Kitabı oku: «500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen», sayfa 6
2. Rechtfertigung heute
Bei oberflächlicher Betrachtung scheint die reformatorische Rechtfertigungslehre in der Moderne obsolet geworden zu sein, weil die Vorstellung von einem Jüngsten Gericht, die Frage nach dem gnädigen Gott und die Angst vor Sündenstrafen verblasst sind und die Existenz Gottes überhaupt fraglich geworden ist.22
Die moderne Infragestellung der Rechtfertigungslehre ist eng mit dem Theodizeeproblem verbunden. Die Theodizee mutiert zur Anthropodizee. |72| Wenn Gott nicht existiert, bleibt nur der Mensch als Handlungssubjekt in der Welt. Von ihm allein hängt das Wohl und Heil der Welt ab. Weil Gott fehlt, tritt an die Stelle der Rechtfertigung des Menschen eine Unkultur des Rechthabens, wie der Schriftsteller Martin Walser schreibt.23 So steht die vermeintliche Obsoletheit der reformatorischen Rechtfertigungslehre in einem eigentümlichen Widerspruch zum heute allgegenwärtigen Zwang zur öffentlichen Rechtfertigung und zur Tribunalisierung der modernen Lebenswirklichkeit.24
Die Rechtfertigungsbotschaft richtet sich an den Menschen, der, modern gesprochen, um seine Anerkennung kämpft. Existenzielle und soziale Konflikte erklären sich nicht allein aus dem Kampf um Selbsterhaltung, sondern auch aus dem Kampf um Anerkennung.25 Gesellschaftliche Konflikte lassen sich daher nicht auf ökonomische reduzieren, sondern sind immer auch moralische und – wie wir in jüngster Zeit wieder sehen – religiöse. Im – auch massenmedial ausgetragenen – Kampf um Anerkennung, Wertschätzung und Aufmerksamkeit werden die Menschen von der Angst vor der Bedeutungslosigkeit26 getrieben.
Auch die Schuldfrage und damit die Frage nach Vergebung und Annahme sind nicht wirklich verschwunden. Der Sinn der Rechtfertigungsbotschaft erschließt sich freilich nur, wenn nicht allein von unterschiedlichen Gestalten der Schuld, sondern auch von Sünde gesprochen wird. Sünde meint ein verfehltes Gottesverhältnis, das sich in einem verfehlten Selbstverhältnis und einem verfehlten Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen wie zur gesamten Schöpfung manifestiert. Sie bildet die Tiefenstruktur des Kampfes um Anerkennung. Schon in der biblischen Überlieferung lässt sich der Kampf um Anerkennung auf Schritt und Tritt festmachen. Das Phänomen der Sünde und das Streben nach Anerkennung gehören bereits nach alttestamentlicher Auffassung zusammen. Paulus bestimmt den sündigen Menschen |73| radikal als Feind Gottes. Die paulinische Rechtfertigungslehre aber besagt, dass Gott die Feindschaft des Menschen überwindet und ihn um Christi willen trotz seiner Sünde bedingungslos annimmt und somit anerkennt.
Die Rechtfertigung des Sünders bedeutet auch, dass dieser sich auf neue Weise als Geschöpf Gottes versteht. Das Ziel der Rechtfertigung ist ein neues Verständnis der menschlichen Geschöpflichkeit. Indem das gestörte Verhältnis zu Gott wiederhergestellt wird, gewinnt der Mensch auch ein neues Verhältnis zur Natur, die ihm nun als Schöpfung aufgeht.
3. Christus allein
In der lukanischen Apostelgeschichte findet sich ein steiler Satz, der für heutige Ohren in einer Zeit der religiösen Toleranz und Pluralität, aber auch der religiösen Indifferenz äußerst anstößig klingt. Petrus und Johannes sind vor dem Hohen Rat angeklagt. In seiner Verteidigungsrede sagt Petrus über Christus: «In keinem anderen ist das Heil, auch ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden» (Apg 4, 12).27 Diese kühne Aussage liest sich wie ein Echo auf die einschlägigen Aussagen des Apostels Paulus in Phil 2, 9–11 und Röm 10, 9.
Martin Luther und die Reformation haben diese Aussagen auf die knappe Formel «solus Christus – Christus allein» gebracht. Beim frühen Luther hat diese Formel allerdings noch nicht jene kirchenkritische Bedeutung, die sie nach seiner reformatorischen Wende annimmt.28 Dass allein in Christus das Heil zu finden ist, ist für sich genommen ebenso eine gut katholische Formel wie das «sola gratia – allein aus Gnade.» Seine reformatorische Zuspitzung und damit zugleich seine Abgrenzung von der spätmittelalterlichen katholischen Gnadenlehre erfährt das solus Christus nach der reformatorischen Wende freilich durch seine Verknüpfung mit dem «Sola fide – allein durch den Glauben» in Verbindung mit dem sola gratia und dem sola scriptura. |74|
In gewisser Weise wird das genannte Geviert von Exklusivpartikeln durch die Formel «Gott allein» gebündelt.29 Eine derart radikale Sicht der alleinigen Heilswirksamkeit Jesu Christi scheint sich mit der heutigen Forderung nach Toleranz, zumal im interreligiösen Dialog, schlecht zu vertragen. Kann diese biblische Aussage auch heute noch theologische Geltung beanspruchen? Oder ist sie im Rahmen einer Theologie der Religionen abzuschwächen? Es sei betont, dass es sich bei dieser Frage um eine gemeinsame ökumenische Herausforderung handelt und nicht nur um ein Problem einer evangelischen Theologie der Religionen.30
In kritischer Abgrenzung von heutigen Konzeptionen einer Theologie, die Religion zu ihrem Leitbegriff erklärt und von der gelebten Religion in ihrer Vielfalt ausgehen möchte, sei hier die These vertreten, dass es beim christlichen Glauben nicht um Religion oder Spiritualität geht, sondern um Gott. Das Evangelium verspricht nicht «kleine Transzendenzen», die man im Urlaub oder im Fußballstadion erleben kann, sondern antwortet auf die Frage, was mein einziger Trost im Leben und im Sterben ist, wie es der reformierte Heidelberger Katechismus (1563) ausdrückt. Und das drängende Problem der Kirchen ist nicht der Mangel an irgendwelcher Spiritualität, sondern die Sprachnot des Glaubens, die sich in einer bisweilen erschreckenden Banalisierung christlicher Glaubensinhalte zeigt, die mit Recht als Selbstsäkularisierung der Kirche kritisiert wird.31 Die Respiritualisierung, die manche als Antwort auf die Krise der Kirchen empfehlen, ist in Wahrheit keine Alternative, sondern leistet solcher Selbstsäkularisierung möglicherweise nur weiteren Vorschub.
Zwar kann auf den Religionsbegriff theologisch nicht verzichtet werden, doch ist zunächst zwischen Religion und Gottesglauben zu unterscheiden. Auch ist zwischen der Frage nach Gott und der Frage nach Sinn zu unterscheiden. Nicht jeder, der nach dem Sinn des Lebens fragt, fragt darum schon nach Gott. Wer heute im biblischen Sinne von Gott reden will, kann nicht davon ausgehen, dass immer schon nach ihm gefragt wird. Der Anknüpfungspunkt einer vorgängigen Gottesfrage ist keineswegs selbstverständlich und unausweichlich. Darum hängt die |75| Möglichkeit, von Gott zu reden, nicht von der Frage nach ihm ab, sondern von der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten Gottesoffenbarung.
Die Frage nach Gott kann heute nur gestellt werden, weil vor uns Menschen von Gott geredet und sein Wirken bezeugt haben. Die neutestamentlichen Texte aber tun dies so, dass sie zugleich von Jesus Christus sprechen. Von Jesus wiederum lässt sich angemessen nur sprechen, wenn im Blick auf seine Person und sein Leben zugleich von Gott gesprochen wird, so dass der Sinn seines Lebens im Horizont Gottes offenbar wird, wie umgekehrt das Wort «Gott» erst in Verbindung mit dem Leben Jesu seine letztgültige Bedeutung gewinnt. Das Geschick Jesu macht offenbar, dass das Wesen Gottes Liebe ist.32 Worin aber die Liebe besteht, die Gott ist, lässt sich nur im Verweis auf den Lebensweg Jesu bestimmen. So gewinnt das Wort «Gott» seinen christlichen Sinn, indem Gott und Jesus zusammengesprochen werden. Gott und Jesus von Nazareth aber lassen sich nur so zusammensprechen, dass vom alttestamentlich bezeugten Gott Israels als dem Vater, von Jesus als dem Sohn und vom Heiligen Geist, mit anderen Worten: dass von Gott trinitarisch gesprochen wird.33
In diesem Sinne sehe ich die Kirchen gefordert, das Profil des Christlichen zu schärfen. Christlicher Glaube unterscheidet sich von allen sonstigen Formen von Religion durch das Bekenntnis zu Jesus Christus als Heilsbringer. Eben darum wurden und werden die an ihn Glaubenden Christen genannt. Dieses Bekenntnis aber schließt den Glauben an den von Jesus verkündigten Gott ein, der wiederum der Gott Israels ist. Dennoch: Nicht eine vage Gottoffenheit, sondern das Christusbekenntnis ist der entscheidende «Marker», an dem das Label «Christentum» auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten erkannt wird. Von hier aus ist die Identität von Glaube und Kirche zu bestimmen.
4. Allein aus Gnade
Allein aus Gnade – und zwar um Christi willen – wird der sündige Mensch vor Gott gerechtfertigt und von ihm angenommen. Allein aus |76| Gnade – auch das um Christi willen – lebt der gerechtfertigte Sünder als neugewordenes Geschöpf Gottes. «Ist jemand in Christus», schreibt Paulus in 2Kor 5, 17, «so ist er ein neues Geschöpf.» Die Rechtfertigung zielt also nicht nur auf die Vergebung der Sünde und die Versöhnung mit Gott, sondern auch auf die Erneuerung der Schöpfung. Daher sind die Rechtfertigungslehre und das sola gratia nach evangelischem Verständnis das Kriterium aller kirchlichen Verkündigung,34 das Kriterium für das Verständnis des Evangeliums von Jesus Christus und ebenso für das Verständnis der Welt als Schöpfung und des Menschen als Geschöpf Gottes.
Das lässt sich sehr schön an Luthers Auslegung des 1. Artikels des Apostolischen Glaubensbekenntnisses verdeutlichen. Was bedeutet die Aussage: «Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde»? Luther antwortet: «Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was nottut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewisslich wahr.»35
Der Schöpfungsglaube hat nach Luther also die Struktur der Rechtfertigungsbotschaft. Sola gratia: Das bedeutet schöpfungstheologisch gewendet, das Leben als gute Gabe aus Gottes Hand zu empfangen – «und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit.» Dass der Glaube im Sinne Luthers gleichbedeutend mit der Gewissheit des sola gratia erworbenen Heils ist, unterstreicht der Schlusssatz seiner Auslegung des ersten Glaubensartikels: «Das ist gewisslich wahr.»
Das sola gratia bildet aber auch einen Kontrast zur Gnadenlosigkeit unserer heutigen übertribunalisierten Lebenswelt, welche die Frage nach einer Kultur des Erbarmens und des Verzeihens laut werden lässt. Nach christlichem Verständnis ist es Jesus Christus als das fleischgewordene |77| Wort Gottes, in dem eine solche Kultur des Verzeihens ihre Quelle und ihren Maßstab hat.
Das Evangelium ist die Zusage bedingungsloser Liebe. Hat schon der irdische Jesus für sich die Vollmacht beansprucht, im Namen Gottes Sünden zu vergeben, so begreift das Neue Testament schließlich seinen Tod und seine Auferstehung als definitiven göttlichen Akt der Vergebung. Mit Paulus ist der Tod Jesu als Inbegriff göttlicher Feindesliebe (Röm 5, 10) zu verstehen, in welcher die Zuspitzung des Gebotes der Nächstenliebe zum Gebot der Feindesliebe (Mt 5, 38–48) ihren eigentlichen Grund hat. Die göttliche Vergebung aber zielt auf endgültige und universale Versöhnung.
Gerade seine religiöse Dimension macht das Christentum zur maßgeblichen Ressource einer Kultur des Verzeihens. Darauf hat bereits Hannah Arendt aufmerksam gemacht.36 Besondere Beachtung verdienen ihre Ausführungen zu Taten, die von Menschen nicht vergeben werden können, weil sie auch durch keine irdische Strafe gesühnt werden können. Dieser Gedanke ist hilfreich, um den Sinn der biblischen Rede vom Jüngsten Gericht neu zu verstehen. Recht verstanden ist der Gerichtsgedanke eine Implikation der christlichen Gewissheit, dass bei Gott auch in Sachen Vergebung kein Ding unmöglich ist, gerade weil er der richtende, Gerechtigkeit verbürgende Gott ist. Ohne den Gedanken des richtenden Gottes verliert auch derjenige des gnädigen Gottes seine Plausibilität.
Der Gedanke des Jüngsten Gerichts verwandelt sich freilich unter dem Vorzeichen von Rechtfertigung und Versöhnung von einem Symbol der Angst zu einem Symbol der Hoffnung, wie sich schon an der Frage 52 des Heidelberger Katechismus zeigt.37 Der biblische Gerichtsgedanke und die |78| Lehre von der Rechtfertigung des Sünders bringen eine Hoffnung zum Ausdruck, die nicht nur den Opfern der Geschichte, sondern auch den Tätern gilt, freilich so, dass die Mörder nicht über ihre Opfer triumphieren.38
Für den christlichen Glauben erschließt sich der Gerichtsgedanke von der Heilsbedeutung des Todes Jesu her. Hier wird die Verbindung des sola gratia mit dem solus Christus deutlich. Mit dem apostolischen Glaubensbekenntnis gesprochen, hoffen die Christen auf die Wiederkunft Christi zum Jüngsten Gericht. Dass aller Menschen Richter kein anderer als Jesus Christus ist, sagt uns, dass Gott die Welt heilvoll zurechtbringen will und dass seine Gerechtigkeit vom Geist der Liebe durchdrungen ist.
Das Ziel des Rechtfertigungsgeschehens ist Versöhnung. Alles menschliche Bemühen um Versöhnung hat in der von Gott selbst in Christus gestifteten Versöhnung zwischen Gott und Mensch ihren letzten Grund. Leben aus der Kraft der Versöhnung ist Leben in der Hoffnung auf das Reich Gottes. Diese Hoffnung schließt das Gedächtnis der Toten und ihrer Leiden ein. Sie bildet den uneinholbaren Horizont aller innerweltlichen Bemühungen um Versöhnung.
5. Allein die Schrift
Nach klassischer reformatorischer Lehre ist allein die Schrift Quelle und Maßstab christlichen Glaubens, christlicher Lehre und christlichen Lebens. Man beruft sich dafür auf Luthers Formel sola scriptura, die freilich nicht für sich steht, sondern in das Geviert der sich wechselseitig erläuternden Exklusivpartikel gehört: Sola scriptura – solus Christus – sola gratia – sola fide.39 Allein die Schrift ist Quelle und Maßstab des Glaubens, weil und sofern sie Christus bezeugt, der allein die Quelle des Heils ist, nämlich des den Sünder freisprechenden Evangeliums. Die Rechtfertigung des Sünders erfolgt um Christi willen allein aus Gnaden – und zwar |79| allein durch den Glauben an das Evangelium, wie es eben von der Schrift bezeugt wird.
Gemäß der lutherischen Konkordienformel von 1577 «bleibt allein die Heilige Schrift der einig Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem einigen Probierstein sollen und müssen alle Lehren erkannt und geurteilt werden, ob sie gut oder bös, recht oder unrecht sein»40. Ähnlich formulieren die reformierten Bekenntnisschriften.41 Abgesehen davon, dass die Konkordienformel das reformatorische Schriftprinzip im Vergleich mit Luther auf seine kriteriologische Funktion reduziert, hat dieses sowohl im Luthertum als auch in den reformierten Kirchen eine antikatholische – oder sagen wir besser: eine antirömische – Stoßrichtung. Nicht die kirchliche Tradition und nicht das Lehramt, sondern allein die Schrift ist die maßgebliche Norm für Theologie und Verkündigung.
«Die» Bibel, «die» Schrift, auf welche das reformatorische sola scriptura pocht, ist freilich ein Kanon mit antikatholischer Stoßrichtung, den man kanongeschichtlich als Hybrid bezeichnen muss. Zwar berufen sich die Reformatoren im Sinne der humanistischen Parole ad fontes! auf den vermeintlichen Urtext des Alten und des Neuen Testaments. Im Zuge dessen wird auch die Biblia Hebraica der Septuaginta vorgezogen, auf welcher das Alte Testament der Vulgata fußt. Sie betonen die Vorgegebenheit, die Externität und unumstößliche Autorität des göttlichen Wortes. In Wahrheit haben sie jedoch keinen vorgefundenen Kanon benutzt, sondern «einen hybriden Kanon geschaffen, also einen Kanon, den es vorher noch nie gegeben hat und seitdem auch nur in nationalen Übersetzungen gibt».42
Die Schrift, auf welche sich die reformatorischen Kirchen berufen, ist streng genommen nicht der Ausgangspunkt, sondern das Produkt der Reformation, nämlich ein aus hebräischem Umfang und griechischer Struktur gemischter, jedoch in einer dritten Sprache – sei es Deutsch43, |80| Englisch oder sonst eine lebende Sprache – dargebotener Kanon. Ähnlich wie im Fall der Septuaginta ist also auch hier die Übersetzung das Original.
Das beschriebene Wechselverhältnis von Kanon, Übersetzung und konfessioneller Identität muss evangelischerseits als Anfrage an das reformatorische Schriftprinzip ernstgenommen werden.44 Abgesehen davon, dass der protestantische Hybridkanon nur in Übersetzungen vorliegt, gibt es ja eine Vielzahl von deutschen, englischen oder sonstigen fremdsprachigen Übersetzungen, wobei nochmals zwischen Privatübersetzungen, Leseausgaben und wissenschaftlichen Übersetzungen sowie kirchlich approbierten, d. h. für den gottesdienstlichen Gebrauch zugelassenen, Übersetzungen zu unterscheiden ist. Vor dem Akt des Lesens steht die Auswahl der Übersetzung, in welcher man die Bibel lesen möchte. Mindestens insofern gilt, dass nicht nur der Sinn eines einzelnen Textes, sondern die Bibel als Makrotext im Akt der Rezeption je und je neu entsteht.
Hat sich damit das reformatorische Schriftprinzip, dessen Krise seit den Anfängen der historisch-kritischen Exegese konstatiert wird, endgültig erledigt?45 Bleibt es bei seiner Dekonstruktion?46 Oder besteht die Möglichkeit einer rezeptionsästhetischen Rekonstruktion, die nicht nur literaturwissenschaftlich, sondern auch theologisch überzeugt? Lässt sich dementsprechend auch die Lehre von der Inspiration der Heiligen Schrift in ihrem reformatorischen Verständnis neu erschließen, ohne den altprotestantischen Selbsttäuschungen zu erliegen? |81|
Die Einheit der Schrift lässt sich jedenfalls weder formal im Sinn einer Kanonliste – von denen es bis heute mehrere gibt – noch durch die lehramtliche Dogmatisierung eines Sinnbestandes bestimmen. Sie entsteht vielmehr immer wieder neu durch fortgesetzte Lektüre. Dabei ist zwischen der äußeren und der inneren Einheit des Kanons zu unterscheiden.
Gleichwohl behauptet die reformatorische Tradition, dass der Kanon nicht das Produkt der Kirche, die Kirche also nicht das Subjekt der Kanonbildung ist. Nur unter dieser Prämisse macht das reformatorische Schriftprinzip, das sola scriptura, wonach die Heilige Schrift allein Quelle des Glaubens und jedes kirchliche Auslegungsprivileg zurückzuweisen ist, Sinn. Inwiefern aber ist diese Behauptung unter den Bedingungen des modernen Geschichtsbewusstseins und der historisch-kritischen Forschung plausibel?
Die verschiedenen Gestalten der jüdischen Bibel bzw. des Alten Testaments sowie der christlichen Bibel mit ihrem Doppelkanon lassen sich im Sinne moderner Intertextualitätskonzepte verstehen.47 Wie Gerhard Ebeling erklärt hat, ist der biblische Kanon ebenso wie das reformatorische Schriftprinzip «in entscheidender Hinsicht nicht ein Textabgrenzungsprinzip, sondern ein hermeneutisches Prinzip»48. Nimmt man diesen Gedanken ernst, so folgt daraus nicht nur im Gespräch zwischen Christentum und Judentum, sondern auch unter den christlichen Kirchen «der Respekt für die gegenseitige Begrenzung und daher bereichernde Ergänzung, die verschiedene Textüberlieferungen und -organisationen mit sich bringen».49 Wenn jeder Kanon als eine partikulare Realisierung der Idee der Heiligen Schrift verstanden wird, die auf den Austausch mit anderen Gestalten ihrer Realisierung angewiesen ist, ist auch ein Hybrid wie der protestantische Kanon theologisch legitim. |82|
Schriftauslegung geschieht nicht nur unvermeidlich plural, sondern sie ist auch niemals voraussetzungslos, hat sie doch ihren Ort in der Kirche bzw. den einzelnen Konfessionen als Auslegungsgemeinschaften.50 Insoweit leuchtet das Postulat einer «kirchlichen Hermeneutik» ein, welches heute als «Hermeneutik des Einverständnisses»51 diskutiert wird. Einverständnis mit dem biblischen Text kann freilich bestenfalls das Resultat des Verstehensvorgangs, keinesfalls die Prämisse sein. Folglich kann es nach evangelischem Verständnis auch kein kirchliches bzw. lehramtliches Auslegungsprivileg geben, das die Pluralität des prinzipiell unabschließbaren Auslegungsprozesses steuern und domestizieren soll.
Nach reformatorischer Tradition ist die Kirche, konkret die gottesdienstliche Gemeinde, freilich nicht das Subjekt, sondern das Objekt der Auslegung. Sie ist eine Wort-Schöpfung, creatura Euangelii (Luther)52, d. h. ein Geschöpf des Evangeliums bzw. eine Schöpfung des Wortes Gottes53. Wie Luther schreibt, ist die Kirche nata ex verbo54, wobei es sich bei der Geburt der Kirche aus dem Wort Gottes nicht um einen einmaligen Vorgang in der Vergangenheit, sondern um ein beständiges Geschehen handelt. Ähnlich wie der Christenmensch nach Luther täglich aus der Taufe neu herauskriecht55, so wird auch die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden stets aufs Neue aus dem Wort geboren. Eben in diesem Sinne ist sie creatura verbi und nicht sein creator.