Kitabı oku: «Auf der anderen Seite der Schwelle», sayfa 9
Doch wenn er jetzt zurückschaute mit Blick ins spätherbstliche Land dort draußen, zurück bis an den Tag seiner Ankunft vor einem dreiviertel Jahr, dann schien ihm diese gleichförmig verstrichene Zeit fast wie im Fluge vergangen.
Die Erinnerung ließ sich dort auch nur noch an wenigen Ereignissen fest machen wie etwa an der Fußballweltmeisterschaft Westdeutschlands oder auch am Aufstand im Zellenhaus mit den Mörder! Mörder!-Rufen aus den Fenstern.
Vielleicht auch noch an der Erneuerung der Strohsäckefüllung …?
Dieser dauernde Wechsel der Menschen um ihn her mit denen er zwangsläufig stets nur sehr begrenzt zu tun hatte erschienen nur noch wie ein Zug wechselnder Gestalten, die dann auch bald im Nebel der Erinnerung verschwanden.
Kapitel 13
Es geschah am Abend eines dieser kurzen Novembertage, die vom Morgengrauen sogleich in den Abend überzugehen schienen, die Gefangenen warteten in den Zellen nach der Zählung bereits auf den Einschluss, als den Gang hinauf nacheinander die Schlösser der Türen krachten. Sebastian und alle in der Zelle erstarrten im Moment, um dann sogleich an den Türspalt zu stürzen. Aber schon krachte metallisch auch das Schloss ihrer Türe. Alle sprangen zurück, die Tür flog auf, einer wollte vorschriftsmäßig Meldung machen, doch der Schließer winkte ab.
„Sämtliche Strohsäcke in den Lichtschacht werfen!“, hieß es schließlich. „Dalli, dalli …!“, trieben die Wachtmeister auf allen Stationen die Gefangenen an.
Offensichtlich hatte man alles zusammengesucht was Polizeiuniform trug und zu dieser Aktion in den Zellenbau beordert. Auf den Fluren befanden sich immer mehrere Uniformierte konnten Sebastian, Totila und die anderen feststellen, als sie ihre Strohsäcke über das Geländer in den Lichtschacht warfen, aus dem zuvor die Fangnetze entfernt worden waren. Neben den ihnen bekannten Schließern gabs da aber auf den Gängen auch Uniformträger, die davor von den Gefangenen noch nie einer zu Gesicht bekommen hatte. Sie liefen eilig hin und her, blickten da und dort in die Zellen, in denen Gefangene gerade dabei waren ihre Strohsäcke aus den Bettgestellen zu hieven. Das dauerte in der Enge dort etwas länger, weil sich bei noch größerer Eile die Insassen nur gegenseitig behinderten.
„Dalli dalli, machen Sie schon …!“
Beim Rausschleppen ihrer Strohsäcke über den Gang zum Lichtschacht wechselten die Gefangenen mit denen aus den Nachbarzellen nur ratlose Blicke und schüttelten die Köpfe. Keiner konnte sich einen Reim darauf machen, was dieser Aufruhr sollte.
Schließlich schloss man die Gefangenen wieder in ihre Zellen und ließ sie dort, ratlos wie sie waren, auf das warten, was da kommen sollte. Es war ja längst schon Einschlusszeit und die Gefangenen saßen bei diesem funzligen Licht einer 40 W-Birne, hinter einer Drahtglasscheibe über der Tür, verunsichert auf Hockern vor ihren leeren Betten.
„Vielleicht sollen wir richtige Matrazen kriegen“, sagte dann einer in der Zelle.
„Ja Daunendecken und Damastbettwäsche“, gab ein anderer zum besten.
Irgendwann, nach einer halben Stunde oder vielleicht auch einer Stunde, keiner wusste es genau, wurden alle Türen wieder aufgeschlossen und die Gefangenen traten verwundert und verunsichert raus auf den Gang vor den Lichtschacht, aus dem im gelblichen Licht der Lampen noch immer Schwaden von Staub aus den Strohsäcken im Kellergang bis hinauf in den vierten Stock stiegen.
Dann erscholl eine Lautsprecherstimme von irdendwoher: Alle Strafgefangenen sollten genau zuhören und den Anweisungen Folge leisten. Es würden jetzt Strafgefangene namentlich aufgerufen und dazu jeweils eine Zellennummer.
Jeder Aufgerufene habe im Keller einen Strohsack abzuholen und sich damit vor der ihm genannten Zelle aufzustellen.
Verunsichert durch diese ganze Aktion, die sich absehbar bis tief in die Nacht hinziehen würde, waren nicht nur die Gefangenen, sondern in mindestens gleichem Maße auch die massenhaft nervös umherlaufenden Uniformträger. Man stelle sich vor: Alle sonst streng verriegelten Zellentüren standen offen und vorwiegend politische Langstrafer auf den Gängen, nur von verschlossenen Stationsgittertüren zu den Treppen gesichert. Wie würden die auf das geplante Vorhaben reagieren, wenn auch die Stationen geöffnet werden mussten?
Sie reagierten nicht, obwohl jedem nach dem Aufruf sich einzeln einen Strohsack aus dem Keller zu holen klar wurde, was dort geschah. Es handelte sich schlicht um einen Überraschungscoup, mit dem unter den Gefangenen niemand hatte rechnen können. Zum einen gingen den Häftlingen mit ihren Strohsäcken alle darin versteckten und gehüteten Kleinigkeiten die ihnen wichtig aber verboten waren wie etwa Bleistiftstummel oder Nähnadeln … verloren, also Unersetzlichkeiten. Zum anderen hatte man durch diese überfallartige Maßnahme alle stets gefürchteten und vermuteten Verbindungen Gefangener untereinander weitestgehend auseinandergerissen. Ausgenommen vom ganzen Spektakel blieben lediglich die Lebenslänglichen. Alle anderen wurden über den ganzen Bau verteilt. Das hieß nun auch, dass einer mit fünfzehn Jahren in der ersten Etage landen konnte und einer mit fünf Jahren in der vierten. Die alte Ordnung, Langstrafer von etwa acht bis fünfzehn Jahren ganz oben im Zellenbau unterzubringen, war damit aufgehoben worden.
Sebastian und auch Totila dämmerte es, als Namen ihnen bekannter Gefangener mit hohen Strafen aufgerufen und mit niedrigen Zellennummern belegt wurden, dass ihre Zellengemeinsamkeit damit wohl auch zu Ende gehen musste. So ging es für sie nur noch darum, ob sie dort oben in der vierten Etage bleiben würden, worauf alle beide Wert legten.
Schließlich fiel auch Sebastians Namen und er bangte sekundenlang, bis er mit Erleichterung eine Zellennummer der vierten Etage vernahm.
Totila grinste etwas wehmütig und auch Sebastian räusperte sich, als sie sich verabschiedeten. Beide hatten sich auf engstem Raum gut vertragen und unter nicht sehr menschlichen Verhältnissen Sympathie füreinander bewahrt.
Die in die Decke gewickelten Habseligkeiten wie Seife, Zahnbürste, Pantoffeln, Becher, Löffel und Schüssel … trug jeder auf Anweisung mit sich.
Sebastian wurde mit einer ganzen Reihe anderer in ihren Holzschuhen von einem Posten die Granitsteintreppe hinab in den Keller geleitet. Dort stieß er kurz auf Wilhelm Hankel, der mit seinem Bündel unter’m Arm und einem Strohsack auf der Schulter gerade den Rückweg antrat.
„Wohin gehts?“, fragte Sebastian ihn.
„Mist! Ganz unten in den zweiten Stock“, erklärte der mit Unwillen in der Stimme.
„Ich bleib’ weiter im Vierten“, sagte Sebastian. „Also machs gut“, fügte er noch eilig hinzu und stand dann auch gleich vor einem riesigen Berg von Strohsäcken.
Zwischen vier- und fünfhundert, schätzte er. Schließlich schnappte er sich einen x-beliebigen Sack und machte sich mit anderen zusammen auf den Rückweg in den vierten Stock. Einige verließen die Treppe jedoch bereits in den unteren Stockwerken. Wieder andere kamen ihnen von oben entgegen. Auf der Treppe geht es zu wie auf einer Ameisenstraße, sagte Sebastian sich und stand schließlich mit Deckenbündel und Strohsack neben einem ihm unbekannten Häftling vor der ihm zugewiesenen Zellentüre. Das Krachen von Schlössern und Riegeln, hallte ununterbrochen durch den ganzen Bau. Dutzende von Schließern waren auf allen Stationen eilig unterwegs, bemüht möglichst alle Gefangenen unter Kontrolle zu halten.
Was haben die sich bloß dabei gedacht? fragte Sebastian sich. Ging es wirklich nur darum, die Gefangenen im ganzen Bau zu verunsichern? Und dazu dann so ein Aufwand?
Schließlich kam ein Uniformierter aus Richtung Treppe den Gang herauf, schloss einige mit ihren Strohsäcken vor Zellentüren wartende Häftlinge ein, bis er auch Sebastian und dem dort mit ihm wartenden Gefangenen die Türe aufschloss.
Als Sebastian die Zelle betrat, blickten ihm zwei aufgelöst wirkende Vogelscheuchen entgegen, die er, wie er sich erinnerte, schon bei der Freistunde gesehen hatte. Die waren immer vierter Stock, sagte er sich. Einer so um die dreißig schätzte er und der andere vielleicht Ende sechzig. Die Zelle wie alle andern sonst, und ebenso wie die seine bis heute abend, ehe alles durcheinandergewirbelt worden war, also auf der Rückseite des Hauses gelegen, mit Blick auf die massiven Lauben in den Obstgärten. Zumindest dieser Ausblick erwies sich als Konstante im ganzen Durcheinander.
„Wir kennen uns vom Sehen“, sagte Sebastian bei der Begrüßung zu den beiden Insassen. „Und von wo kommst du her?“, wandte er sich an den Jüngeren, etwa Mitte Zwanzig, der mit ihm vor der Türe gewartet hatte.
„Von Station drei“, erklärte der und wies dazu mit dem Finger nach unten auf den Fußboden.
„Da haste ’nen guten Tausch gemacht mit hier ganz oben. Was haste denn für eine Strafe? Ich meine wie viel?“
„Fünf Jahre Artikel 6“, antwortete der.
„So unter sieben acht Jahren gab’s bis heute Abend hier oben niemanden“, erklärte Sebastian. „ Nun haben sie’s durcheinandergewirbelt“, und er hob unschlüssig die Schultern. „Wozu das gut sein soll? Wer weiß schon, was die sich, wenn überhaupt, dabei gedacht haben.“
Die endliche Regelung des ganzen Wirbels zog sich etwa bis nach Mitternacht hin, mit Gepolter auf den Holzdielen der Gänge vor den Zellen und Getrappel auf den Granitstufen der Treppen, sowie Türenschlagen, Schlösserkrachen und Riegelschmettern. In den belegten Zellen war das Licht zwar längst gelöscht und Sebastian lag wie die andern unter seiner Decke, wurde aber immer wieder aus dem Schlaf gerissen, wenn auf dem Gang vor der Tür ein Trupp Häftlinge in schweren Holzschuhen vorbeipolterte.
Wecken sechs Uhr. Der schrille Schrei der Stahlschiene gegen die mit einer Eisenstange geschlagen wurde, riß jeden aus Traum und Schlaf in die Realität des Zellenbaus: „Wer will schnell noch mal pinkeln?“ Der Kübel musste nach der Zählung raus, um ihn nach der Freistunde entleert wieder in die Zelle zu nehmen. Alles lief nach zeitlichen Regeln ab.
Der Alte und der Junge, die zuerst die Zelle bezogen hatten, entpuppten sich als Vater und Sohn.
„Und man lässt euch hier immer noch zusammen?“, fragte Sebastian ein wenig verwundert. „Ich war ja mit einem Freund die ganzen Monate bis jetzt auch zusammen auf einer Zelle. Es war schon so weit, dass wir irgend eine Absicht dahinter vermuteten. Wir waren ja ein Fall …“ Und Sebastian schilderte in wenigen Sätzen ihre Geschichte bis zur Verhaftung. „Wir waren schon vorsichtig“, sagte er, „und sprachen über unsere gemeinsame Angelegenheit fast gar nicht.“
„Ja mit die Spitzel is hier schon so’ne Sache“, reagierte der Sohn, der sich als Arno vorgestellt hatte. „man muss Verdammichnoch mal aufpassen! Sonst haben se dir am Arsch und hängen dir noch was an.“
Sebastian erfuhr dann auch bald, dass ers bei Vater und Sohn mit „Buntspechten“, aus Ost-Berlin zu tun hatte. Der Sohn zu dreizehn und der Vater zu zwölf Jahren verurteilt.
„Mann! Da haben die euch aber ganz schön was übergebraten.“
„Kann man wohl sagen“, bekräftigte der Vater.
„Das is Kutte“, sagte Arno mit einer Handbewegung in Richtung des Vaters, der am Tisch saß, „also Kurt“, berichtigte er dann noch, „mein Vadder …“ „Aber von euch Buntspechten gibt’s hier ’ne ganze Menge. Alle mit ziemlich hohen Strafen.“
„Na ja, bei Buntmetall, da haben die sich ganz affig“, bestätigte Vater Kurt Sawatzky Sebastians Feststellung.
Ein „Buntspecht“, war jemand, der Buntmetall aus Ost-Berliner Trümmern klaubte und an West-Berliner Altmetallhändler für Westgeld verkaufte. Ein mit der Zeit immer gefährlicher gewordenes Geschäft.
„Buntmetall? Lohnt sich denn das?“, wollte Siegfried, der mit Sebastian zusammen eingezogen war, wissen.
„Na und ob!“, wurde ihm von Kurt Sawatzky geantwortet.
„Aber wo kriegt man das her?“
„Na aus die Ruinen überall“, erklärte Arno Sawatzky.
„Dazu muss man dann Berliner sein“, sagte Siegfried.
„Musste nich“, erklärte Arno, „aber wie willste denn sonst mit den schweren Gelumpe von außerhalb über die Grenze nach West-Berlin kommen? Mit die Bahn nach Berlin aus de Zone? Wirste doch im Zug unterwegs überall gefilzt.
Nee, nee“, sagte Arno Sawatzky, „wir hatten in die Stadt so uns’re Schleichwege, auch zu die Schrotthändler. Die werden nämlich auch von die Stasi beobachtet: Also wer da aus’n Osten mit Buntmetall antanzt. Aber von uns wusste das jeder, auch die Schrotthändler.“
Sebastian stand vor Arno Sawatzky, der auf einem Hocker, mit dem Rücken gegen die kalten Heizungsrippen gelehnt, saß. „Wenn das so war“, fragte er grinsend, „Warum sitzt ihr dann als hoch verurteilte Buntspechte hier?“
Vater Sawatzky lachte. „Wir sind anjeschissen worden“, sagte er und wurde wieder ernst. „Die wollten in unser Revier fischen …“
„Wir wissen aber, wer der Schweinehund war“, unterbrach Arno Sawatzky den Vater. „Die hatten ’nen Strohmann eingesetzt, der uns verpfiffen hat.“
„Und dann haben die uns mit fufzehn Kilo Kupfer jeschnappt“, ergänzte der alte Sawatzky.
„Wir sind ja auch angeschissen worden“, sagte Sebastian. „Und ich noch dazu vom besten Freund, der jetzt wohl Parteikarriere macht und für die Stasi arbeitet … Ich schäme mich manchmal dafür.“
Der junge Sawatsky stand von seinem Hocker auf und winkte ab. „Wir sind zu doof für’s Leben, das is’ es.“
Da ist was dran, sagte Sebastian sich. Wahrscheinlich wollten wir die Realität nicht sehen … „Ihr wart sicher genau so naiv wie wir“, sagte er dann. „Aber was wär’ das schon für’n Leben“, fuhr er fort, „wollte man überall immer nur Verrat und Feinde vermuten. Das hält auf Dauer doch keine Sau aus!“
Sebastian stellte sich vor’s Gitterfenster und sah hinaus in einen nebelgrauen Spätherbsttag. So wie vor bald einem Jahr, als sie ihn abgeholt hatten an einem ebenso stillen grauen Tag, weg damals vom Zeichenbrett, weg von dieser großen Bleistiftzeichnung, diesem Kiefernwaldstück, in das er sich vertieft hatte.
Schließlich wandte er sich ab, blickte in die vollgestellte Zelle und sah die Männer dort vor sich hindösen auf Hockern in der Enge zwischen zweistöckigen hölzernen Bettgestellen. Immer wieder derselbe Anblick: Einer saß, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in die Hände vergraben. Ein anderer starrte gegen ein Stück Wand gelehnt an die Zellendecke. Siegfried, der am Aufstand des 17. Juni beteiligt gewesen war, saß mit dem Rücken zum Fenster und hielt sich ein handtellergroßes Stück Zeitung, das der Zelle als Toilettenpapier zugeteilt worden war, dicht vor die Augen. Ein weiterer Stapel solcher Blätter lag auf dem Schemel neben der Waschschüssel. Aufgeweckte Geister, zu denen dieser Siegfried sich möglicherweise zählte, hatten in den Zeitungspapierfetzen zu lesen gelernt. Kannte man ja die Ideologie und die Verschlüsselung von Aussagen hinter den Druckzeilen und konnte sich so nicht selten ein halbwegs reales Bild über so manche Vorgänge in der Welt machen. Es war dies, richtig gekonnt, schon eine diffizile Kunst. Man musste sich dazu über längere Zeit viele Aussagen, die man diesen Zetteln zu bestimmten Ereignissen entnommen hatte nur merken, um dann durch Vergleiche immer wieder auf ein Muster von Verdrehungen zu stoßen, sodass es dann nicht mehr sehr schwer war Wahrheiten heraus zu filtern, über manches das da draußen vor sich ging.
Kapitel 14
Wieder waren Wochen ins Land gezogen. Im Herbst, Sebastian schätzte so im Oktober, hatte es wieder Kartoffeln zu Mittag gegeben, in aller Regel Pellkartoffeln mit Fischsoße oder brauner Mehlsoße, doch zweimal auch schon mit saurem Hering, sodass „Pellkartoffel“, ein älterer Schließer mit original ostpreußischer Aussprache und einem Vorwurf in der Stimme den Gefangenen nahe zu bringen versuchte, dass „Pellkartoffel mit Häring“, ein sehr gutes Essen sei, natürlich so, als seien sie als Verbrecher das gar nicht wert.
Doch nun rückte auch Weihnachten näher. Die wenigen Tage bis dahin würden wohl wie im Fluge vergehen. Sein erstes Weihnachten als Gefangener. Über ein Jahr lag inzwischen hinter ihm. Da das Gericht ihm seine monatelange Untersuchungshaft bei der Stasi aber nicht angerechnet hatte, galt hier nur erst ein dreiviertel Jahr. Sebastian hielt es jedoch angesichts seiner Gesamtstrafe für müßig, schon jetzt mit dem Abzählen der verbrachten Zeit zu beginnen.
Seine Mutter schrieb im Monatsbrief, dass Christa aus Leipzig sich gemeldet hätte. Die Mitteilung seiner Verurteilung habe sie erschreckt, doch sie glaube an ihn.
Und dieser Brief war ohne Schwärzungen oder herausgeschnittene Zeilen durch die Zensur gegangen? wunderte Sebastian sich. So eine Verurteilung sollte ja das genaue Gegenteil bewirken, sollte abschrecken und möglichst Angst verbreiten und nicht den Glauben an einen Volksfeind befördern. Doch das da draußen, was immer es war oder worum immer es ging, es war doch sehr weit weg.
Viel näher lag das Mittagessen zu Weihnachten. Sie waren ja alles Neue in der Zelle, niemand von ihnen hatte schon mal ein Weihnachten im Zuchthaus erlebt.
Nahrung, Essen, so dürftig das auch stets ausfiel, war ja ein wichtiger Faktor und Zeitmesser in der Eintönigkeit ständiger Wiederholung. Draußen änderten sich die Jahreszeiten. Eines Tages lag Schnee im Hof, auf den Dächern und im Land draußen.
„Weiße Weihnachten“, sagte Vater Kurt, der „Buntspecht“, und sah zum Fenster hinaus.
„Is man bloß Modderschnee“, erklärte der Sohn. „Kann ja morgen oder übermorgen schon wieder wech sein.“
Als sie eines Tages wieder durch den schrillen Ton der geschlagenen Stahlschiene aus dem Schlaf fuhren, verkündete Siegfried, dass heute „Heiligabend“, sei.
Doch dieser Tag, ein genau so grauer Tag wie alle davor, verlief auch so. Und zu Mittag gab es Weißkohlsuppe, aber mit Kartoffelstückchen statt bloßer Mehlklümpchen. Was sollte auch sein, beruhigte man sich in der Zelle. „Heiligabend“, passte nun mal nicht ins „Kommunistische Manifest“. Kaum einer wusste inzwischen ja noch, weshalb es Weihnachten überhaupt gab. „Das macht die Kirche, ist deren Sache“, hieß es. Aber warum macht sie’s und wo? Dieser Tag quälte sich also dahin wie jeder andere. Dauernd herrschte draußen ja Kirchenkampf mit der Partei … Und Weihnachten? Draußen nahmen es die führenden Genossen zähneknirschend hin. Die Werktätigen der DDR mochten halt Weihnachten, als der Deutschen liebstes Fest. Aber hier?
„Weihnachten“, sagte Sebastian schließlich abwinkend, „lasst alle Illusionen fahren, wenn jemand welche haben sollte. Wir Volksfeinde sind ja nicht die werktätigen Bürger“, fuhr er grinsend fort. „Ich jedenfalls nicht. Mir haben sie nach KD 38 die Bürgerrechte aberkannt und das geht hier sicher vielen ebenso.“
Es wurde endlich Abend, „Heiligabend“. Die Zelleninsassen saßen bei diesem gelblichen Licht der 40 W-Birne über der Tür auf den Hockern, starrten vor sich hin und schwiegen. Was jeder dachte und woran er sich erinnerte, davon sprach keiner. Alle wussten ja, dass noch viele solcher „Heiligenabende“, vor ihnen lagen. Da galt es jede Sentimentalitätsanwandlung gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Als „Einschluss“, ausgerufen wurde und jeder seine Jacke und Hose zusammengelegt auf je einem Hocker deponiert hatte, wurde auch bald das Licht gelöscht. „Einmal werden wir noch wach, heißa dann ist Weihnachtstag“, murmelte Siegfried noch halblaut vor sich hin. Dann war es still und jeder lag ganz für sich mit seinen Gedanken auf dem Strohsack unter der ranzigen Decke, die auch noch schlecht wärmte.
Nach Wecken, Zählung, Kübel vor die Tür und Verpflegungsausgabe: 500 gr.
Brot im Stück für den Tag, sowie 20 gr. Margarine, leicht glasig und hart auf einem Blättchen Margarinepapier, einen Esslöffel Vielfruchtmarmelade mit Blättern und Stielen, alle zwei Tage eine mitteldicke Scheibe Wurst beziehungsweise ein Stückchen Käse und einen Becher unergründlichen Getreidekaffees … Holzschuhe an und „Raustreten zur Freistunde.“ Alles lief am ersten Weihnachtsfeiertag so ab wie auch an jedem x-beliebigen anderen Tag. Der Rundgang im Gleichschritt bei bereits festgetretenem Schnee sowie einigen Freiübungen in der kalten Luft, die den eigenen Atem sichtbar werden ließ, verlief mal wieder kürzer als sonst. Alle waren froh in ihren dünnen Klamotten, als es „Einrücken!“, hieß. Die ersten scherten aus dem Kreis aus und auf die Eingangsstufen des Zellenhauses zu, die andern folgten.
„Oh du fröliche, oh du selige gnadenbringende Weihnachtszeit …“: ertönte aus den Reihen der einrückenden Gefangenen in leicht brüchiger Stimme diese kurze gesungene Sentenz eines bekannten Liedes zu diesem Tag.
„Ruhe da! Schnauze halten!“, kam auch gleich die Antwort eines Schließers und verhieß nichts Gutes für diesen Weihnachtstag.
Doch am ersten Weihnachtsfeiertag waren dann alle überrascht, als statt des Rollwagens mit dem Essenskübel, zwei Gefangene einen Thermoskübel mit dampfenden Salzkartoffeln heranschleppten. Jeder bekam daraus eine Kelle leicht zerkochter Kartoffeln in die hingehaltene Schüssel.
„Was ’n das?“, fragte Arno Sawatzky verblüfft, starrte in den dampfenden Kessel und dann auf den Schlag Kartoffeln in seiner Schüssel.
„Ist doch Weihnachten“, sagte einer der Kesselträger und beide lachten.
Doch es kam noch besser: Zwei weitere Gefangene rückten mit einem Kessel voll ebenfalls dampfenden Sauerkrauts an, von dem jeder zwei große Löffel voll in die Schüssel bekam.
Nicht genug damit, zwei Kalfaktoren kamen mit dem Rollwagen und zwei Kesseln darauf, um Soße und Fleisch auszuteilen. Das erwies sich zwar als fett und zettrig. Doch was Besseres, meinte Sebastian, gebe es draußen oft genug auch nicht. Dieses Fleisch mit dem Löffel bewältigen zu wollen, erwies sich dann ganz schnell als unsinnig. Man musste es in die Hand nehmen, hineinbeißen und auseinanderzerren, um sich Stücke aus dem fettigen Gezettere zu reißen.
Handelte es sich dabei doch um Eiweiß und kostbare Kalorien. Schließlich traf man auf genügend Gefangene, meist etwas ältere, bei denen sich bereits Wasser durch tiefe Fingerabdrücke in den Beinen nachweisen ließ. Aber außer wässriger Spinatsuppe, abgewechselt mit zerkochten Bruchnudeln in brauner Mehlsoße im Sommer sowie zerkochter Weißkohlsuppe, abgewechselt mit Pellkartoffeln und Fischmehlsoße. Sommers wie Winters gab es weder Obst noch Gemüse wie etwa Zwiebeln, Tomaten, Gurken, Äpfel … Vieles davon bekam man aber auch draußen nicht zu Gesicht und im Winter schon gar nicht.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag gab es dann noch Mal ein festliches Mittagessen wie schon am ersten Feiertag und das auch noch bei weiterhin höher eingestellter Heizung. Die Zelleninsassen steckten wie eh und je die feuchten Brotscheiben zum Trocknen zwischen die sonst nur lauwarmen Heizungsrippen. Mancher vertrug dieses feuchte Brot nicht. Es verursachte Magenbeschwerden.
Die Weihnachtsfeiertage waren schließlich mit dieser für alle unerwarteten kulinarischen Überraschung vorüber gegangen. Es standen zwar noch Silvester und Neujahr vor der Tür, aber es erwartete niemand eine ähnliche Situation wie die an den Weihnachtsfeiertagen. Es blieb den Gefangenen sowieso unerfindlich wie es zu dieser Art von Bescherung hatte kommen können.
Der Silvestertag verging dann wie jeder andere x-beliebige Tag. Am Nachmittag war es in der Zelle bereits so dunkel, dass man auf den Seiten der sowjetischen Heldenromane Buchstaben kaum noch erkennen konnte. Es handelte sich dabei um Bücher, die wie üblich den Zellen vom Bücherkalfaktor zugeteilt worden waren: Vier Mann, vier Bücher. Vater und Sohn Sawatzky hatten darüber gelästert: Diese Schwarten dort, das sei doch der reinste Schund. „Die hätten uns lieber was zu fressen bringen sollen.“
Am Silvesterabend, noch vor Einschluss, hatten sich alle ihre Becher mit Wasser gefüllt und ins Regal gestellt. Die Trink-und Waschwasserkanne des Nachts in der Zelle zu belassen, galt der Anstaltsleitung grundsätzlich als zu gefährlich.
Alle Vier hatten sich also vorgenommen in dieser Nacht wach zu bleiben. Sie lagen daher nicht in den Betten, sondern saßen im trüben Widerschein der Scheinwerfer, die draußen die weißen Mauern ausleuchteten, in ihre Decken gewickelt auf den Hockern und unterhielten sich in gedämpftem Ton. Eine Uhrzeit hatten sie nicht, also warteten sie auf das Glockengeläut der Cottbuser Kirchen, die den Beginn des Jahres 1955 einläuten würden.
Sebastian war ans Fenster getreten und blickte durch die Scheibe hinaus in langsam aufsteigende Eisnebelwolken, drehte sich dann in die Zelle um und sagte: „Draußen wirds neblig. Wenn es Silvesterfeuerwerke in der DDR geben würde“, fügte er hinzu, „wäre deren Abbrennen, bei diesem Nebel der sich da draußen zusammenbraut für die Katz.“
„Es ist auch kälter geworden“, bestätigte Siegfried und wickelte sich schaudernd fester in seine Decke.
Bei dieser Nachtwache kroch die Zeit zäh dahin, die Stunden dehnten sich und Sebastian dachte darüber nach, ob ihm dieser Jahreswechsel nicht schnuppe sein konnte. Ging ihn das hier, ausgesondert und abgeriegelt wie er war, überhaupt noch was an? Das Vergehen der Jahre schon, sagte er sich, aber so ’n Jahreswechsel? Und er schüttelte dazu unmerklich den Kopf.
Doch dann begannen die Silvesterglocken der Cottbuser Kirchen nahezu gleichzeitig tatsächlich zu läuten. Und im Dämmerlicht der Zelle erhoben sich wie Nachtgespenster die in ihre Decken gewickelten Insassen, griffen nach ihren Trinkbechern im Wandregal, stießen mit Wasser an und wünschten sich wechselseitig nur eines: Gesundheit, um auch dieses kommende Jahr unbeschadet zu überstehen. Ein womöglich laut gewordener Wunsch nach baldiger Freiheit wäre von den dort Versammelten wohl nur als peinlich empfunden worden bei insgesamt 42 Jahren Zuchthaus in der Zelle. In Abständen waberten immer wieder mal Gerüchte von möglichen Amnestien durch die Zellen. Vielleicht von der Anstaltsleitung auch nur gestreut, um die Gefangenen zahm zu halten.
Ans Fenster getreten sahen die Vier dann statt eines möglichen Feuerwerks nur ein paar Leuchtkugeln im Nebel verglimmen.
Der alte Sawatzky warnte schließlich davor, das Wasser in den Bechern ganz auszutrinken. „Bis zum Kübeln ist es noch ’ne Weile hin“, gab er zu bedenken.
Das leuchtete ein.
Die weihnachtliche Bescherung in Hinsicht auf das Nahrungsangebot wiederholte sich am Neujahrstag nicht mehr. Als große Enttäuschung empfand das kaum jemand, denn Wunder, das wusste ja jeder, wiederholten sich nun einmal nicht so oft.