sämtliche Unterlagen, die sich nach den Revolutionen und teilweise auch schon davor angehäuft hatten. Für den Fall, dass die Technik einmal versagte.

Wenn Weller-Opt schon in unserem System auftauchte, hieß das, dass ich im Archiv Unterlagen über ihn finden müsste. Selbst wenn er woanders gelebt hatte, was jedoch nur zuträfe, wenn er ein movere war. Nur aus diesem Grund, weil jeder movere verzeichnet wurde, egal wo in Deutschland er lebte, war das Archiv so verdammt riesig. Und zwar nicht nur in dieser Stadt. Die Akten enthielten nämlich höchstens ein oder zwei Seiten. Hauptsächlich Adressen, Fähigkeit, Namen, Geburtsdatum, eventuell das Sterbedatum, Familienstand und Nachkommen beziehungsweise angenommene Kinder. Aber es gab viele movere. Und alle mussten ihre Fähigkeiten offenbaren, was ich nicht unbedingt für richtig hielt.

In meinen Augen waren movere nicht zwingend gefährlicher oder krimineller als ein normaler Mensch. Dabei fiel mir ein, dass ich Alisas Namen nicht angezeigt bekommen hatte, als ich nach Weller-Opt suchte. Sie war demzufolge ein gewöhnlicher Mensch und hatte ihren Wohnsitz nicht in unserer Stadt oder war zumindest noch nicht gemeldet. Ansonsten wäre sie vermutlich schon längst von jemandem befragt worden. So wie auch ich befragt worden war.

Immerhin könnte es einen Zusammenhang zwischen ihr und dem mysteriösen Mann geben, auch wenn ich es selbst nicht so recht glaubte. Die Frage war nur, wie kam ich ins Archiv? Stimmte der Nummerncode noch, den ich bis vor kurzem nutzen konnte? Und rechtfertigte meine Neugier den Umstand, dass ich dafür definitiv in die Bredouille geriet, wenn ich entdeckt wurde?

Nein.

War mir egal!

Ich wollte wissen, warum ich versetzt worden war, wenn ich den Inhalt der Akte doch gar nicht kannte und nach der Befragung mit dem Scanner offensichtlich war, dass ich in keinem Auftrag gehandelt hatte.

Zwar würde das an meiner Situation nichts ändern und es entsprach auch nicht wirklich meinem Wesen, doch ich konnte meine innere Unruhe, dass irgendetwas nicht stimmte, nicht weiter verleumden. Allerdings musste mein Aufsuchen des Archivs gut geplant sein. Während meiner Arbeitszeit kam es überhaupt nicht in Frage. Nicht, weil ich soviel zu tun hatte, sondern weil eher das Gegenteil zutraf. Sobald eine Anfrage per Rohrpost bei mir ankam, musste ich diese umgehend bearbeiten, wofür mir etwa zehn Minuten zustanden. Ich müsste also nach dem Feierabend hier bleiben. Unbemerkt. Da hier unten niemand nach mir sah, dürfte das kein Problem sein.

Wer sollte auch auf die Idee kommen, dass ich länger als nötig in diesem Kabuff versauerte?

Blieb zu hoffen, dass das Büro nach Feierabend nicht kontrolliert wurde. Ich würde es einfach probieren und die erste Stunde nach Feierabend sitzen bleiben und abwarten, ob jemand nachsehen kam. Notfalls konnte ich immer noch behaupten eingeschlafen zu sein. Soweit hergeholt war das nicht.

Denn ehrlich?

Hier unten husteten noch nicht einmal die Flöhe.

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Den Plan setzte ich Donnerstag, vier Tage später, um. Den Tag zuvor hatte ich in der Mittagspause getestet, ob das Archiv für mich noch zugänglich war. Ich war nicht weiter überrascht, dass der mir bekannte Nummerncode noch funktionierte. Schließlich hatte er sich die ganze Zeit, die ich hier arbeitete, noch nie geändert. Außerdem machte sich selten jemand die Mühe, das Archiv überhaupt aufzusuchen – es stand alles per Mausklick zur Verfügung.

Für jeden; außer für mich.

Ich schaute auf die Uhr. Es war doch tatsächlich schon zehn Minuten nach Torschluss. Ein wenig wollte ich jedoch noch warten, ehe ich mich nach unten begab. Nach noch weiter unten, um genau zu sein. Ich war mir des Umstandes, dass ich die gesamte Nacht im Gebäude der Stadtverwaltung verbringen würde, durchaus bewusst. Nach Dienstschluss wurde das Gebäude verschlossen. Jeder der hinaus wollte, musste seine Karte benutzen und wurde registriert. Freilich konnte man auch mit jemand anderem hinaus schlüpfen, was kein Problem darstellte. Wieder hinein zu kommen, war ebenfalls möglich, ohne dass man extra registriert wurde. Aber es fiele mit Sicherheit auf, wenn ich ein oder zwei Stunden später das Gebäude erneut verließ. Demzufolge blieb mir gar keine andere Wahl – ich würde, sofern alles gut ging, die gesamte Nacht hier sein.

Die Zeit verlief bisher nur langsam.

Doch endlich war die Stunde vorbei und – Wunder über Wunder – niemand hatte sich die Mühe gemacht, in meinem Büro vorbei zu sehen. Vorsichtig öffnete ich die Tür und lugte auf den Gang. Totenstille. Keine Schritte, keine Stimmen, keine Geräusche, kein Rattern des Paternosters. Außer meinem aufgeregten Herzklopfen, dass man bestimmt bis in die oberen Etagen vernahm. Leise tappte ich den Gang entlang, ließ den Aufzug links liegen – womöglich wurde dadurch nur der Sicherheitsdienst auf mich aufmerksam – und lief mit meiner Gänsehaut als Begleitung die Treppen hinunter. Nur die Notbeleuchtung brannte, was die ganze Sache noch gruseliger machte.

Endlich stand ich mit wild klopfendem Herzen vor der Tür zum Archiv. Würde jemand mein außerplanmäßiges Eintreten bemerken? Falls ja, würde ich das umgehend wissen, denn das Archiv ließ sich im Notfall hermetisch abriegeln. Ein Eindringling galt mit Sicherheit als Notfall, oder? Verdammt, ich war mir nicht mehr sicher, ob ich das wirklich riskieren wollte! Wie lange würde meine Luft reichen? Was, wenn ich aufs Klo musste? Verflixt! Meine Angst würde mich eher umbringen als der eine Schritt ins Archiv, der alles entschied.

Zitternd flogen meine Finger über das Nummernfeld an der Tür, bis sechs grüne Lämpchen aufleuchteten und die Tür lautlos entriegelt wurde. Tief Luft holend trat ich ein und… nichts passierte. Kein Knall, kein Zischen, nichts. Nur das Licht ging an. Vollautomatisch. Ein Bewegungsmelder, der – soweit ich wusste – nirgendwo aufgezeichnet wurde. Falls doch – tja, das würde ich bald wissen.

Ich bekreuzigte mich und begann meine Suche.

Erleichtert stellte ich fest, dass die Akten nicht nach Jahreszahlen, sondern alphabetisch geordnet waren. Also auf zum Gang mit dem W. Der lag am hinteren Ende, so dass nun dort die Lichter aufflammten und die am Eingang allmählich erloschen. Praktisch. Allerdings auch heikel, sollte noch jemand das Archiv betreten. Besonders wenn es der Sicherheitsdienst wäre. Ach was, du machst dir zu viele Gedanken! Das sagte ich mir zwar, aber meine Nervosität blieb. Besonders, weil ich die besagte Akte nicht finden konnte.

Was seltsam war.

Schließlich war Weller-Opt im System und demzufolge entweder ein Ortsansässiger oder ein movere.

Bei beiden Optionen mussten sich seine Unterlagen im Archiv befinden. Leider nicht zwangsweise in der oberen Etage. Die Vorstellung, in die unteren Etagen des Archivs vorzudringen, fand ich äußerst beunruhigend. Denn da unten befanden sich Aufzeichnungen über movere, deren Fähigkeiten als extrem gefährlich eingestuft wurden. Gehörte Weller-Opt in diese Kategorie? Wäre seine elektronische Akte sonst für mich gesperrt gewesen? Der Verdacht ließ sich nicht von der Hand weisen. Zumal die andere Möglichkeit nur noch die ganz untere Etage war, und ob ich in die hinein kam, war fraglich. Was, wenn dort ein anderer Nummerncode galt?

Meine Befürchtungen waren unnötig.

Denn ich entdeckte eine Stahltür, die sich knarrend öffnen ließ und eine Treppe enthüllte, die mich innerhalb des Archivs bis ganz nach unten führte. Sofern die Tür der dritten Einheit nicht verschlossen war. Die zweite war es jedenfalls nicht. Mit einem mulmigen Gefühl durchsuchte ich auch das zweite Archiv. Dieses enthielt tatsächlich eine Akte über Weller-Opt. Eine leere. Und das hieß, dass die Unterlagen entweder verschwunden waren oder sich – trotz meiner Hoffnungen – nochmal ein Stockwerk tiefer befanden. Und das war alles andere als gut. Denn dieses Archiv betraf Fälle absoluter Geheimhaltung. Das hätte ich mir gleich denken können, ich Depp! Umso überraschter war ich, dass sich die Tür über den Treppenzugang zwar nur mit etwas Gewalt, aber nichtsdestotrotz öffnen ließ. Vorsichtig öffnete ich sie einen Spaltbreit und wieder passierte nichts. Dennoch wartete ich eine Weile.

Es kamen weder irgendwelche blutrünstigen Wachhunde angestürmt, noch verlangte jemand meinen Ausweis, noch wurde das Archiv verriegelt

In meinen Augen extrem schlampig, aber ich wollte mich nicht beschweren.

Im Gegenteil!

Ich konnte mein Glück kaum fassen und rechnete jeden Moment damit, doch noch erwischt zu werden. Wie auch im oberen Bereich des Archivs fielen mir noch nicht einsortierte Akten auf, die sich im Eingangsbereich stapelten. Freilich war dieser Haufen kleiner als die oben.

Was genau bedeutete das? Dass das Archiv nur einmal aller paar Monate aktualisiert wurde?

Doch im Gegensatz zu den beiden oberen Etagen bemerkte ich, dass die Unterlagen bereits sorgfältig datiert waren und beinah so aussahen, als hätte erst vor kurzem jemand mit ihnen gearbeitet. Außerdem stand hier ein Kopierer. Wozu? War es nicht einfacher die Daten aus dem Netzwerk zu ziehen?

Argwöhnisch betrachtete ich mir die Papiere näher. War es nur ein Zufall, dass mir einige Namen bekannt vorkamen? Ein fürchterlicher Verdacht regte sich in mir, den ich zerstreuen wollte. Doch so, wie ich die erste Akte aufschlug, hätte ich mich gern übergeben. Dasselbe galt für die anderen Unterlagen, in die ich einen flüchtigen Blick warf. Wo genau war ich da nur hineingeraten? Sollte ich es darauf beruhen lassen? Nein, das konnte ich nicht. Was immer die Behörde für innere Sicherheit damit zu tun hatte, es war nicht rechtens!

Es war – egal, wie ich es drehte oder wendete – rundherum falsch. Als fühlender Mensch ging es mir gegen den Strich. Wusste mein Chef davon? Oh Gott! Bestimmt. Ansonsten hätte er mich doch nicht versetzt. Oder war es gar so, dass er Anweisungen von oben erhielt, die er nicht in Frage zu stellen hatte? Herrje, was sollte ich nur tun?

Wie konnte ich das hier ignorieren?

Ich wendete mich dem zweiten Stapel zu, der zwar katalogisiert zu sein schien, doch dessen Inhalt war beruhigender für meinen Magen. Es waren auf den ersten Blick völlig normale Unterlagen, in denen nur einige Textpassagen mit einem Marker hervorgehoben worden waren. Wie wichtig waren diese Markierungen? Sie mir anzusehen, hatte ich möglicherweise die Zeit, aber keine Nerven. Aber hier stand ein Kopierer… und es gab genug Papier… und ich war hier…

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Vier Stunden später war ich wieder in meinem Büro, ohne dass mir jemand aufgelauert oder mich erwischt hatte. Beinah hatte ich das Gefühl, als wäre ich völlig allein in dem Gebäude, obwohl ich es natürlich besser wusste. Nur allmählich beruhigte sich mein Herzschlag, während ich die kopierten Papiere auf meinem Schreibtisch ablegte. Ich musste mir überlegen, wie ich die unbemerkt heimbrächte, denn der Stapel war ziemlich dick.

Und schwer.

Beinah hätte ich beim Verlassen des Archivs die Hälfte verloren, aber es war mir gelungen, alles festzuhalten und in mein Büro zu transportieren. Dutzende kopierte Akten, inklusive der von Weller-Opt, die ich erst nach einigem Suchen gefunden hatte. Denn der unterste Trakt des Archivs war zweigeteilt. Beinah hätte ich aufgeben, bis ich den zweiten Gang W bemerkte. Es war mir kalt über den Rücken gekrochen, als ich die Akte auf- und sofort wieder zugeschlagen hatte. Anscheinend gab es deshalb zwei Gänge, weil… tja, wie sollte ich das ausdrücken? In diesen zweiten Gängen schienen all die Akten zu hängen, die sich inhaltlich an die vorn liegenden Ordner anpassten. Inklusive recht verstörenden Bildmaterials und diversen handschriftlichen Ergänzungen. Ich hatte mir aber nur Weller-Opts Akte genommen.

Zumindest von dort.

Welcher Gattung Mensch musste man angehören, um einem anderen Derartiges anzutun?

Jeden Moment rechnete ich jetzt damit, dass meine Bürotür aufflog und ich verhaftet wurde oder etwas in der Art. Doch alles blieb ruhig. Müde fuhr ich mir übers Gesicht und setzte mich. Theoretisch sollte ich jetzt schlafen – irgendwie – aber die vor mir liegenden Papiere ließen mir keine Ruhe.

Noch war mir das, was ich entdeckt hatte, nicht wirklich bewusst, selbst wenn sich erste Mutmaßungen in mein Gehirn schlichen. Vermutungen, die schlimmer kaum sein konnten. Mich auf alles gefasst machend, überflog ich einige der markierten Passagen und kam zu der Gewissheit, dass ich da in etwas verflixt Großes, Unmoralisches und Abscheuliches geraten war. Etwas, was schlimmer war, als ich geahnt hatte. Etwas, das aufgehalten werden musste.

Wie ich das allein bewerkstelligen sollte, wusste ich nicht.

Aber ich würde mir etwas einfallen lassen.

Diese Menschen waren in Gefahr. Movere hin oder her, gefährlich oder nicht, sie waren Menschen! Für die, deren Akten auf dem ersten Stapel gelegen hatten, konnte ich freilich nichts mehr tun. Offiziell waren sie als tot gemeldet; inoffiziell war ihr Schicksal weitaus schlimmer. Zuerst hatte ich geglaubt, dass ihre sterblichen Überreste zu Forschungszwecken missbraucht wurden. Die Wahrheit war jedoch viel grausamer. Sollte ich Alisa sagen, dass ihr Vater – ich wusste inzwischen, dass er es war – einer davon war oder lebte sie ruhiger mit der Gewissheit, dass er durch einen tragischen Unfall gestorben war? Ahnte sie vielleicht sogar, dass der Unfall gar keiner gewesen war? Verdammt, wenn ich doch nur jemanden fragen könnte!

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‚Plopp.’ Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich von meinem Stuhl hoch, der krachend hinter mir umfiel. Nur eine Rohrpost. Gott! Ich hätte mir fast in die Hosen gemacht! Wann war ich eingeschlafen und wie spät war es? Halb neun. Ah, zumindest war niemand hier gewesen. Wie nie in den Tagen, seitdem ich in diesem abgelegenen, fensterlosen Kabuff arbeitete.

So schnell wie möglich ordnete ich die durcheinander geratenen Kopien, legte sie beiseite und machte mich daran, die Sterbeurkunde aufzusetzen. Sowie das fertig war, verstaute ich das ausgedruckte Pergament in dem zylindrischen Behälter und schickte es auf die Reise zu seinem Bestimmungsort. Als das erledigt war, zerbrach ich mir erneut den Kopf, wie ich die Papiere ungesehen aus dem Gebäude brachte. In meine Handtasche passten sie nicht. Unter meiner Jacke würden sie auffallen, wenn jemand genau hinsah. Aber tat das jemand? Ich kniff nachdenklich die Lippen zusammen und wog meine Möglichkeiten ab. Mir fiel nichts ein. Obendrein meldete sich nicht nur meine Blase, sondern fing auch mein Magen an zu knurren. Ganz davon abgesehen, dass mir meine morgendliche Koffeinration fehlte. Mir mit den Fingern kurz die Haare kämmend, meine Bluse richtend und meine müden Glieder streckend, gähnte ich herzhaft und wischte mir die Müdigkeit aus dem Gesicht.

Halbwegs.

Erneut schielte ich an die Uhr. Wow, es waren schon elf Minuten vergangen. Trotzdem waren es immer noch 19 Minuten bis zum Frühstück. Bis dahin musste ich einfach meine Beine zusammenkneifen. Seufzend lugte ich auf die kopierten Papiere, die wie ein mahnendes Chaos auf meinem Schreibtisch thronten. Obwohl ich mir sicher war, dass niemand bei mir vorbeischauen würde, verstaute ich sie vorsichtshalber in der unteren Schublade des Schreibtischs. Man konnte nie wissen! Vielleicht käme ja ausgerechnet heute mein Chef auf die Idee, mir einen Besuch abzustatten.

Wie schon gestern griff ich nach dem Magazin, dass ich bereits in und auswendig kannte und blätterte lustlos darin herum. Nächste Woche sollte ich mir vielleicht ein Buch mitbringen, hm? Oder mir den Kopf zerbrechen, wie ich meinen Umzug auf die Reihe bekam, ohne dabei großartig die Nerven zu verlieren. Vielleicht könnte mir mein Vater ein paar der kleineren Dinge zur Wohnung transportieren? Dann müsste ich nicht so oft fahren. Natürlich klappte das nur, wenn ihm seine Freundin das nicht ausredete. Ich könnte auch meine Mutter fragen, sollte es jedoch tunlichst vermeiden, dass die beiden sich aus Versehen über den Weg liefen. Aber auch bei ihr musste ich davon ausgehen, dass sie irgendetwas mit ihrem neuen Lover erledigen wollte. In solchen Momenten hasste ich es, ein Einzelkind zu sein!

Nun ja, ganz stimmte das nicht. Meine Mutter hatte noch einen kleinen Nachzügler in die Welt gesetzt. Doch mit seinen elf Jahren konnte er mir ganz schlecht beim Umzug helfen. Zumindest nicht mit den Dingen, die ich unter helfen verstand. Und mein Paps hatte noch vier oder acht Kinder in der Umlaufbahn schweben, die ich aber weder kannte noch wusste, ob mein Vater überhaupt die Übersicht behielt. Zumindest seine neue Freundin schien mit der Familienplanung vorsichtiger zu sein. Schließlich war die erst 21.

Wie lange war es eigentlich her, dass meine Eltern sich getrennt hatten? Neun Jahre? Oder waren es bereits zehn? Ich wusste es nicht mehr. Die Hauptsache war für mich, dass ich zu beiden Kontakt hatte. Manchmal mehr, manchmal weniger. Das Weniger bevorzugte ich allerdings mehr.

Trotz meiner Panik, was den Umzug betraf, entschied ich mich vorsichtshalber keinen der beiden anzurufen. So gern ich meine Eltern auch hatte, sie konnten doch furchtbar anstrengend sein. Wenn es nach ihnen ginge, müsste ich bis zu meiner Hochzeit Jungfrau bleiben und in ihrem Haus wohnen. Ganz zu schweigen davon, dass es vernünftig und zumutbar wäre einen Anstandswauwau dabei zu haben, sollte ich doch einmal in die Verlegenheit kommen und ein Date haben.

Ich hasste ihre Doppelmoral!

Es mochte sein, dass sie es gut meinten, doch ich fand es zum Kotzen. Freilich hatte ich mein erstes Mal schon hinter mir. Nicht, dass es etwas Besonders oder Supertolles gewesen wäre. Es war so kurz gewesen, dass ich mich nach den zwei Minuten fragte, warum die Erwachsenen deswegen solch einen Aufruhr veranstalteten. Vielleicht wäre es mit der Zeit besser geworden, intensiver oder wenigstens etwas andauernder, aber mein damaliger Freund musste am nächsten Tag in ein anderes Bundesland, um dort sein Studium zu beginnen.

Aber auch so hätte ich mich zu diesem Zeitpunkt zu so ziemlich allem überreden lassen. Solange ich nur etwas fühlte. Freilich hatte er versprochen, sich jeden Tag zu melden und mich zu besuchen, doch die Anrufe kamen immer seltener und die Besuche blieben ganz aus. Es hatte mir weitaus weniger ausgemacht, als ich angenommen hatte. Ich wusste auch warum: Alex war nicht meine große Liebe gewesen. Eher eine Art Zweckbeziehung, damit ich mich lebendig fühlte. Alex hatte es vermutlich ebenso gesehen. Und dank meines – durch diese Erkenntnis geschürten – eher schüchternen Auftretens gegenüber anderen, war es auch das erste und gleichzeitig einzige Mal geblieben, was ich meinen Eltern nicht auf die Nase band.

Meine Erfahrung in Sachen Sex beschränkte sich also auf grob geschätzt zwei Minuten, plus minus ein paar Sekunden. Und die letzten 17 Jahre hatte ich keinerlei Verlangen danach gehabt. Klar hatte ich von viel Romantik und dem einen Mann geschwärmt, den es wohl nie gäbe. Männer ritten nämlich selten auf weißen Rössern an mir vorbei. Hey, ich war eine moderne Frau: Wer brauchte schon ein Pferd? Der Mann meiner Träume durfte auch einen richtig schnittigen Wagen fahren.

Himmel, jetzt war ich in meinen Gedanken aber mächtig abgeschweift!

Ich sah auf die Uhr und entschied, dass ich die fünf Minuten bis zur Frühstückspause getrost ignorieren konnte. Denn wenn ich nicht schleunigst auf Toilette käme, passierte ein Malheur. Falls nicht hier, dann spätestens im Aufzug.

Fünfundzwanzig Minuten später betrat ich grinsend mein Büro. Ich hatte die Pause zwar ein wenig überzogen, aber das war es wert gewesen. Nicht nur hatte ich mich in Windeseile frisch gemacht, meine Notdurft verrichtet, mein Make-up neu aufgetragen und mir einen Kaffee geholt, sondern war auch noch in dem kleinen Kiosk gegenüber gewesen, hatte mir ein neues Magazin und – tadaa – einen großen Rucksack besorgt, in dem ich die Kopien mühelos wegschafften konnte. Keiner würde sich etwas dabei denken, wenn ich zum Freitagnachmittag mit einem Rucksack das Gebäude verließ.

Dessen war ich mir sicher.

Oder sagen wir lieber: Es musste einfach klappen!

Trotz meiner Nervosität, was meine heiklen Beweisstücke anging, verlief der Vormittag schleppend wie eh und je. Bis zum frühen Nachmittag, als die Behörde in ihr wohlverdientes Wochenende ging, erreichte mich nur eine weitere Rohrpost. Ermüdend. Besonders, da ich in der Nacht kaum ein Auge zugetan hatte. Meine Bedenken, was das Schmuggeln der Kopien betraf, wurden schnell zerstreut. Niemand kam mir auf dem Weg nach draußen entgegen. In der Tiefgarage achtete niemand auf mich. Alle wollten nur schnellstmöglich nach Hause. Trotzdem klopfte mein Herz wie ein wild gewordenes Rhinozeros und beruhigte sich erst, als ich meine Wohnungstür hinter mir schloss. Vorsichtshalber lugte ich noch etwa zehn Minuten durch den Spion, aber meine Paranoia war völlig unbegründet.