Kitabı oku: «Der Nagel», sayfa 7
Sie wollte gerade erneut ansetzen, als Hans in den Augenwinkeln eine Bewegung vernahm. Er drehte den Kopf und spürte schlagartig die Anspannung in seinem Körper. Auf dem zweiten Bett bewegte sich der Haufen grauer Decken und ein Kopf schob sich unter ihm hervor. Die Augen blinzelten noch, als sie Hans anstarrten, dann wurde die Decke mit einer einzigen Bewegung auf die andere Seite des Betts geschleudert. Ein Junge sprang blitzartig heraus und war mit zwei schnellen Schritten bei der Frau, die ihren rechten Arm um ihn legte.
Hans stand wie angewurzelt in der Zelle. Mit einem kurzen, schnellen Blick überflog er den Raum. Er entdeckte niemand mehr. Es blieb bei der Frau und den beiden Kindern. Der erste Schreck ließ nach und er blies hörbar aus. Sein Herz klopfte wild und schien sich nicht wirklich beruhigen zu wollen. Er versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen und nach kurzer Zeit spürte er, wie auch sein Puls nach unten ging.
»Der Junge kann gerne in dem Bett liegen bleiben«, sagte er dann mit einer Stimme, der die Anspannung noch anzumerken war. Er deutete mit einer Handbewegung erst auf den Jungen, dann auf das freie Bett. Die beiden starrten Hans ununterbrochen an. Er machte einen Schritt nach vorne und sofort zog die Frau den Jungen näher zu sich heran. Hans blieb stehen.
»Er kann sich wirklich wieder hinlegen.« Noch einmal deutete er auf das Bett, dann fügte er hinzu: »Ich tue ihnen nichts.«
Die Frau reagierte nicht auf seine Worte, trotzdem hatte er den Eindruck, dass ihre Augen mittlerweile etwas entspannter wirkten.
Vielleicht versteht sie mich ja überhaupt nicht. Er ging zu dem freien Bett und setzte sich an das Fußende. Sein Blick wanderte erneut durch die Zelle. Die Einrichtung war karg und entgegen den anderen Zellen besaß diese noch nicht einmal einen Stuhl. In einer Ecke stand ein Nachttopf, wie er ihn aus seiner Kindheit kannte. Nur war dieser in einem Zustand, dass man sich nicht freiwillig auf ihn setzen wollte. Die dicken braunen Ränder schienen nur auf einige Fliegen eine Anziehungskraft auszuüben, die den Topf umkreisten. An der Decke hing eine einfache Glühbirne, die über eine provisorisch angebrachte Leitung mit Strom versorgt wurde. Die Wände waren unverputzt und gaben die Handwerkerkunst vergangener Jahrhunderte wieder. Die Luft war kühl und feucht. Sein Blick ging zurück zu seinen Zellengenossen. Der Junge hatte sich auf die untere Hälfte des Betts gelegt und versucht, sich ebenfalls mit der Decke zuzudecken, die das Mädchen hatte. Doch die war für beide zu kurz und so konnte er nur ein Ende über seine Beine legen.
Es wurde wieder totenstill. Von den Stockwerken über ihnen drang kein Laut herunter. Dafür waren die Mauern und Decken zu dick. Die Stille wirkte beunruhigend. Hans ging den Weg durch das Untergeschoss noch einmal in Gedanken durch. Soweit er feststellen konnte, war nur noch eine Zelle belegt. Die mit dem Offizier. Die übrigen Zellen waren leer gewesen. Ein deutscher Offizier und eine Mutter mit ihren Kindern dachte er. Wäre es nicht viel effektiver, alliierte Soldaten gefangen zu nehmen, anstatt der eigenen und ungefährlichen Zivilisten? So konnte man doch keinen Krieg gewinnen.
Er sah auf die Kinder und musste unweigerlich an seine beiden denken. Wie es ihnen jetzt wohl gehen mag? Ob Elisabeth schon weiß, dass er hier in Frankreich in einem Gefängnis saß? Auf einmal verspürte er ein starkes Bedürfnis, nach Hause zu gehen, seine Liebsten in den Arm zu nehmen und den Rest seines Lebens nur noch mit ihnen zu verbringen. Wie lange war es her, seit er nach Frankreich geflogen war? Drei, vier oder schon fünf Tage? Heute war Freitag, fiel ihm nach einiger Überlegung wieder ein, abgeflogen war er am Mittwoch. Das waren gerade mal drei Tage. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
Er verschloss die Arme vor der Brust. Es ist kalt. Ich muss mich zudecken. Er stützte sich mit einer Hand auf dem Bett ab, hob seinen Körper an und zog die Decke hervor. Dann schlang er sie um seinen Oberkörper und zog die Füße zu sich heran, sodass auch sie unter dem kratzenden Grau verschwanden. Die Decke stank modrig. Aber eine Alternative gab es nicht.
Auf dem Bett gegenüber saß die Frau noch immer an die Wand gelehnt und hatte den Kopf des Mädchens auf dem Schoß liegen. Der Junge lag auf der Seite, hatte beide Beine angezogen und die Arme zwischen die Oberschenkel geschoben. Seiner Haltung nach fror er. Hans drehte seinen Kopf zum Kopfende des Betts. Dort lag noch eine weitere Decke. Genauso grau und vermutlich auch genauso muffig und kratzig. Er stand auf und nahm sie in die Hände. Es kitzelte ihm in der Nase, als er die Arme streckte, damit der Stoff auseinanderfallen konnte. Die Decke an den ausgestreckten Armen vor sich hängend, ging er langsam auf das andere Bett zu. Die Frau beobachtete nach wie vor jede seiner Bewegungen, reagierte aber diesmal nicht auf sein Näherkommen. Behutsam legte er die Decke über den Jungen. Der rührte sich nicht, wahrscheinlich war er schon eingeschlafen. Dann ging er an seinen Platz zurück. Er lehnte den Kopf an die Wand. Sie war eiskalt, aber er ignorierte es. Er schaute eine Weile ausdruckslos durch die Zelle, dann wurden seine Augenlider immer schwerer, die Müdigkeit überkam ihn. Er schloss die Augen und vor ihm lief ein Film ab. Der Film seines Lebens.
Er sah sich als kleiner Junge über eine Wiese rennen, in die ausgestreckten Arme seiner Mutter, dahinter stand sein Vater, der ihn anlachte. Dann als Jugendlicher in einem schwarzen Anzug, mit Tränen in den Augen, auf einem Friedhof stehen. Vor dem Grab des Vaters. Dieter stand auf einmal neben ihm, als sie an der Technischen Hochschule in Dresden ihr Abschlusszeugnis entgegennahmen, dann küsste er Elisabeth in einem Brautkleid in der Kirche. Als stolzer Vater hielt er seinen Sohn Klaus und seine Tochter Franziska in den Armen und unter lautem Getöse startete unmittelbar danach eine A4-Rakete vom Prüfstand VII in Peenemünde. Dann sackte ein dunkel gekleideter Mann unter einer Straßenlaterne zusammen und der Schuss hallte Hans noch in den Ohren, als er langsam die Augen öffnete.
Hatte er geschlafen? Er blinzelte in die Helligkeit, die zugenommen zu haben schien und sah die Frau, halb zusammengesunken, an der Wand. Er rutschte auf dem Bett umher. Seine Gelenke fühlten sich an wie ein Getriebe, das seit Jahren kein Öl mehr gesehen hatte. Jede Bewegung schmerzte und er fror am ganzen Körper. Langsam versuchte er, alle seine Glieder zu bewegen und ihnen so ein bisschen Leben einzuhauchen. Von den Geräuschen wurde die Frau wach und brachte sich mühsam in eine aufrechte Position. Hans sah sie eine Weile an, dann fragte er unvermittelt und ohne darüber nachgedacht zu haben: »Warum sind Sie hier?«
Die Frau reagierte nicht. Hans schaute ihr in die Augen, doch sie antwortete nicht.
»Ich habe auch zwei Kinder«, fuhr er fort. »Einen Jungen und ein Mädchen. Der Junge wird schon bald fünf Jahre alt, er hat im Sommer Geburtstag, meine Kleine ist zweieinhalb.« Hans Blick verlor sich in seinen Gedanken, die zurück nach Deutschland wanderten. Unbewusst fuhr er fort: »Meine Kleine liebt es, mit Puppen zu spielen. Sie kann sich stundenlang mit ihnen beschäftigen, und sprüht nur so vor Ideen, wenn es um ihre Puppen geht.« Hans sprach einfach weiter. Er fragte sich nicht, ob die Frau ihn überhaupt verstehen konnte oder wollte. Er war ganz in sein Privatleben eingetaucht, erzählte von seiner Familie und davon, wie sehr er sie doch vermisse. Er sprach wie in Trance, ohne sich bewusst zu sein worüber.
»Ihr habt meinen Mann erschossen«, stieß die Frau ganz plötzlich hervor. Sie sagte es in einer Lautstärke, die Hans in seinen Ausschweifungen zwar kurz stocken ließ, die ihn aber nicht vollends aus dem Rhythmus brachte. Nach einem kurzen Zögern fuhr er fort, ohne wirklich registriert zu haben, was sie gesagt hatte.
»Die SS hat meinen Mann ermordet«, gab die Frau erneut von sich. Diesmal aber so laut und deutlich, dass Hans abrupt innehielt und aufhorchte.
»Ihr habt meinen Kindern den Vater genommen«, wiederholte sie mit zittriger Stimme. Ihre Augen wurden feucht, ihr war die Verzweiflung anzusehen. »Mich interessiert überhaupt nicht, was ihre Kinder für Vorlieben haben. Meine Kinder werden ohne einen Vater aufwachsen müssen.« Sie fing an zu schluchzen. Tränen liefen ihr über das Gesicht, das sie nun in ihren Händen vergrub. Ihr Körper vibrierte sichtbar.
Hans saß nur da und starrte sie an. Jäh aus seinen Gedanken gerissen und mit der grausamen Realität konfrontiert, wusste er nicht, was er sagen sollte. Das Mädchen im Schoß der Frau bewegte sich, streckte die Beine und drehte sich auf die andere Seite. Offenbar war sie nicht aufgewacht. Der Junge schlief weiterhin unter seiner Decke. Die Bewegungen des Kindes führten dazu, dass ihre Mutter etwas ruhiger wurde. Sie rutschte in eine sichtbar bequemere Position und legte die Hand auf die Schulter ihrer Tochter.
Hans wurde unruhig. Trotz der vorherrschenden Kälte wurde ihm plötzlich warm und er spürte, wie er sogar anfing zu schwitzen.
Schlagartig sah er sich wieder als Jugendlicher auf dem Friedhof stehen. Eine Situation, die ihm immer widerfuhr, wenn es um den Verlust eines ihm nahestehenden Menschen ging. Auch wenn er die Familie nie zuvor gesehen hatte, alleine die Tatsache, dass diese beiden Kinder ihren Vater verloren hatten, stellte eine Verbundenheit zu ihnen her und eine ihm bekannte Trauer überfiel ihn.
Es passierte am 16. Mai 1930. Für Hans war es Zeit gewesen, zur Schule aufzubrechen. Seine Mutter hatte ihm das Pausenbrot gerichtet und in die Schultasche getan. Er hatte die Schuhe geschnürt und die Schultasche über die Schulter geworfen. Dann hatte er sich von seiner Mutter verabschiedet und zu seinem Vater gerufen: »Bis heute Abend.« Wie jeden Morgen hatte sein Vater am Frühstückstisch gesessen und Zeitung gelesen. Er ließ das Blatt sinken und sah mit einem Lächeln zu ihm rüber: »Mach‘s gut, mein Junge!« Hans hob zum Abschied noch einmal kurz die Hand, dann verschwand er durch die Tür. Das Lächeln seines Vaters und die Worte »Mach‘s gut, mein Junge!« sollten Hans für immer im Gedächtnis bleiben.
Es war gegen halb zwölf Uhr, als der Direktor der Schule in das Klassenzimmer kam und Hans herausholte. Er nahm ihn mit in sein Büro und eröffnete ihm, dass sein Vater an diesem Morgen bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Dass es durch die Explosion bei einem Raketentest passierte, erfuhr er erst später, da dies nicht offiziell bekannt gegeben wurde. Sein Vater hatte an geheimen Raketentests für das Militär gearbeitet.
Hans fühlte sich an den Tag zurückversetzt, an dem er im Büro des Schuldirektors saß und die schreckliche Nachricht erhalten hatte. Der Vater war tot. Sein Vater, der ihm immer ein großes Vorbild gewesen war und in dessen Fußstapfen er einmal treten wollte. Hans hatte auf dem einfachen Holzstuhl gegenüber dem Direktor gesessen und versucht, die Tränen zurückzuhalten. Er wusste nicht mehr, wie er nach Hause gekommen war. Seine Mutter hatte ihn mit tränenunterlaufenen Augen in den Arm genommen und Hans spürte die Leere, die damals plötzlich in der Wohnung herrschte, genauso wie die Leere in seinem Körper. Der Tod seines Vaters hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Er wurde schweigsam, sprach fast nichts mehr und zog sich von seinem Freundeskreis zurück. Seine schulischen Leistungen ließen spürbar nach und er konnte froh sein, dass zu diesem Zeitpunkt die wichtigsten Klassenarbeiten schon geschrieben waren. Dadurch war seine Versetzung in die nächste Klasse nicht gefährdet.
Dieter war der große Rückhalt für Hans gewesen. Obwohl Dieter in Dresden wohnte, besuchte er Hans regelmäßig in Berlin und blieb die gesamten Sommerferien bei ihm. Es war nicht leicht für Dieter, ihn zu Veranstaltungen und Ausflügen mitzuschleifen, mit denen er versuchte, Hans wieder in das Leben zurückzuführen. Anfänglich widersetzte sich Hans vehement, doch ließ sein Widerstand gegen Ende der Ferien endlich etwas nach. Er ging jetzt zwar bereitwilliger mit Dieter aus, blieb dabei aber weiterhin ziemlich teilnahmslos.
Das folgende Schuljahr war schwer. Dieter reiste nach den Ferien wieder zurück nach Dresden, hielt aber, so oft es ging, Kontakt zu ihm. Er versuchte Hans Interesse an der Raketentechnik, das ebenfalls völlig versiegt war, wieder zu wecken. Dieters unermüdlichem Einsatz war es zu verdanken, dass Hans den Abschluss der Schule schaffte. Dieter gelang es, mithilfe der Beziehungen seines Vaters, einen Studienplatz für sie beide an der Technischen Hochschule in Dresden zu bekommen. Im Herbst 1932 begannen sie ihr Studium der Luftfahrttechnik. Der Wechsel zurück nach Dresden hatte spürbare Auswirkungen auf Hans. Die Vertrautheit mit der Stadt, in der er aufgewachsen war, die vielen Bekannten aus seiner Jugendzeit sowie der Umgang mit den Kommilitonen, die es verstanden, ausgiebig zu feiern, ließen ihn den schrecklichen Tod seines Vaters mehr und mehr verdrängen. Schon bald war Hans einer von vielen Studenten an der Hochschule, dessen wiedergewonnene Begeisterung an der Luft- und Raumfahrttechnik ihn die einzelnen Semester mit Bestnoten abschließen ließ. Er hatte sich vorgenommen, die Arbeit seines Vaters fortzusetzen und so bereitete er sich gewissenhaft auf die Prüfungen vor. Schlagartig trat seine Begeisterung für die Luftfahrttechnik 1937 in den Hintergrund, als er Elisabeth kennenlernte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen und brachte Hans mehrfach Ärger mit Julius ein. Julius Brenner war ein ehrgeiziger SS-Mann und zu diesem Zeitpunkt der Freund von Elisabeth gewesen. Hans traf sich ein paar Mal heimlich mit ihr, bis sie zwei Wochen später die Beziehung zu Julius offiziell beendete, was Hans neben einem Schwur auf ewige Rache auch zwei blaue Augen einbrachte.
Ihre Beziehung festigte sich und so fiel ihnen die Trennung im Herbst 1937, als Hans und Dieter als Jahrgangsbesten ein Angebot der Wehrmacht für die Forschung und Entwicklung neuer Waffensysteme in Peenemünde annahmen, extrem schwer. Doch das war die Chance für Hans, die Arbeit seines Vaters fortzusetzen. Die wenigen Möglichkeiten, sich im Urlaub oder den seltenen, verlängerten Wochenenden zu treffen, verliefen entsprechend heftig und so war es Ende 1938 gewesen, als Elisabeth ihm mitteilte, dass sie schwanger war. Bevor ihr Sohn auf die Welt kam, heiraten sie im Frühjahr 1939 und im gleichen Sommer zog Elisabeth mit ihrem Sohn in das Haus von Hans Mutter in Berlin. Dies hatte den Vorteil, dass sie sich jetzt häufiger sehen konnten, da Hans beruflich regelmäßig in die deutsche Hauptstadt fliegen musste. Er genoss die wenige Zeit mit seiner Familie und auch seine Mutter freute sich über neues Leben in ihrem Heim. Zwei Jahre später bekamen sie eine Tochter, die sie Franziska tauften. Abgesehen von den kriegsbedingten Beeinträchtigungen gingen die folgenden Jahre ihren gewohnten Lauf. Nach dem schweren Luftangriff auf Berlin im November 1943 entschieden sie, dass Elisabeth mit den Kindern zurück nach Dresden ziehen solle, da dort die Gefährdung durch die Bomber deutlich geringer war. Hans Mutter weigerte sich mitzugehen, sie wollte ihr Haus in Berlin nicht aufgeben.
Der Umzug nach Dresden erfolgte im Dezember 1943, da Hans Eltern noch ihre frühere Wohnung besaßen. Nachdem sie eine Zeit lang vermietet war, stand sie jetzt leer, sodass sie nach einer ausgiebigen Reinigung kurzfristig umziehen konnten.
Allerlei Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf und er wusste nicht, was mit ihm geschah. Wie es jetzt weitergehen sollte. Er saß als Gefangener in dieser Zelle. Zusammen mit einer Mutter und ihren beiden Kindern, deren Mann von der SS ermordet wurde. Er sah die Frau an, dann die beiden Kinder und ein starkes Gefühl der Verbundenheit und der Mitverantwortung für ihre Situation kam in ihm auf. Sein persönliches Schuldgefühl wuchs, und als die Frau ihn plötzlich mit tränennassen Augen ansah, hörte er sich sagen: »Ich werde Ihnen helfen. Das verspreche ich Ihnen!«
Im Atlantik, vor Lorient, Freitag, 2. Juni 1944, 23:00 Uhr
U-2500 war befehlsgemäß um 22:00 Uhr aus dem Bunker ausgelaufen. Der schlanke Bootskörper wurde an der Hafenmauer festgemacht, die Mannschaft befand sich in erhöhter Alarmbereitschaft. Neben dem Kapitän, dem leitenden Ingenieur (LI) und den Wachen im Turm waren nur noch die Männer draußen, die den Hänger am Boot festmachten. Mit geübten Handgriffen hatten sie ihn in kürzester Zeit befestigt und dem Kapitän Vollzug gemeldet. Am Kai standen nur einige Marineoffiziere, als das Boot die Leinen einholte und die starken Elektromotoren das Gespann langsam auf Fahrt brachten. Das Hafengebiet war weiträumig abgesperrt und nahezu die gesamte Beleuchtung ausgeschaltet worden. Nur wenige Markierungslichter gaben dem Kapitän auf der Brücke die Chance, den sicheren Weg aus dem Hafen zu erkennen. Fast geräuschlos glitt der geschmeidige Bootskörper durch das ruhige, tiefschwarze Hafenwasser, und wenn der Mond eine der kleinen Wolkenlücken fand, konnte man die weiße Bugwelle vor dem Boot ausmachen.
Ohne bemerkt zu werden, hatte U-2500 den Hafen von Lorient verlassen, und steuerte jetzt mit einer Geschwindigkeit von dreizehn Seemeilen durch den schwarzen Atlantik einem noch unbekannten Ziel entgegen.
»Mann auf Brücke?«, war die Stimme des Kapitäns zu hören und nach einer Bestätigung schwang sich der Kapitänleutnant nach oben. Ein kurzer Blick in den wolkenverhangenen Himmel, dann nahm er sein Glas und betrachtete den erleuchteten Horizont hinter ihnen. Starke Flakscheinwerfer streckten ihre langen, weißen Tentakeln in den dunklen Nachthimmel auf der Suche nach Opfern. Das dumpfe Grollen schwerer Flugzeugmotoren war zu hören, in das sich die Explosionen der Bomben und der Flakgeschosse mischten.
»Schwerer Luftangriff auf Lorient, Herr Kaleu«, sagte der LI, ohne sein Glas von den Augen zu nehmen. »Da haben wir Glück gehabt, dass wir schon weg sind.«
»Wie spät ist es?«
»Genau dreiundzwanzig Uhr, Herr Kaleu.«
Der Kapitän sah eine Zeit lang schweigend durch sein Glas, dann fragte er unvermittelt: »Glauben Sie an einen Zufall, dass die Briten genau zu der Uhrzeit angreifen, zu der wir ursprünglich auslaufen sollten?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er das Glas ab und schaute wieder nach oben.
»Wir gehen runter. Klar zum Tauchen!«
London, Montag, 5. Juni 1944, 21:30 Uhr
»Verdammt nochmal, geht das denn nicht ein bisschen schneller?« David rutschte auf der Rückbank hin und her wie ein aufgeregtes Kind, das sich nach langer Abwesenheit auf das Wiedersehen mit seiner Mutter freute und das Treffen kaum erwarten konnte. »Da vorne rechts, der Weg ist kürzer. Und drücken Sie endlich mal drauf, Baker.«
David spähte in die abgedunkelten Straßen Londons und versuchte, Lieutenant Baker anzutreiben.
Eine gespannte Atmosphäre hing in der Luft. Was kaum jemand wusste, abgesehen von den Verantwortlichen und beteiligten Soldaten, war die Tatsache, dass der Befehl zur Invasion in der Normandie erteilt worden war. Der lang erwartete Angriff im Westen auf die von den Nationalsozialisten propagierte Festung Europa hatte begonnen.
Während auf deutscher Seite ein unruhiger Abend zu Ende ging, drängten sich in den vielen Booten, die über den Kanal dampften, die einzelnen Wellen der Invasionstruppen zusammen, die sich aus Soldaten unzähliger Nationen zusammensetzten. Viele der Männer hatten einen ganz persönlichen Grund, die Deutschen aus dem besetzten Frankreich hinauszuwerfen. Hatten einen ähnlichen Grund wie David, der seine geliebte Frau bei den Bombenangriffen verloren hatte. Doch sogar jetzt, wo in wenigen Stunden der massive Angriff der Alliierten eine weitere Front eröffnen würde, konnte David dies nicht als Genugtuung empfinden. Seit er erfahren hatte, dass Frank mit den restlichen Unterlagen aus dem Koffer von Carl den englischen Luftraum erreicht hatte, war er nicht mehr zu halten. Unruhig war er in seinem Zimmer umhergelaufen. Er fluchte über die Uhr, deren Zeiger sich so gut wie nicht bewegten, und war nicht in der Lage, die verbliebene Zeit in irgendeiner Form sinnvoll zu nutzen. Er war fixiert darauf, den Deutschen mit ihrem Führer Adolf Hitler persönlich einen Stich ins Herz zu versetzen. Alles drehte sich jetzt um die Papiere und das, was er sich von ihnen versprach. Aber zuerst musste er sie einmal haben.
»Wie spät ist es, Baker?«
»Halb zehn, Mr Petrie.«
Frank musste jeden Moment landen.
»Fahren Sie da vorne links, Baker. Dann können wir die nächste große Kreuzung umgehen.«
»Die Straße ist gesperrt, da bin ich neulich schon nicht durchgekommen«, versuchte Baker David zu beruhigen. »Wir sind ja gleich da.«
Ein paar Minuten später hielt Lieutenant Baker den Wagen vor der Einfahrt des Flughafens Uxbridge an. Er gab dem Posten ihre Papiere. Der warf nur einen flüchtigen Blick drauf, dann nickte er, gab ihnen die Dokumente zurück und ließ die Schranke öffnen. David hatte den Besuch angekündigt.
Baker steuerte den Wagen auf die Hangars zu, vor denen einige Maschinen standen. Er stellte den Wagen neben der dunklen Wand einer riesigen Flugzeughalle ab. Weit waren sie nicht gekommen, aber der Flughafen war bis auf den letzten Zentimeter voll mit Kriegsmaterial, Verpflegung und einer großen Zahl von Soldaten, die in Gruppen auf ihren Abtransport warteten. An ein Weiterkommen mit dem Wagen war nicht zu denken.
David stieg aus, schlug die Tür zu und versuchte sich einen Überblick zu verschaffen. Frank sollte auf Landebahn drei ankommen, bei dem Verkehr und den ununterbrochen startenden Maschinen war eine andere Rollbahn aber genauso möglich. David orientierte sich kurz, dann ging er mit schnellen Schritten auf den Tower zu, der sich als schwarzer Schatten vor dem nur minimal helleren Hintergrund abhob.
»Bleiben Sie beim Wagen, Baker«, rief er seinem Fahrer noch zu, dann war er verschwunden.
In einer wahren Zickzack-Linie musste er das, aus seiner Sicht völlig unkontrolliert abgestellte Kriegsmaterial, Fahrzeuge sowie Gruppen von Soldaten umgehen. Er fluchte und seine Ungeduld wuchs. Endlich am Tower angelangt, versperrten ihm zwei Wachposten den Weg. Er musste sich ausweisen. Innerlich schon fast am Explodieren, erkundigte er sich nach dem verantwortlichen Leiter der Flugaufsicht. Er musste dringend in Erfahrung bringen, auf welcher Landebahn Frank reinkommen würde. Wenn er nicht sogar schon da war. Bei dem Trubel sah er keine Chance, ihn da draußen zu finden.
Der Leiter der Flugaufsicht, ein Colonel mit dem Bauchumfang einer hundertjährigen Eiche, empfing David mit einem freundlichen Lächeln.
»Good evening, Mr Petrie.« Mit seiner fleischigen Pranke drückte er die Finger von Davids rechter Hand fast zu Mus. David schloss vor Schmerz kurz die Augen und quälte sich ein Lächeln hervor, dann kam er sofort auf sein Anliegen zu sprechen.
»Ist das Flugzeug aus Stockholm schon angekommen?«
Der Colonel sah ihn an wie jemanden vom anderen Stern. »Aus Stockholm? Wissen Sie eigentlich, was hier gerade abgeht?«
»Na klar weiß ich das. Ich will auch nur wissen, ob das Flugzeug schon gelandet ist. Auf welcher Landebahn?«
Der Colonel zuckte mit den Schultern, drehte sich gemächlich um und fragte einen vorbeigehenden Soldaten. Doch der zuckte ebenfalls nur die Schulter, rief etwas durch die offene Tür in den Nebenraum, wartete kurz die Antwort ab und schüttelte dann den Kopf.
Mit nach oben gezogenen Schultern wandte sich der Colonel wieder David zu. Er setzte eine hilflose Mine auf. »Tut mir leid, von einem Flugzeug aus Stockholm wissen wir hier nichts.«
»Das gibt‘s doch gar nicht«, fluchte David und schaute an dem Fleischberg vorbei. Er suchte jemand, der den Eindruck hinterließ, dass er sich offensichtlich besser auskannte, als dieses hohle Stück Fett.
»Verdammt! Ich habe vorhin extra angerufen und man sagte mir, dass das Flugzeug gegen halb zehn landen würde. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was in Ihrem Laden abläuft?« David kam in Fahrt.
»Sir, ich habe hier die Aufsicht und die Verantwortung über den gesamten Flughafen und ich weiß sehr wohl, was hier läuft. Und wenn Sie sich jetzt nicht zusammenreißen, dann schmeiße ich Sie raus. Wir haben heute Nacht hunderte von Einsätzen zu koordinieren. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Soldaten mit ihrem Material heil in die Luft kommen. Und da kommen Sie mir gerade recht mit einem Flugzeug aus Stockholm.«
David konnte sich kaum noch halten.
»Ist Ihnen eigentlich klar, mit wem Sie hier sprechen?«
Der Colonel blieb unbeeindruckt.
»Wie ich bereits sagte, Sir. Ich habe hier die Verantwortung und eine Aufgabe zu erfüllen. Und genau das werde ich tun. Und dabei lasse ich mir von niemandem reinreden.«
Der Colonel hob seine rechte Hand und winkte zwei Soldaten herbei, die sich demonstrativ neben David postierten.
David warf einen kurzen Blick über seine Schultern. Dann ging er drohend einen Schritt auf die Tonne zu und schnaubte: »Ich sage Ihnen eins. Wenn wir die Informationen aus Stockholm nicht bekommen und nicht darauf reagieren können, dann schicken Sie unsere Männer umsonst nach Frankreich. Dann werden wir diesen verdammten Krieg verlieren.« Er richtete seinen Zeigefinger drohend auf den Fleischberg.
Der Colonel nickte nur kurz. Davids Oberarme schmerzten, als die Soldaten ihn packten.
»Schon gut«, sagte er in beruhigendem Ton und wandte sich aus dem Griff. »Ich gehe ja schon. Aber das hat ein Nachspiel, das versichere ich Ihnen.«
Mit einem Mal wurde es laut. Jemand hatte die Tür geöffnet und der Lärm des Flughafens erfüllte den Raum bis in den letzten Winkel.
»Hallo David«, hörte er plötzlich hinter sich eine bekannte Stimme. Er drehte sich um und sah neben dem Eingang einen Mann stehen. Dieser hob die Hand und winkte. Dann ging er auf David zu.
»Frank«, sagte David erfreut, schüttelte ihm die rechte Hand und klopfte mit der anderen auf seine Schulter. »Hast du die Dokumente dabei?«
»Klar«, erwiderte Frank, als wäre alles kein Problem gewesen und sein Gesicht strahlte vor Stolz. »Zumindest das, was davon übrig geblieben ist.«
»Was soll das heißen?« David erschrak und spürte schlagartig Nervosität aufsteigen, die die Wut in seinem Bauch verdrängte. »Wo sind die Sachen?«
»Hier.«
Frank hob seinen linken Arm mit einem braunen Koffer in die Höhe. »Da sind sie. Da ist alles drin, was noch gerettet werden konnte.«
David riss ihm den Koffer fast aus der Hand, kniete sich nieder, und ließ die beiden Schlösser aufschnappen. Dann hob er den Deckel an. Vor ihm tauchten eine Unmenge von braunen Umschlägen und Mappen auf. Dokumente aus Papier konnte er nicht erkennen.
»Wir haben alle Dokumente einzeln in die Umschläge gepackt, damit sie gut geschützt sind. Lass uns gehen, dann können wir sie uns im Büro anschauen.«
David nickte und klappte den Deckel wieder zu. Er nahm den Koffer und wandte sich zur Tür. Er verließ hinter seinem Assistenten den Raum ohne sich noch einmal nach dem schwergewichtigen Colonel umzusehen, der immer noch an der gleichen Stelle stand, an der er David die Hand geschüttelt hatte.
»Was ist denn hier los?«, fragte Frank, als er die vielen Soldaten und Unmengen an Material sah, während sie zu ihrem Wagen gingen.
»Es geht los«, antwortete David. »Jetzt machen wir den Deutschen endgültig den Gar aus.«