Kitabı oku: «500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen», sayfa 7
6. Allein durch den Glauben
Was aber ist nun im Sinne reformatorischer Theologie unter dem Glauben zu verstehen, durch den allein der Mensch gerechtfertigt wird? Gerhard |83| Ebeling bringt das Glaubensverständnis Luthers auf die knappe Formel: «Glauben ist gutes Gewissen.»56 Das gute Gewissen stützt sich nicht auf die eigenen Werke und Leistungen, die der Mensch vollbringt, sondern allein auf Gottes Werk in Jesus Christus. Es ist ein befreites Gewissen, wie überhaupt der Glaube in der Erfahrung einer neu gewonnenen Freiheit von der Sünde und für Gott und den Mitmenschen besteht.
Letztlich ist die Lehre von der bedingungslosen Annahme und Rechtfertigung des Gottlosen nichts anderes als eine Freiheitslehre. Nach reformatorischem Verständnis sind Heilsgeschehen und Heilsgeschichte eine Geschichte der Freiheit, genauer gesagt, eine Geschichte der Befreiung. Der Glaube ist das Bewusstsein einer neu gewonnenen Freiheit, zu der die Glaubenden durch Christus befreit sind (vgl. Gal 5, 1).57
Befreit zum Glauben kann der Mensch «Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen», wie Luther in der Auslegung zum Ersten Gebot sagt.58 Am Glauben erweist sich auch das Wesen der Sünde. Sünde ist wesenhaft Unglaube, und das meint eben mangelnde Gottesfurcht und Gottesliebe, fehlendes Vertrauen zu Gott.59
Der Glaube aber ist weder ein menschliches Werk oder Vermögen noch eine Tugend im Sinne einer philosophischen Tugendlehre, sondern allein Gottes Werk und Gabe, so gewiss der Mensch selbst im Akt des Glaubens als Subjekt beteiligt ist. Luther beschreibt den Glauben in seiner Auslegung des dritten Artikels des Apostolikums als Werk des Heiligen Geistes: «Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten».60 Wie die Rechtfertigung ist also auch der Glaube als ein trinitarisches Geschehen zu begreifen, das durch Vater, Sohn und Heiligen Geist bewirkt wird.
Ebenso sagt es auch der Heidelberger Katechismus, die wichtigste Bekenntnisschrift der reformierten Kirchen, in der Antwort auf die 21. Frage, was wahrer Glaube sei: Glaube «ist nicht allein eine gewisse |84| Erkenntnis, dadurch ich alles für wahr halte, was uns Gott in seinem Wort offenbaret, sondern auch ein herzliches Vertrauen, welches der Heilige Geist durchs Evangelium in mir wirket, dass nicht allein andern, sondern auch mir Vergebung der Sünden, ewige Gerechtigkeit und Seligkeit von Gott geschenkt sei aus lauter Gnaden, allein um des Verdienstes Christi willen.»61
Das Evangelium, von dem Luther und der Heidelberger Katechismus sprechen, ist, mit Paulus gesprochen, das kērygma Iēsu Christu (vgl. Röm 16, 25). Diese Formel beinhaltet gleichermaßen einen Genetivus objectivus wie einen Genetivus subjectivus. Es handelt sich beim Kerygma Jesu Christi also nicht nur um die Verkündigung, deren Inhalt Jesus Christus ist, sondern auch um die Verkündigung, deren Urheber und Subjekt Christus ist. Eben darum gehören Wort und Glaube nach reformatorischem Verständnis unmittelbar zusammen.
Wo die Botschaft von Jesus Christus Aufnahme findet, wirkt Christus selbst. Mit Rudolf Bultmann gesprochen, beginnt das Christentum damit, dass der Verkündiger zum Verkündigten geworden ist. Dadurch, dass er verkündigt wird, spricht Christus selbst in die Gegenwart hinein.
Im Neuen Testament wird Jesus von Nazareth als das Wort Gottes bezeichnet. Er ist freilich nicht mehr unmittelbar präsent, sondern nur mittelbar durch die christliche Verkündigung, paulinisch gesprochen: durch das Kerygma. Das Kerygma ist Wort des Glaubens, auch dies in der doppelten Bedeutung des Genetivs: Es bezeugt den Glauben an Jesus Christus und ist zugleich das Medium, welches den Glauben hervorruft. In der Botschaft (nicht im Bericht!) des Glaubens, in welcher der Glaube an Jesus als den Christus Gottes bekannt wird, kommt Gott selbst zur Sprache. Gott ist also diejenige Größe, welche die Botschaft des christlichen Glaubens als vermittels ihrer selbst Glauben provozierende und als solche in Erscheinung tretende zur Sprache bringt. Solchermaßen tritt Gott als Grund des Glaubens und damit als Grund aller Wirklichkeit in Erscheinung.
Dass das «Wort des Glaubens» einerseits als Bekenntnis von Glauben, andererseits als Provokation zum Glauben zu verstehen ist, bedarf noch einer genaueren Erklärung. «Provokation» meint wörtlich «hervorrufen». Sofern das Wort des Glaubens die Weise ist, in der Gottes schöpferisches Wort vernehmbar wird, meint «hervorrufen» so viel wie «ins Sein rufen», |85| nicht etwa nur «herausfordern», wie wir das Wort «provozieren» üblicherweise übersetzen. Die Provokation des Wortes des Glaubens ist nicht nur als Forderung, d. h. als Appell zum Glauben zu verstehen. Vielmehr spricht das Wort des Glaubens «in der Weise vom Glauben, dass es ihn zuspricht und gibt, anstatt ihn nur zu fordern und abzuverlangen».62 Der neutestamentliche Glaube ist also «ein integrierender Bestandteil des Ereignisses, das er bezeugt».63
Ist die Weise, in welcher uns Gottes Wort in Menschenworten begegnet, keine andere als das Wort des Glaubens, so ist der Glaube selbst – wie von Bultmann zu lernen bleibt – als eine Weise des Verstehens zu interpretieren. Der Glaube als eigentümliche Weise des Selbstverständnisses begreift sich aber passivisch als ein von Gott Erkannt- und Verstandenwerden. Auf ein letztes Offenbarwerden des eigenen Selbst richtet sich die eschatologische Hoffnung des Paulus in 1Kor 13, 12: «Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.» Der Glaube ist folglich nicht eine Weise aktiver Selbstbestimmung, sondern ein passives Bestimmtsein.64 Wiewohl der Glaubende im Glauben sich selbst neu versteht bzw. das gläubige Selbst sich selbst in Gott gründet, bleibt der Glaube doch ein Widerfahrnis, das sich bei aller Tätigkeit des Subjekts gerade nicht als eigenmächtige Tat, sondern nur als Gabe verstehen lässt. Von menschlicher Selbstbestimmung kann darum mit Blick auf den Glauben allenfalls so gesprochen werden, dass im Glauben das vorgängige Bestimmtsein durch Gott anerkannt und nachvollzogen wird.
Der Glaube aber bleibt nicht selbstgenügsam bei sich selbst, sondern er ist gepaart mit der Liebe zu Gott und dem Mitmenschen wie auch mit der Hoffnung. In den johanneischen Schriften des Neuen Testaments wird Gottes Wesen als Liebe und der Glaube als ein Sein in der Liebe beschrieben. Glaube und Liebe verhalten sich nach Luther zueinander wie |86| Person und Werk,65 Täter und Tat66. Der Glaube zeigt sich in der Dankbarkeit,67 die in einem gelebten Ethos praktisch wird. Er kann aber nicht darauf reduziert werden, lediglich als Motivation zum Handeln zu dienen.
Die Rechtfertigungsbotschaft setzt voraus, dass zwischen dem Handeln Gottes und demjenigen des Menschen begrifflich unterschieden wird. Wenn Luther von den Taten der Liebe als Früchten des Glaubens spricht, steht das Handeln des Menschen freilich nicht unverbunden neben dem Handeln Gottes, sondern es bezieht sich gerade auf dasjenige, was allein Gottes Werk ist. Die Rechtfertigungslehre spricht exklusiv vom gnädigen Handeln Gottes am Menschen und der Welt. Die Rede vom rechtfertigenden Handeln Gottes eröffnet ein spezifisch theologisches Verständnis von Freiheit, welche die Grundbedingung allen Handelns ist. Auf diese Weise werden sowohl der gängige Handlungsbegriff als auch ein allgemeines Verständnis von Ethik der Kritik unterzogen. Eine rechtfertigungstheologisch begründete Ethik ist, recht verstanden, nicht so sehr eine solche des Tuns als vielmehr des Lassens. In Umkehrung des Satzes aus Jak 1, 22 lautet ihr Motto, plakativ formuliert: «Seid aber Hörer des Wortes und nicht Täter allein, wodurch ihr euch selbst betrügt!»
Das Hören des Wortes Gottes weist ein in eine Ethik des Lassens, die Gott Gott und den Mitmenschen ihn selbst sein lässt, statt über ihn und die Welt eigenmächtig verfügen zu wollen.68 Es kommt eben keineswegs darauf an, mit Marx gesprochen, die Welt oder unsere Mitmenschen nach unseren Heilsvorstellungen zu verändern oder zu verbessern, sondern darauf, sie zu verschonen. Den Anderen und die Schöpfung sein zu lassen, schließt freilich das tätige Wohlwollen ein, das jedoch immer wieder in die Gefahr geraten kann, den Mitmenschen paternalistisch zu bevormunden. Eine aus der Rechtfertigung begründete Ethik ist daher immer auch eine Ethik der Selbstbegrenzung des handelnden Subjekts.
Es gilt, das Evangelium, d. h. die gute Nachricht von der Rechtfertigung des Gottlosen allein durch den Glauben, gegen seine Verkürzung auf eine bestimmte Moral zu schützen. Auch zu diesem Zweck ist das vierfache solus reformatorischer Theologie in Erinnerung zu rufen. Die |87| Rechtfertigungsbotschaft ist freilich ebenso gegen das Missverständnis zu schützen, als komme es auf das menschliche Tun und Lassen gar nicht an. Der Glaube ermutigt und befähigt gerade zur Verantwortungsübernahme vor Gott und den Menschen. Die Aufgabe einer evangelischen Ethik besteht darin, den inneren Zusammenhang von Freiheit, Liebe und Verantwortung zu verdeutlichen und für das gegenwärtige Handeln in Gesellschaft und Politik fruchtbar zu machen.
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Peter Opitz, Zürich
Der spezifische Beitrag der Schweizer Reformation zur reformatorischen Bewegung69
1. Zum historischen Beitrag der Schweizer Reformation zur Reformationsbewegung
1.1 Die Schweizer Reformation als historische Wurzel des weltweiten reformierten Protestantismus
Anfang Januar 1523 riefen der Bürgermeister und die Räte der Stadt Zürich alle Pfarrer, Seelsorger, Prädikanten und Priester des Zürcher Gebiets zu sich ins Rathaus zu einer «Disputation», die Ende des Monats stattfinden sollte. Dabei ging es um die Schlichtung eines Streits: des Streits zwischen solchen, die behaupteten, «dem gemeinen Menschen das Gotteswort von der Kanzel zu verkündigen», und die sich dabei auf das «Evangelium» beriefen, und ihren Gegnern, die sie als «Irrlehrer, Verführer und Ketzer» beschimpften. Auch an den Bischof von Konstanz ging eine Einladung. Erst nachdem dieser der Aufforderung nicht nachgekommen war, in seinem Bistum für Frieden und Ordnung zu sorgen, hatten die Zürcher Räte diese Initiative ergriffen. Die streitenden Parteien sollten Gelegenheit bekommen, ihre Ansichten «mit wahrer göttlicher Schrift in deutscher Sprache» zu begründen. Ulrich Zwingli hatte seine Lehre in 67 Thesen gefasst, die zur Diskussion gestellt werden sollten.
Der Ausgang der Disputation war eindeutig und das Urteil des Rats richtungsweisend: Da niemand Zwingli auf dieser Basis hatte widerlegen können, sollte dieser in seiner Verkündigung nun weiterfahren wie bisher. Und nicht nur er: Alle Pfarrer und Priester in Stadt und Land sollten von nun an nichts anderes predigen als das, was sie mit dem «heiligen Evangelium und sonst mit der rechten göttlichen Schrift beweisen» konnten.
Es dauerte noch einige Zeit, bis sich die Reformation in Zürich endgültig durchgesetzt und etabliert hatte. Aber die Weichen waren damit gestellt. Der Zürcher Rat hatte die Zügel auf dem Feld von Kirche |89| und Religion in die Hände genommen, er hatte sich hinter den umstrittenen Prediger Ulrich Zwingli gestellt und er hatte das Evangelium, wie es allein in den biblischen Schriften zu finden ist (sola scriptura), als Kriterium anerkannt, an welchem auch die Christlichkeit der römischen Bischofskirche mit ihrem bisherigen Wahrheits- und geistlichen Machtanspruch im christlichen Europa gemessen werden sollte.
Zwar wäre die Schweizer Reformation kaum denkbar gewesen ohne Luthers Auftreten und das reichsweite Echo, das es ausgelöst hatte. Der Zürcher Ratsentscheid vom Januar 1523 war dennoch in dieser Weise erstmalig und für die gesamte europäische Reformationsbewegung bahnbrechend. Ein nach damaligen Maßstäben souveränes politisches Gemeinwesen hatte im Grundsatz beschlossen, die Verkündigung des Evangeliums nach dem alleinigen Maßstab des «göttlichen Wortes» einzuführen, mit der unvermeidbaren Konsequenz, das eigene christlich-politische Gemeinwesen entsprechend zu «reformieren», ungeachtet aller kirchlich-religiösen Traditionen und reichspolitischen Drohgebärden. Vordenker dieses Geschehens war Ulrich Zwingli mit seinem eigenständigen theologischen Profil, an das die späteren «reformierten» Theologen direkt oder indirekt anknüpfen konnten. Dies gilt auch für Calvin, bei dem sich kaum ein theologischer Gedanke finden lässt, der nicht schon Jahre zuvor in der Schweizer Reformation geäußert und diskutiert worden wäre. Ebenso waren es Zürcher Impulse zur Gestaltung einer «gemäß dem Gotteswort reformierten» Kirche, die in die Reformationsbewegung einflossen. Man denke an das Mittel der öffentlichen Disputation zur Einführung der Reformation, das überall im Reich Nachahmung fand. Auch wenn es weit vom modernen Ideal einer gemeinsamen, herrschaftsfreien Suche nach der Wahrheit entfernt war, so gehört es doch grundsätzlich in diese Linie hinein und nicht in die Linie päpstlicher Erlasse oder landesfürstlicher Religionsdekrete. Zu denken ist aber auch an die theologischen «Hohen Schulen» und Akademien zur Ausbildung der Pfarrer unter Einschluss der humanistischen Bibelphilologie oder an die Einführung von Synoden, Pfarrkonventen oder Konsistorien als kirchliche Leitungsgremien und als Gegenmodell zu einer bischöflich-hierarchischen Leitungsstruktur.
Ein wichtiger historischer Beitrag der Schweizer Reformation zur Reformationsbewegung besteht darin, dass sie als Wurzel des weltweiten reformierten Protestantismus wesentlich als Städtereformation oder Gemeindereformation entstanden ist. Das Bild der Wurzel soll zugleich andeuten: Schnell einmal entwickelte sich die Bewegung weiter, breitete |90| sich in viele Gebiete Europas aus, verschmolz verschiedentlich mit Impulsen und Traditionen der Wittenberger Reformation und nahm unterschiedliche theologische Färbungen und kirchliche Gestalten an. Anders als der lutherische Protestantismus, der bis heute seine Identität durch die bleibende – wenn auch faktisch sehr unterschiedlich interpretierte – Orientierung an seinem einen Gründervater sicherstellt, gehört es gerade zum Wesen und Selbstverständnis der aus dieser Wurzel stammenden Bewegung, dass sie sich nicht von einem einzelnen Reformator her definieren wollte. Später hat man dies allerdings oft doch getan und etwa den ursprünglich als Schimpfnamen verwendeten Titel des «Calvinismus» als Selbstbezeichnung übernommen. Das lässt sich geschichtlich erklären und hat dem «Calvinismus» vom 17. Jahrhundert an eine bestimmte «konfessionelle» Identität verliehen, allerdings auch mit problematischen Seiten und Konsequenzen. Man hat damit den historischen Reichtum und den theologischen Anspruch der aus der Schweizer Reformation hervorgegangenen Bewegung in problematischer Weise eingeschränkt.
1.2 Die Schweizer Reformation als europäische Reformation
Im zeitgenössischen Verständnis bestand die (reformierte) «Schweiz» geografisch im Wesentlichen im direkten Einflussgebiet der zwinglischen Reformation, markiert durch die Städte Zürich, Schaffhausen, Basel und Bern. Sehen wir uns allerdings die hier tätigen Reformatoren als die geistigen Träger der Bewegung genauer an, wird die Schweizer Reformation bald einmal zur europäischen Reformation. Schon Ulrich Zwingli selber war ursprünglich kein vollwertiger Eidgenosse. Er stammte aus dem Toggenburg, einem Gebiet, das sich der Eidgenossenschaft angeschlossen hatte, aber weniger politische Rechte besaß. Protokollführer der zweiten Zürcher Disputation war der spätere Täufermärtyrer Balthasar Hubmaier aus Friedberg bei Augsburg. Zwinglis Amtsnachfolger war Heinrich Bullinger, der in der «Gemeinen Herrschaft» Aargau aufgewachsen war. Zwinglis engster Kollege und Mitstreiter war Leo Jud, Pfarrer an der Zürcher Stadtkirche St. Peter. Leo Jud stammte aus dem Oberelsaß. Ebenfalls aus dem Elsass, aus Schlettstatt, stammte der erste Zürcher Pfarrer, der öffentlich heiratete, Wilhelm Reublin. Konrad Pellikan, der berühmte Hebraist und Lehrer für Altes Testament an der Zürcher Hohen Schule, stammte aus Rufnach, auch er ein Elsässer. Sein nicht weniger berühmter Kollege an der hohen theologischen Schule, Theodor Bibliander, war ursprünglich aus Bischofszell gekommen. Der hochberühmte Gelehrte Peter |91| Martyr Vermigli stammte aus Italien. Die Situation für Basel, Bern und Schaffhausen war bezüglich der Herkunft der prägenden Reformatoren nicht anders, und dies galt dann erst recht für Lausanne, Neuenburg und Genf, das nahezu vollständig von französischen Reformatoren geprägt wurde. Ein Grund dafür war die enge Verknüpfung der Schweizer Reformation mit dem Netz des europäischen Humanismus. Nicht zufällig hat sich der Katholik Erasmus gegen Ende seines Lebens Basel als Wohnort ausgesucht, und die Grabesrede für ihn hielt der aus dem katholischen Luzern stammende Reformator und frühere Mitstreiter Zwinglis Oswald Myconius.
2. Zum theologischen Beitrag der Schweizer Reformation für die Reformationsbewegung
Worin aber besteht der besondere theologische Beitrag der Schweizer Reformation zur Reformationsbewegung – wie er nicht nur Vergangenheit ist, sondern möglicherweise auch Potenzial und Bedeutung für deren Zukunft besitzt? Wir fragen hier also nicht theologiegeschichtlich, sondern versuchen, an das genannte charakteristische Merkmal der Schweizer Reformation anzuknüpfen und es für die heutige und künftige Reformationsbewegung fruchtbar zu machen. Dazu muss es zunächst noch etwas genauer entfaltet werden.
2.1 Das Evangelium von der Versöhnung
Inhalt des Evangeliums, wie es Zwingli an der ersten Zürcher Disputation vom Januar 1523 definiert hatte, ist nichts anderes als Christus selbst: In ihm werden Gottes Wille und Gottes Versöhnungstat für uns offenbar: «Summe des Evangeliums ist, dass unser Herr Christus Jesus, wahrer Gottessohn, uns den Willen seines himmlischen Vaters kundgetan und uns mit seiner Unschuld vom Tode erlöst und Gott versöhnt hat.»
Nicht eine «neue Lehre» sollte hier vorgetragen werden. Letztlich ging es einzig um den Ruf, auf «Christus allein» (solus Christus) zu hören und sich ihm als dem Ort der Versöhnung mit Gott anzuvertrauen. Wenn man die Reformatoren als «Neugläubige» bezeichnet und den römisch-katholischen «Altgläubigen» gegenübergestellt hat, war dies Polemik oder beruhte auf einem Missverständnis. Die Schweizer Reformation wollte nichts anderes als eine Rückbesinnung auf die (ungetrübte) Quelle und Konzentration auf das Wesentliche und Grundlegende des gemeinchristlichen Glaubens sein. Die Schweizer Reformatoren verstanden sich |92| als Vertreter des «alten Glaubens», wie etwa Heinrich Bullinger ausdrücklich hervorgehoben hat. In diesem Grundanliegen der Reformation sahen sie sich vor allem mit den Wittenberger Reformatoren zutiefst verbunden. Und doch ist bei genauerem Hinsehen durchaus ein eigenes Schweizer Profil zu erkennen – das aber, jedenfalls aus Schweizer Sicht, niemals Grund zu einer innerprotestantischen Kirchentrennung gewesen wäre. Luther sah dies leider anders. Meine Aufgabe ist es nun, dieses besondere Profil ein wenig herauszuarbeiten.
Luthers Frömmigkeit und Denken blieben stets tief geprägt von seiner Erfahrung als Mönch. Auch wenn Luthers befreiende «reformatorische Entdeckung» die spätmittelalterliche Bußfrömmigkeit völlig umkrempelte, so war es die Frage der persönlichen Aneignung bzw. Zueignung der göttlichen Gnade, die das bleibende Gravitationszentrum seines Verständnisses des Evangeliums bildete. Sein Verhalten im Abendmahlsstreit, seine Katechismen und seine sehr zurückhaltenden Vorschläge zur Reform des kirchlichen und gottesdienstlichen Lebens beweisen dies.
Zwinglis Beschreibung des Evangeliums stellt nicht zufällig nicht den Rechtfertigungsbegriff ins Zentrum, sondern spricht von Versöhnung und vom göttlichen Willen, die beide in Christus zu finden sind.
Versöhnung bedeutet aber: Wiederherstellung der Gemeinschaft. Für Zwingli ist die Gemeinschaft der Menschen mit Gott untrennbar verbunden mit einer «versöhnten» Gemeinschaft von Menschen, gestaltet durch den in Christus bekannt gemachten göttlichen Willen, mit einer christlichen Gemeinde. Zwinglis Sorge als «Leutpriester» (Volkspfarrer) war weniger sein persönliches Seelenheil als das Heil bzw. die Gottesnähe der ihm anvertrauten Gemeinde. Nicht zufällig hatte Zwingli als zusammenfassendes Motto seiner Verkündigung Mt 11,28 auf das Titelblatt seiner Schriften drucken lassen: Christus, der die Menschen zu sich, in seine Gemeinschaft ruft: «Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.» (Mt 11, 28)
Eine wichtige theologische Folge ist, dass die leitenden Begriffe aus der Schweizer Reformation nicht Gesetz und Evangelium sind, sondern Erwählung und Bund. Der Jurist Calvin entwickelte bekanntlich später im Anschluss an den von Zwingli beeinflussten Martin Bucer den Gedanken der «Erwählung» weiter, als Gottes Recht auf seine ihn ehrende Gemeinde. Heinrich Bullinger war demgegenüber mehr besorgt, dass die göttliche Liebe als Grund seines Gemeinschaftswillens nicht verdunkelt wird. Dass Gott will, dass alle Menschen gerettet werden (1Tim 2, 4), war für ihn ein wichtiger Gedanke, für den er auf logische Spekulationen zu |93| verzichten bereit war. Er stellte den «Bund» Gottes mit den Menschen ins Zentrum und wurde so zum Vater der reformierten Bundestheologie.
Entsprechend könnte man formulieren: Der Ort von Zwinglis Botschaft ist nicht der Beichtstuhl, sondern die öffentliche Volksversammlung. Das Evangelium zielt auf Gemeinschaft und wird vor allem in der Gemeinschaft erfahrbar. Es konstituiert so notwendig christliche Gemeinde und gibt ihr zugleich eine besondere, «evangelische» Gestalt. Auf drei Aspekte soll hier hingewiesen werden.