Kitabı oku: «Auf der anderen Seite der Schwelle», sayfa 8

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Kapitel 10

So ging der Sommer dahin, die lange Regenperiode war vorübergegangen, auch die darauf folgende späte Hitzewelle hatte nachgelassen, als eines Tages in die Nachmittagsstille hinein Schmerzensschreie durch den Bau hallten. Als die Schreie sich wiederholten klopfte Sebastian mehrmals gegen die Türe, bis endlich der Stationskalfaktor auf dem Gang sich meldete.

„Überall klopft es“, sagte er, „ich kann mich doch nicht zerteilen. Die Schreie, ja, da braucht dringend einer ein spezielles Medikament … Ich weiß auch nicht welches, aber schon seit Tagen.“

Die Schreie kamen aus einer der unteren Stationen, denn von dort brach dann auch der lärmende Protest der Gefangenen los, die auf die Betten geklettert waren, mit ihren Blechschüsseln gegen die Gitter schlugen und „Mörder! Mörder!!“, nach draußen schrien, über die Mauern hinweg in die Stadt hinein. Das griff blitzartig auf alle Stationen, auch auf die obersten über, sodass letztlich der ganze Zellenbau dröhnte, da auch noch gegen die eisenblechbeschlagenen Türen gehämmert wurde. Wie später zu erfahren gewesen war, ging es wirklich um irgendein lebenswichtiges Medikament für einen akut erkrankten Gefangenen. Während dieses Höllenlärms liefen alle Schließer über die Gänge, um durch die Spione in den Zellentüren die Protestierer zu ermitteln.

Danach waren alle Arrestzellen im Keller belegt: Verächtlichmachung des Staates, Boykotthetze wegen der Mörder-Mörder-Rufe und Anstiftung zum Aufruhr.

Einigen mit Spitzeln auf der Zelle konnten solche Rufe zum Verhängnis werden.

Da war leicht ein Nachschlag von ein, zwei Jahren möglich, je nach Bedeutung ihrer Vorstrafe.

Auch Sebastian und Totila hatten mit dem West-Berliner Journalisten umgehend nach ihren Aluminiumschüsseln gegriffen, um damit den schrillen Lärm an den Gittern zu unterstützen. Natürlich hatten sie aus ihrem Zellenfenster auch die Mörderrufe nach Kräften wiederholt und so den Chor mit verstärkt. Nur mussten sie dazu nicht auf ein Bett klettern wie in den unteren Stationen und wurden deshalb auch nicht erwischt, weder mit den Schüsseln am Gitter, noch bei ihren Rufen. Auch wussten nun alle in der Zelle genau, dass unter ihnen kein Spitzel sein Unwesen trieb, weil niemand in den Arrest oder gar vor Gericht musste. In Hinsicht auf die Zuverlässigkeit einer Zellenbelegung konnte es sich aber immer nur um eine Momentaufnahme handeln, die sich bei jeder Verlegung und jedem Zugang ändern würde.

Später war über den Kalfaktor zu hören gewesen, dass der erkrankte Gefangene, der den Aufruhr ausgelöst hatte, das zuerst verweigerte Medikament dann doch noch erhalten hatte.

Seit Wochen gab es jeden Mittag statt einer wässrigen Weißkohl- oder Spinatsuppe dick zusammengekochte Bruchnudelpampe mit brauner Mehlsoße. Jeden Tag, wenn die großen aus Armeebeständen ausgemusterten Thermoskübel auf den Treppenabsatz krachten, um dann auf diesem kleinen Karren zum Austeilen der Nahrung von Tür zu Tür den Gang entlang transportiert zu werden, hofften die Gefangenen auf eine Abwechslung, wohl wissend, dass es eine müßige Hoffnung war.

Kartoffeln, hatten Totila und Sebastian gehört, habe es schon seit Anfang März nicht mehr gegeben. Sebastian dachte dabei an zu Hause. Auch dort waren die zugeteilten Einkellerungskartoffeln für die ganze Familie immer schon im April, spätestens im Mai, zu Ende gegangen.

Wenn es auch Tag für Tag die immer gleiche klebrige Bruchnudelpampe gab, zuvor zusammengefegt in einer Cottbuser Nudelfabrik, galt die Nahrungsausgabe allen Gefangenen auch als Zeitmesser, als Uhr … Wer jeden Tag im wesentlichen auf einem Hocker sitzend zu verbringen hatte und das wochen-, monate- und jahrelang, unter extrem beengten und hygienisch mehr als nur fragwürdigen Verhältnissen, für den war das Austeilen der Nahrung eine Zäsur, deren Bedeutung über die pure Ernährung hinausging.

Die Zuteilung eines monatlichen Briefes von zwanzig Zeilen an Angehörige auf einem vorgedruckten DIN A5-Bogen war keine Selbstverständlichkeit, sondern galt als eine an Auflagen geknüpfte Gewährung. Das war auch Sebastian und Totila schon vor ihrem ersten Brief von Kommandoleiter Wollny klar gemacht worden. Jeder Brief durchlief eine Zensur, wurde also in der Strafvollzugsverwaltung gelesen. So durfte etwa über Krankheiten in der Anstalt, vor allem aber auch über eigene Erkrankungen, im Brief nichts erwähnt werden. So was galt als Anstaltsangelegenheit wie auch die Verpflegung, die Unterbringung, die Behandlung, die ganzen Alltäglichkeiten …Wer das in seinem Brief nicht strikt beachtete, durfte ihn, aber dann auch nur ausnahmsweise, noch einmal schreiben. Bei erneuten Beanstandungen, und solche waren leicht zu finden, gab es keinen Brief mehr.

Wieder einmal hockten Sebastian und Totila vor den Zellen an einem Tischchen auf einer der drei Brücken über dem Lichtschacht, um ihren Zwanzig-Zeilen-Brief an die Angehörigen zu verfassen. Auf der Zelle zu schreiben war, aus welchen Gründen auch immer, nicht gestattet.

„Ich weiß einfach nicht was ich hier schreiben soll …“, sagte Sebastian, dazu schob er den Briefbogen von sich.

Auch Totila saß brütend da und drehte den Bleistift zwischen den Fingern. „Wir müssen halt schreiben, dass es uns gut geht …“ „Den Umständen entsprechend“, unterbrach Sebastian.

„Ja klar“, Totila nickte. „Ist ja einerseits logisch, andererseits stellt sich aber auch die Frage, ob sie das durchgehen lassen.“

Sebastian schüttelte den Kopf. „Also den Umständen entsprechend“, sagte er.

„Ich denke, ein langjähriger Zuchthausaufenthalt ist doch wohl ein einleuchtender Umstand. Wir schreiben doch nicht aus einem Genesungsheim.“

„Du hast ja recht, aber den Umständen entsprechend klingt doch irgendwie kritisierend.“

„Ach Quatsch, dann sollen die mir den Brief eben wieder zurückgeben. Ich probiers jedenfalls.“ Totila zuckte mit den Schultern. „Versuchs einfach, wenn du meinst … Wichtig ist aber, dass die sich zu Hause nicht zu große Sorgen machen.“

Sebastian schob die Lippen vor und wiegte den Kopf. „Besonders dick auftragen“, sagte er, „müssen wir deshalb hier aber auch nicht.“

„Brauchen wir ja nicht“, antwortete Totila.

„Ja aber, wenn ich schreibe mir geht es gut, dann ist das keine halbe Zeile.“

Totila schüttelte grinsend den Kopf. „Mann“, sagte er, „lass dir was einfallen, du kennst doch genug Füllwörter und schreibst nicht zum ersten Mal so einen Brief. Frag’ einfach an wie’s den Geschwistern geht oder wohin dein Vater seinen Bienenwagen zur Akazientracht gefahren hat. Ich glaub’ so heißt das doch oder?“, fügte er hinzu und sah Sebastian an.“ Frag auch, was die Oma macht.

Ein richtiger Briefwechsel wird das hier sowieso nie.“ Sebastian nickte: „Ja, Tracht heißt das bei den Bienen. Also wirklich“, sagte er dann, „unter diesen Bedingungen hier? Ich würde am liebsten gar nicht schreiben.“

„Du spinnst total! Du hast doch die andern Briefe auch alle geschrieben und die zehn Zeilen an deine Christa …“

„Richtig. Die wird ja auch denken ich bin so simpel wie ich schreiben muss. Na ja“, gab er nach kurzem Nachdenken schließlich zu, „mir wird schon irgend ein unverdächtiger Unsinn einfallen.“

„Wenn dir nicht bald was einfällt“, mahnte Totila, „ist die Zeit dafür vorbei. Wir haben höchstens noch ’ne Viertelstunde, dann kommen die nächsten die hier schreiben sollen.“

Beide brachten dann aber die erlaubten zwanzig Zeilen doch noch aufs Papier.

Sebastian auch die zehn Zeilen an seine Freundin Christa, die seine Mutter nach Leipzig schicken würde. Wie seine Freundin Christa nun ihrerseits über die ganze Angelegenheit dachte, konnte sie ihm ja auch nicht mitteilen und er nicht, weshalb das alles so gekommen war. Was für ein Briefwechsel! Seine Mutter würde wohl etwas zur Aufklärung beitragen, aber Missverständnisse waren dabei natürlich fast vorprogrammiert.

„Das wimmelt bei mir nur so von Belanglosigkeiten“, murrte Sebastian schließlich und schnippte den Briefbogen von sich.

„Ich denke“, sagte Totila, „wir müssen uns auf das alles hier erst noch richtig einstellen.“

„Soll das heißen, wir müssen gleichgültiger werden?“

„Vielleicht“, antwortete der Freund.

Immer wieder dachte Sebastian an den Todeskandidaten und den überheblich zynischen Ton als sie ihn weggebracht hatten: „Da wo Sie jetzt hinkommen, brauchen Sie keine Sachen mehr …“ Im Krieg Jagdflieger, verheiratet und zwei Kinder, die noch zur Schule gingen, so verbreitete es sich auf Station vier. Die MIK 15: Dank dieses Mannes wusste man im Westen nun gut über das Bedrohungspotential dieser sowjetischen Maschine Bescheid. Tropfen für Tropfen sagte Sebastian sich, höhlt mit der Zeit auch den festesten Stein.

In der Zelle war es still geworden, alle dösten auf ihren Schemeln vor sich hin.

Sebastian bewegte das Schicksal dieses Fluglehrers, wenn er dabei noch an die Empfindungen seines eigenen Traums dachte. Der einsame Gang zum Fallbeil, umgeben von Kälte und Tod: Für ihn nur ein Alptraum, doch der andere, der Fluglehrer, war ihn wirklich gegangen, diesen Weg …

Langsam lief Sebastian im schmalen Spalt zwischen den Betten auf und ab: Vier Schritte zum Fenster, kehrt, vier Schritte zurück, kehrt, vier Schritte zum Fenster … hin und her, ganz gleichmäßig wie ein großes Pendel in einem Uhrwerk und dazu das regelmäßige Knarren eines Dielenbretts. Sebastian bemerkte, dass er kurz davor stand in etwas wie Trance zu verfallen. Dresden, sagte er sich … Dresden, Hitler und die Guillotine. Tod und Verderben … Wie mochte dem Fluglehrer dort zumute gewesen sein … Alles Streben, Wollen, Können, alles Lieben, alle Schönheit, würde für ihn dort zu Ende gehen. Und die fanatische Blödheit der Menschen um ihn her, die ihn zum Tode bringen würden, kalt und selbstgerecht. Ein kurzer Aufschub noch, eine kahle Zelle und das Warten … Sebastians Schritte eins, zwei, drei, vier, und kehrt. Eins, zwei, drei, vier, und kehrt … dazu das im immer gleichen Rhythmus knarrende Dielenbrett schränkten seine Sinne ein. Er empfand eine weite Leere, alles verlor an Bedeutung, wurde klein und x-beliebig … er selbst, die Zelle, die Mitgefangenen, der Zellenbau, seine Verurteilung, seine Taten, seine Überzeugungen … Gab es denn diese Welt um ihn her überhaupt? Doch immer wieder kam er dann doch zurück in die Welt, die sich real nannte. Schließlich bemerkte er, dass sich in ihm angesichts der erlebten Welt, so etwas wie ein Schock zu lösen begann, an den er erst nicht hatte glauben wollen. Es wurmte ihn nun um so mehr, dass er sich ahnungslos und naiv auf diesen Freund aus fernen Kindertagen hatte einlassen können. Im Nachhinein fielen ihm Kleinigkeiten ein, Kleinigkeiten mit tiefen Wurzeln, die ihm schon früher hätten auffallen müssen. Da war etwa die Sache mit dem heimlich besorgten Kleinkalibergewehr. Bei Schießübungen im Keller hatte er die Ladungen aus Mangel an Originalmunition immer ein wenig mehr mit Plättchenpulver aus einer alten Karabinerpatrone erhöht, um mehr Durchschlagskraft zu erzielen. Vor jedem Abschuß einer Ladung war sein Freund eilig aus dem Keller bis auf den Hof geflüchtet, um nach dem Schuß vorsichtig durch die spaltoffene Kellertür nach ihm Ausschau zu halten. Sebastian hatte damals darüber gelacht.

Ein anderes Geschehen hatte ihn dann aber doch wieder kurz nachdenklich werden lassen, nämlich wie abfällig der Freund sich in seiner Gegenwart über die eigenen Eltern ausgelassen hatte, um das dann aber auch rasch wieder zu verdrängen, vielleicht weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte? Auch hatte er das alles stets in ein komisches Licht gerückt, um sich die Wahrheit nicht eingestehen zu müssen.

Es hatte noch viele Warnzeichen gegeben, die er bewusst missachtet hatte. Er ahnte damals schon, dass das an diesem Freund Charakterscharten waren, die nicht auf sich allein beruhten. Doch hätte Sebastian darauf angesprochen, dies sicher von sich gewiesen..

So verging die Zeit im Gleichmaß des Zellenalltags: Der Gefangene wechselte hin und wieder von Hocker zu Hocker, man konnte ja nicht immer nur auf ein und derselben Stelle sitzen in den Stunden des Wartens auf die regelmäßige Nahrungszuteilung oder des Raustretens zur Freistunde. Ebenso war es möglich einige Schritte zwischen den Betten auf und ab zu laufen, wenn die andern saßen. Auch eine Weile durch die Fensterklappe nach draußen zu blicken in ein sonnenbeschienenes Land oder in dunstiggraue Regenschwaden, galt als Abwechslung. Gegebenenfalls an grauen Tagen dicht unterm Fenster ein Buch zu lesen und sei es ein sowjetischer Heldenroman, konnte eine ebenso willkommene Ablenkung bedeuten.

Hin und wieder erzählte ein Zellengenosse aus seinem Leben, etwa aus der Kriegsgefangenschaft in Russland, berichtete von Holzfällerarbeiten in riesigen Wäldern hinterm Ural und von der miserablen Ernährungslage dort, den vielen Kranken vor allem im Winter bei 35° bis 40° Kälte. „Stets standen vor dem Lagerzaun aber auch russische Frauen mit Kindern und bettelten um Nahrung bei uns“, erzählte einer, „die wir selbst ja bei schwerer Arbeit und mangelnder Ernährung, ums Überleben kämpften.“ Ein anderer erzählte, dass nach dem Krieg die Russen als Sieger versucht hätten, möglichst viele Kriegsgefangene in den Lagern am Leben zu erhalten. Davor aber, noch im Krieg, sei ein solches Leben nicht allzuviel wert gewesen. Insgesamt habe er im Rückblick die Zeit dort aber nicht als so schlimm empfunden wie die Beerdigung bei lebendigem Leibe jetzt hier, hatte er abschließend mit einer umfassenden Armbewegung durch die Zelle erklärt.

Kein Wunder, meinte Sebastian, denn Ähnliches war ihm schon einige Male von Kriegsgefangenen erzählt worden, von Männern, die Jahre in diesen Lagern überlebt hatten und nun aus politischen Gründen bereits wieder über Jahre in der Enge dieser Zellen zusammengepfercht saßen …

Kapitel 11

Schloss und Riegel krachten, in der offenen Tür stand ein Schließer und der Stubenälteste leierte seine Meldung herunter.

„Strafgefangene Sebaldt und Kunzmann?“ Der Schließer sah fragend in die Zelle.

Verdammter Mist! Schon wieder eine Verlegung … schoss es Sebastian durch den Kopf und er sah kurz Totila an, der wohl eine ähnliche Vermutung hegte.

„Ja, hier“, sagten beide und Totila hob dazu die Hand.

„Und Strafgefangener Sebaldt?“, kam wiederholt die Frage des Schließers.

„Ja hier“: rief Sebastian und streckte beide Arme in die Höhe.

„Warum nicht gleich so“, murrte der Schließer. „Nehmen Sie Ihre Schüsseln.

Monatspäckchen abholen“, sagte er.

Erleichterung. Doch keine Verlegung! Rasch griffen sie nach ihren Schüsseln und traten hinaus auf den Gang.

Der Wachtmeister schloss die Zelle wieder ab. „Gehen Sie.“

Die beiden kannten das bereits und freuten sich auf ihr zweieinhalb Kilo Päckchen von zu Hause. So ein Päckchen durfte man aber nur bei guter Führung in Empfang nehmen, was immer das auch heißen mochte.

Die Ausgabestelle lag im Erdgeschoß des Zellenbaus. Als die beiden dort ankamen, standen bereits Gefangene wartend vor der offenen Tür einer ausgeräumten Zelle, gegen die von innen ein Tisch geschoben worden war. Drinnen beschäftigten sich zwei Wachtmeister und ein Kalfaktor mit den zur Ausgabe vorgesehenen Päckchen, die auf einem weiteren Tisch unter’m Fenster aufgestapelt lagen.

Die Freunde wussten ja bereits wie die Wachtmeister bei der Ausgabe dieser Monatspäckchen mit den oft liebevoll verpackten Lebensmitteln umgingen. Die Empfänger ärgerten sich zwar noch, aber wunderten sich schon nicht mehr darüber, wenn ihnen etwa eine Teewurst zerschnitten in die Aluminiumschüssel geworfen wurde; oder die Pappschachtel mit Würfelzucker, die aufgerissen und deren Inhalt zur zerschnittenen Teewurst in die Schüssel gekippt wurde. Schokoladentafeln aus dem Westen landeten ebenfalls aufgerissen und zerbrochen in der gleichen Schüssel zusammen mit Keksen, durchstochenen Streichkäseecken, Lachsschinken in Streifen geteilt, zerfetzten Mandarinen … alles Westsachen.

Zusammen bildete das eine seltsame Nahrungsmittelmischung. Bei seinem ersten Päckchen vor Monaten war er mehr verblüfft als empört gewesen angesichts des Lebensmittelgemenges, das er damals in seine Zelle getragen und verärgert vor den Zellengenossen auf den Tisch gestellt hatte. Die lachten darüber nur. Darin könnte ja eine Eisensäge versteckt sein oder kleine Sprengkörper, meinten die, „oder gleich eine Bombe“, sagte einer und alle lachten. Er war sich dabei etwas doof vorgekommen. „Das ist hier immer so“, hatten sie ihn beruhigt, alle Päckchen, vor allem die mit Westsachen vom Klassenfeind, würden so zerpitzelt. Das ärgerte ihn zwar immer noch, aber wenn er weiterhin Päckchen von zu Hause bekommen wollte, musste er’s hinnehmen wie es war.

„90 % Westwaren“, sagte einer, der Sebastians Päckchen als Nahrungsschüttung in dieser Aluminiumschüssel begutachtete.

„Ja und? Ist doch nicht verboten“, reagierte Sebastian.

Der andere lachte. „Das nicht“, sagte er, „aber das ärgert die natürlich, die selbst nicht wissen wie Westschokolade schmeckt. Die Mandarinen, Zitronen oder Apfelsinen nur aus den Päckchen der Gefangenen kennen und von Lachsschinken“, dazu wies er auf Sebastians Schüssel, „noch nie was gehört haben.“

„Und deshalb dieses Massaker da?“ Der Mandarinen-, Apfelsinen- und Zitronensaft war inzwischen teilweise vom Würfelzucker aufgesogen worden, auch Kekse erwiesen sich als aufgeweicht … „So’n Päckchen wie das da“, erklärte ein anderer, „kriegt hier nicht jeder. Schon schön, wenn einer Verwandte oder Freunde im Westen hat.“

Es gab also selbst hier noch Leute, bemerkte Sebastian, denen es in bestimmter Weise schlechter ging als anderen. Gemunkelt wurde aber auch schon, dass es diese Monatspäckchen der Angehörigen von draußen künftig nicht mehr geben solle.

Wenn Sebastian durch’s Gitterfenster nach draußen blickte musste er feststellen, dass Zeit tatsächlich vergehen konnte. Das Laub der alten Kastanien neben der roten Backsteinvilla draußen vor den Zuchthausmauern und der Obstbäume in der Laubenkolonie neben der Anstalt verfärbte sich braun, gelb und rot und zeigte an, dass das Jahr, das erste Zuchthausjahr der beiden Freunde, sich allmählich seinem Ende zuneigte und dann sagte Sebastian sich, dann noch nicht einmal ein Zehntel von zehn Jahren … Rückblickend kam ihm die gefühlte Zeit hier mindestens dreimal so lang vor wie die, die tatsächlich vergangen war. Mit der Zeit hat es was auf sich, ging’s ihm durch den Kopf, als er dort durchs Gitterfenster hinaus in die sich verändernde Welt blickte. Schade, meinte er, dass die von draußen keine Päckchen mehr schicken durften. Die Anstaltsleitung fühlte sich offensichtlich durch die Westprodukte provoziert meinten die Gefangenen und das schien der Wahrheit nahe zu kommen, wenn man daran dachte wie absichtlich zerstörerisch die Wachtmeister mit dem Inhalt dieser Päckchen bei der Ausgabe stets umgegangen waren.

Willkürliche Verlegungen in immer wieder andere Zellen hatten die Gefangenen über sich ergehen zu lassen. Damit wurde eine ständige Durchmischung der Häftlinge erst einmal der obersten Station erreicht, wobei es sich dort ausschließlich um Langstrafer handelte, die sich nicht zu sehr an einen zu vertrauten Umgang miteinander gewöhnen sollten.

Wie Sebastian von anderen erfuhr, die schon einige Jahre den Zellenbau bevölkerten, hatten sie je nach Länge ihrer Strafe einige Jahre in diesen Zellen zu verbringen, ehe sie zur Arbeit in anstaltseigene Werkstätten, etwa Polsterei oder Noppe verlegt wurden. Das sei dann, hörten sie, auch mit einem Umzug nach Haus1 verbunden. Es gäbe dort große Zellen die mit drei- und vierstöckigen Betten für etwa fünfzehn bis zwanzig Gefangene ausgerüstet seien. Aber bis dahin, sagten die beiden sich, lägen ja noch Jahre im Zellenbau vor ihnen.

Kapitel 12

„Strafgefangene Sebaldt und Kunzmann Sachen packen!“, hieß es eines Tages nach der morgendlichen Freistunde, wozu der Stationskalfaktor mit der Faust mehrmals gegen die Türe hämmerte. Die Ankündigung einer Verlegung brachte immer eine Verunsicherung der Betroffenen mit sich, denn es konnte sich dabei um den Umzug in eine andere Zelle handeln, aber auch um den Transport in eine andere Anstalt.

Als dann das Schloss krachte und die Tür aufgestoßen wurde stand dort der Wachtmeister und winkte mit dem langen Schlüssel: „Kommen Sie!“

Die beiden traten, ihre Deckenbündel in den Armen, auf den Flur.

„Gehen Sie“, sagte der Wachtmeister mit einer Handbewegung.

Wohin? Diese bange Frage bewegte die beiden. Wenn es jetzt durch die Gittertür zu den Treppen geht, wird es spannend … sagte Sebastian sich.

„Gehen Sie da rechts rüber“, hörten sie erleichtert den Wachtmeister hinter sich.

Rechts rüber, sagte Sebastian sich, ja natürlich, die Brücke über den Lichtschacht … die gegenüberliegende Seite, also kein Transport.

Und dann schloss der Wachtmeister auch schon eine Türe auf.

Sebastian hörte einen jüngeren Mann Meldung machen. Als beide schließlich die Zelle betraten, begrüßten sie den Jüngeren und sahen einen älteren auf dem Kübel hocken. Sie begrüßten auch den.

„Das sind bei mir die Hämorrhoiden …“: erklärte der Alte mit entschuldigendem Lächeln diesen Kübelgang außer der Reihe.

Es grenze schon an ein Wunder, meinten die beiden Freunde, dass man sie immer noch zusammen in einer Zelle unterbrachte und sie fragten sich schon, ob damit nicht etwas bezweckt werden sollte. Über Einzelheiten ihrer Tätigkeit für den westdeutschen Nachrichtendienst sprachen sie nie miteinander. Das taten auch andere politische Langstrafer nicht. Als sie ihre Sachen in die Regalfächer geräumt und die Decken jeweils zusammengelegt auf die Strohsäcke platziert hatten, gingen sie zum Fenster und sahen hinaus. „ Die genaue Gegenrichtung unserer bisherigen Aussicht“, sagte Sebastian.

„Na klar“, bestätigte Totila, „da unten ist unser Freistundenhof.“

Und beide richteten ihre Blicke dann über die Mauer hinweg in weitläufige Gärten mit massiven Lauben und ganz im Hintergrund mehrstöckige Mietshäuser.

„Der Scheinwerfer des Wachturms dort“, sagte Totila, „wird uns nachts die Zelle erhellen.“

„Sind wir ja gewöhnt“, antwortete Sebastian.

Von den beiden, dem Älteren und dem Jüngeren in der Zelle erfuhren sie, dass beide wegen des 17. Juni verurteilt worden waren: Der Ältere zu zwölf und der Jüngere zu acht Jahren.

„Das sind ja ziemlich hohe Strafen“, stellte Sebastian fest. „Was habt ihr denn da gemacht?“

Der Alte lachte. „Geredet“, sagte er. „Ich fuhr eine elektrische Grubenbahn und kannte viele in der Senftenberger Grube.“

„Senftenberg?“, fragte Sebastian überrascht, „wir beide“, dazu tippte er Totila auf die Schulter, „sind aus Großräschen.“

„Na sieh’ an“, sagte der Lokführer.

„Aber in Großräschen war gar nichts los“, warf Sebastian ein.

„Um so mehr in Senftenberg“, sagte der Alte. „ Als wir das vom Aufmarsch und den Forderungen der Bauarbeiter in Berlin im Radio gehört hatten, machten auch wir mobil. Ich kam viel herum und habe die Leute zusammengetrommelt. Und der Markscheider hier“, und er wies mit einer kurzen Kopfbewegung auf den Jüngeren in der Zelle, „also der Siegfried, der hat zu den Leuten geredet.

Und ich hab’ dann auch noch ein paar Worte von mir gegeben.“ Er lachte wieder. „Ich hab’ ja noch nie zu so vielen Leuten gesprochen.“

„In Senftenberg war schon allerhand los“, bestätigte Siegfried, der Markscheider.

„Wir beide hier, wir waren ja nicht die einzigen, die was gesagt hatten. Und natürlich gab’s auch genug Stasi-Spitzel unter den Bergarbeitern, die dann als die Russen alles umstellt hatten, aus ihren Löchern gekrochen kamen. Einige von uns wurden noch am selben Tag abgeholt, in diese Stasivilla gebracht und dann gleich nach Cottbus in die Spreestraße.“

„Diese hübsche Villa in Senftenberg hab’ ich auch kennengelernt und diesen grobklotzigen Obersten dort.“

Siegfried, der Markscheider lachte. „Der sah aus wie ’n Russe, kam durch ’ne Tür rein, sah uns bloß an und verschwand gleich wieder.“

„Der hatte wahrscheinlich wie viele damals ’ne Scheißangst. Ohne den Iwan mit seinen Panzern wärs auch zu Ende gewesen mit der geborgten Bonzenherrlichkeit …“

„Das kann man wohl sagen“, bestätigte der Grubenbahn-Lokführer kopfnickend.

Nee, das sind keine Spitzel, sagte Sebastian sich und Totila stimmte dem ohne Worte zu.

Es gab im Zellenhaus immerhin diese wöchentlichen Rasiertermine. Sebastian und Totila hätten sie nicht unbedingt wöchentlich in Anspruch nehmen müssen.

Bei ihnen hätte es auch alle 14 Tage gereicht, doch Abwechslung erschien schon wichtig bei den Tagen dort, die sich oft so öde gleichförmig dahinquälten, als stehe die Zeit still.

So auch an diesem grauen Herbsttag, als der Kalfaktor an die Tür klopfte und : „Rasieren?“, fragte, alle Vier „ja“, sagten und der Kalfaktor sich die Namen auf einem Zettel notierte.

Am Nachmittag holte ein Schließer sie ab und führte sie nach unten in eine Zelle im ersten Stock, die bis auf zwei Hocker und einen Tisch keine weitere Einrichtung aufwies. Jeder Häftling kannte diese Zelle ja inzwischen. Auf dem Tisch befand sich wie immer eine emaillierte Wasserkanne nebst kleiner Schüssel mit Pinsel und Rasierseife. In der Ecke neben der Tür stand ein Abwassereimer. Sebastian wunderte sich, als der Einseifer, der in der Schüssel den Rasierschaum schlug und mit dem er bisher allenfalls über das Wetter gesprochen hatte, ihn auf einmal nach seiner Strafe fragte.

„Artikel 6, Kontrollratsdirektive 38“, sagte er. „Zehn Jahre“, fügte er hinzu, als er nach der Höhe der Strafe gefragt wurde.

„Ein ganz schöner Hammer“, sagte der Einseifer, während er mit dem Pinsel rührend den Schaum in dem Schüsselchen in die richtige Konsistenz brachte.

„Wie alt bist du denn?“, fragte er, während er mit Schaum und Pinsel Sebastians Kinn bearbeitete.

„Achtzehn“, antwortete der, leicht verwundert über das plötzliche Interesse.

„Wenn de raus kommst biste 28“, gab der Einseifer gnadenlos zu bedenken.

„Das weiß ich selbst“, gab Sebastian etwas ungnädig zu verstehen.

„Was meinen denn deine Eltern zu dieser Strafe?“, fragte der Einseifer, ein schätzungsweise dreißigjähriger Häftling, mit schütteren blonden Haaren über einem schmalen Gesicht. Wahrscheinlich ein Krimineller bei diesem Posten hier, ging es Sebastian durch den Kopf. „Na was sollen die schon denken“, antwortete er auf die letzte Frage.

Die nächste Frage, ob er denn noch Geschwister habe beantwortete Sebastian mit einem bloßen „Ja.“

„Na die werden doch auch ganz schön traurig sein“, insistierte der Einseifer ungerührt weiter.

„Ich bin ja nicht gestorben“, entgegnete Sebastian.

Eine Woche später, beim folgenden Rasiertermin, bemerkte der Einseifer Sebastian gegenüber wieder, dass „10 Jahre doch eine mächtig lange Zeit sind für so ’nen jungen Menschen.“ Und als er dann auch noch mit traurigem Gesicht bekundete, dass Sebastian ihm wirklich leid tue, konnte der sichs nicht mehr verkneifen zu erklären, dass seine Mitleidsbekundungen ihm lediglich unangenehm seien. Was er getan habe, sagte er, sei eben geschehen und dazu stehe er!

Natürlich, eine gewagte Aussage, das war ihm klar, aber damit hatte er nichts verraten und bereut hatte er ja weder bei der Stasi noch vor Gericht etwas. Dort hatte man ihnen beiden das sogar vorgehalten.

Der Einseifer hielt sich daraufhin mit seinen Bemerkungen Sebastian gegenüber erst einmal zurück, der sich keinen Reim darauf zu machen wusste, weshalb der gerade ihn mit seinem falschen Mitleid so herabwürdigend berührte. Anders könne man das nicht empfinden, meinte er. Vielleicht aber konnte der Einseifer das nicht begreifen. Mir soll’s halt egal sein, sagte Sebastian sich. Es ist nicht wichtig.

Und dann immer wieder das Phänomen der Zeit, das ihn beschäftigte.

Totila hielt das für Unsinn. „Zehn Jahre und sieben Jahre bleiben, wie man’s auch dreht und wendet, „zehn und sieben Jahre.“

Das sei ja nicht falsch, meinte Sebastian.

Doch Totila lehnte es ab, auf Sebastians Überlegungen einzugehen.

„Wenn man beim Thema Zeit nur das berücksichtigt, was man sehen und anfassen kann greift man vielleicht zu kurz“, sagte Sebastian.

Totila blieb dabei und hielt das was er von seinem Freund zum Thema gehört hatte, für hochgestochene Spinnereien.

Allein das was man sehen und anfassen könne, meinte Sebastian wieder, weise ja schon in recht eigenartige Zusammenhänge, die gerade dort, in dieser öden Zuchthauswelt, ganz gut wahrzunehmen seien.

Wieder waren Wochen vergangen. Die Häftlinge froren, denn die Heizungsrippen blieben kalt. Durch die Fensterklappe sickerte trübes Licht.

Sebastian stand vor dem Fenster und blickte, gegen einen Bettpfosten gelehnt, durch die geschlossene Scheibe hinaus auf die feucht glänzenden Teerpappendächer der masiven Lauben, die ganzjährig bewohnt sein sollten wie er gehört hatte. Obstbäume reckten ihr kahles Geäst schwarz in einen gleichmäßig grauen Himmel. Seine ganzen Monate in diesem Bau, rekapitulierte er, waren in aller Einförmigkeit Tag für Tag im Schneckentempo verlaufen: Wecken, Zählung, Kübel raus, Frühstück, Kübel rein, Freistunde im Hof, Mittag, Kübel raus, Zählung, Kübel rein für die Nacht, Einschluss, Licht aus … und das Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr? Richtig. Jahr für Jahr! Genau besehen geschah ja dauernd etwas, allerdings immer das gleiche. Als Unterbrechung dieser Gleichförmigkeit erwiesen sich vor allem Verlegungen. Wenn man sich mit den Menschen in einer Zelle halbwegs eingelebt hatte, hieß es bald wieder: „Sachen packen!“ Und der Eingewöhnungsvorgang begann von neuem. Schmerzlich konnte es werden, wenn man aus einer Zelle mit Menschen die man verstehen konnte, und die einen selbst verstanden, herausgerissen wurde mit der Gewißheit, dass man sich nie wiedersehen würde, um dann unter Menschen zu landen, die einem womöglich fern oder sehr fern standen. Es gab immer mehr Dinge, die Sebastian gerne mit jemandem besprochen hätte, der auch verstehen konnte worum es ihm ging.

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
1021 s. 3 illüstrasyon
ISBN:
9783957448019
Telif hakkı:
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Metin
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