Kitabı oku: «Aleister Crowley & die westliche Esoterik», sayfa 10
Kapitel 5
Das Große Tier als tantrischer Held
DIE ROLLE VON YOGA UND TANTRA IN CROWLEYS MAGICK
Gordan Djurdjevic
Im Sommer 1900 hielt sich Aleister Crowley (1875 - 1947) in Mexiko auf, wo er seinen beiden großen Leidenschaften nachging: Bergsteigen und Magick.1 Obwohl er erst vierundzwanzig Jahre alt war, war Crowley bereits einer der höchsten Eingeweihten des Hermetic Order of the Golden Dawn, der wichtigsten okkulten Bruderschaft im Westen zur Zeit der Jahrhundertwende. Er verstand sich selbst als Adepten der Magie, doch aufgrund der Vergeblichkeit seiner Unternehmungen wurde er zunehmend von einem Gefühl der Unzufriedenheit beherrscht. Als Oscar Eckenstein (1859 - 1921), ein befreundeter Bergsteiger, ihn gegen Ende des Jahres in Mexiko besuchte, vertraute Crowley ihm seine Sorgen an. Eckenstein, ein Eisenbahningenieur und Chemiker von Beruf, der am Okkulten nicht interessiert war, traf mit seiner Antwort den Kern der Sache: Crowleys Problem rühre von seiner Unfähigkeit her, sich zu konzentrieren. „Gib’ deine Magick mit all ihrem romantischen Zauber und ihren trügerischen Freuden auf“, riet Eckenstein ihm. „Versprich mir, dies eine Zeit lang zu tun, und ich werde dich lehren, deinen Geist zu beherrschen.“2
Crowley willigte in das Angebot ein und vertiefte sich bald darauf in eine Reihe von Übungen, die Eckenstein entwickelt hatte, und deren Ziel es war, seine Konzentration auf ein ausgewähltes Gedankenbild oder einen Sinneseindruck zu fokussieren. Diese Übungen waren im Wesentlichen die ersten Schritte auf dem Pfad des Yoga, die ein Mann unternahm, der später einer der bedeutendsten Übermittler von Yoga- und – in geringerem Maße – von Tantra-Techniken in die westliche Esoterik werden sollte. Crowleys Einfluss auf den Okkultismus des zwanzigsten Jahrhunderts sowie der Gegenwart war enorm,3 doch sein außergewöhnlicher Lebenswandel und seine Lehren sind bis heute umstritten und missverstanden. Dieses Kapitel wird sich auf die Rolle konzentrieren, die Yoga und Tantra in Crowleys Schriften, den Strukturen der magischen Orden, denen er vorstand, und bei seinen eigenen magischen Praktiken einnahm. Mein Argument ist einfach: nicht nur die Tatsache, dass Crowley für die Verschmelzung östlicher und westlicher esoterischer Traditionen bedeutsam ist,4 sondern auch seine eigenen Magick-Praktiken werden verständlicher, wenn man einige ihrer Aspekte vor dem Hintergrund von Yoga und Tantra betrachtet.
Indien, westliche Esoterik und Crowley
Die Neigung zum Synkretismus ist eines der prägenden Merkmale der westlichen Esoterik. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts zeigte sich diese Tendenz besonders in der Offenheit gegenüber östlichen – vor allem indischen – religiösen Traditionen. Diese wurden andererseits auch zunehmend durch die zahlreichen Übersetzungen von Originaltexten und durch populäre Berichte von Kolonialbeamten und Reisenden bekannt. Ein bahnbrechendes Ereignis in dieser Hinsicht war, soweit es die westliche Esoterik betrifft, die Gründung der Theosophischen Gesellschaft 1875.5 Im selben Jahr wurde der wohl wichtigste und einflussreichste Okkultist des zwanzigsten Jahrhunderts geboren: Edward Alexander – oder Aleister – Crowley. In seinen zahlreichen Schriften und seinen eigenen spirituellen Praktiken und Lehren setzte Crowley signifikante Elemente aus dem indischen Yoga und Tantra ein. Es kann behauptet werden, dass Yoga auf der einen Seite und die westlich-esoterische Tradition allgemein (einschließlich Magie, Alchemie, Astrologie und Kabbalah) auf der anderen Seite in ihrem Zusammenwirken das bilden, was Crowley als Magick bezeichnete.6 Zudem bekräftigte er oft, dass die esoterischen Traditionen des Ostens und des Westens eine grundlegende Ähnlichkeit aufweisen, die er zu verdeutlichen versuchte und regelmäßig hervorhob.
Zu Anfang ist eine Erklärung angebracht: Während Crowleys Beschäftigung mit indischem Yoga eindeutig ist und auf der Grundlage seiner theoretischen Schriften, praktischen Instruktionen und persönlichen Erfahrungsberichte leicht dokumentiert werden kann,7 ist seine Auseinandersetzung mit dem Tantra weit komplexer und umstrittener. Zu einem bedeutenden Maße weist diese Verbindung vorwiegend funktionale Gemeinsamkeiten mit dem tantrischen Pfad auf. Es ist möglich, in Crowleys Magick insgesamt eine Analogie zu den Ansätzen des Tantra zu erkennen, wenn auch seine formalen Kenntnisse des letzteren begrenzt waren. Ich werde meine Argumente später belegen, indem ich mich auf drei Bereiche konzentriere, in denen Crowleys Methoden mit denen des Tantra zusammenfallen: den Einsatz von Sex (z. B. die Aufnahme von Geschlechtsflüssigkeiten) als Mittel zum Erfolg, die Nutzbarmachung der okkulten Eigenschaften des (feinstofflichen) menschlichen Körpers (am Beispiel von Chakras und Kundalinī) und die Grenzüberschreitung als spirituelle Technik.
Eine Skizze der frühen Biographie Crowleys: Magick, Yoga, Thelema und die esoterischen Orden
Crowleys spiritueller Werdegang begann mit seiner Initiation in den Hermetic Order of the Golden Dawn, in den er 1898 eintrat.8 In Allan Bennett (1872 - 1923) hatte er einen hervorragenden Lehrer, durch den er schnell in der Hierarchie des Ordens aufstieg. Bennett sollte England bald verlassen, um den buddhistischen Sangha in Birma (dem heutigen Myanmar) zu besuchen und als erster Abendländer Unterweisungen in der Theravāda-Tradition zu erhalten.9 1901 besuchte Crowley Bennett für einige Monate in Ceylon (dem heutigen Sri Lanka). Sie übten gemeinsam Yoga-Meditationen und profitierten von dem Wissen, das Bennett von Ponnambalam Ramanathan erworben hatte, dem Zweiten Kronanwalt von Ceylon, der auch ein tamilischer shivaistischer Guru war und ein Buch geschrieben hatte, in dem die Evangelien von Matthäus und Johannes aus der Perspektive des Yoga gedeutet werden.10 Nach seinen anfänglichen Übungen der Geistesschulung unter Anleitung von Oscar Eckenstein war dies Crowleys erster Versuch mit förmlichen Yoga-Praktiken. Er behauptete, dass er als Ergebnis dieser Meditationen am 2. Oktober desselben Jahren erfolgreich Dhyāna, eine hohe Bewusstseinsstufe in der Yoga-Meditation, erreicht habe.11
Zusätzlich zu seinem Engagement beim Erlernen der korrekten Yoga-Praktiken erlernte Crowley in dieser Zeit auch die Grundlagen der buddhistischen Meditation.12 In seinem Aufsatz „Science and Buddhism“ [Wissenschaft und Buddhismus], den er 1901 in Indien verfasste, beschrieb er eine klassisch buddhistische Form der Meditation, das Mahāsatipatthāna.13 Er arbeitete auch Grundmethoden dieser Praktiken in zwei seiner Anleitungen für den Orden A ∴ A ∴ (siehe unten) ein, „Liber Ru vel Spiritus“14 und „Liber Yod“.15 Die Grundübungen des klassischen Yoga, die aus Haltung, Atemübungen und Konzentration des Geistes bestehen, werden kurz und bündig im „Liber E vel Exercitiorum“ geschildert, das ursprünglich in The Equinox veröffentlicht wurde, Crowleys „Betrachtung des wissenschaftlichen Illuminismus“.16 Die Haupttheorie des Yoga wird in dem Text mit dem Titel „Mysticism“ [Mystizismus] dargelegt, der sich in Crowleys Hauptwerk Book Four oder Magick findet.17
Im Frühjahr 1904 ereignete sich der wohl bedeutsamste Vorfall in Crowleys Werdegang. Seinem Bericht nach empfing er, während er sich auf seiner Hochzeitsreise in Kairo in Ägypten befand, einen kurzen prophetischen Text, der als Liber AL vel Legis oder The Book of the Law bekannt wurde.18 Das Buch verkündet die Lehre einer neuen Religion, „Thelema“ genannt, mit Crowley – der in dem Buch als „der priesterliche Prinz, das Tier“19 bezeichnet wird – als ihrem Propheten.20 Aufgrund dieser Offenbarung und seiner kontinuierlichen Erforschung und Praxis verschiedener mystischer und magischer Traditionen fühlte Crowley, dass die Zeit reif war, einen neuen magischen Orden ins Leben zu rufen, denn er war überzeugt, dass der Golden Dawn seine Strahlkraft und Autorität verloren hatte. Der neue Orden, dessen Struktur Crowley in Zusammenarbeit mit seinem Freund und Mentor George Cecil Jones um 1907 entwickelt hatte, ist offiziell nur unter seinen Initialen A ∴ A ∴ bekannt. Wie der Golden Dawn ist dieser Orden nach dem Muster des Lebensbaumes aufgebaut, und jede Sephira am Baum entspricht einer besonderen mystischen oder magischen Errungenschaft.21
Im Wesentlichen beruht die Methode des A ∴ A ∴ auf der Verschmelzung von zeremonieller Magie und Yoga. Einer der Anfangsgrade des Ordens, der Grad des Zelators, beinhaltet das Beherrschen der Haltung oder Āsana und die Kontrolle der Atmung, Prānāyāma. Im Grad des Dominus Liminis wird vom Praktizierenden erwartet, die Methoden der yogischen Innenschau (oder des Rückzugs der Sinne von äußeren Objekten), Pratyāhāra, und die Technik der Konzentration, Dhāranā, zu beherrschen. Ein in den Grad des Adeptus Initiierter muss die Beherrschung der Tiefenmeditation, Dhyāna, erlangt haben, während der Meister des Tempels – ein Grad, der die Auflösung des Ego einschließt – die höchste Stufe im klassischen Yoga, Samādhi, erreicht haben muss. Auf diese Weise sind die Methoden und Stufen des indischen Yoga fest in einen Orden integriert, der gleichzeitig manche Zweige der abendländischen esoterischen Traditionen umschließt.22 Dies zeigt, dass Crowley sich bei der Reorganisation des Golden Dawn auf das stützte, was man als Prinzip des „okkulten Weltbürgertums“ bezeichnen mag, was etwa heißt, dass der thelemische Pfad zur spirituellen Vollendung auf der Verschmelzung von östlichen und westlichen Methoden der Praxis beruht. Dieses war eine signifikante Neuerung, denn im ursprünglichen Golden Dawn spielten die östlichen spirituellen Traditionen so gut wie keine Rolle.
1912 begegnete Crowley Theodor Reuss (1855 - 1923).23 Reuss war zu jener Zeit der Kopf eines freimaurerischen Ordens, der als Ordo Templi Orientis (O.T.O.) bekannt ist.24 Ein wichtiger Impuls in Richtung der Etablierung des O.T.O. ging von dem wohlhabenden Österreicher Chemiker Carl Kellner (1851 - 1905) aus, der mutmaßlich von drei orientalischen Adepten in Geheimnisse der Sexualmagie eingeweiht worden war.25 Sowohl Kellner als auch Reuss schrieben Texte über die Prinzipien von Yoga und Tantra.26 Nach seiner Begegnung mit Reuss erhielt Crowley eine hohe Einweihung und wurde zum Leiter der britischen Sektion des O.T.O.. Schließlich stieg er zum internationalen Leiter des Ordens auf, den er neu organisierte, um die Lehren Thelemas darin einfließen zu lassen. Die Geschichte und die Strukturen des O.T.O. zu erörtern, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, doch ist es wichtig, hervorzuheben, dass man oft Verbindungen und Parallelen der zentralen Lehre des Ordens mit einigen Tantra-Praktiken annimmt. Crowleys Freund und ehemaliger Schüler Gerald Yorke erklärt das Wesentliche der Lehren des O. T.O, wie es Reuss mitteilt:
Er erläuterte Crowley die Theorie hinter dieser alchemistischen Schule, die Geschlechtsflüssigkeiten und das Lebenselixier verwendet. Er weitete die Baphomet-Tradition der Tempelritter aus und verfolgte ihr angebliches Fortleben in der Hermetic Brotherhood of Light [Hermetische Bruderschaft des Lichts, d. Übers.], einer esoterischen Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert. Dann zeigte er die Verbindung mit den Tantrikern auf, die dem Pfad zur linken Hand folgen [also rituellen Geschlechtsverkehr als Mittel der spirituellen Vereinigung mit der Gottheit nutzen], und den Hatha-Yogins, die sexuelle Mudras [heilige Stellungen] praktizieren. Was jedoch noch wichtiger war: er bot Crowley die Führung des O.T.O. an.27
Entsprechend hat Crowley, zusätzlich zu den Schriften, die er darüber verfasste, dazu beigetragen, die Theorien und Praktiken des indischen Yoga und Tantra in zwei große esoterische Orden des Westens einfließen zu lassen: den A ∴ A ∴ und den O.T.O.. Diese Tatsache ist von hoher Bedeutung, wenn wir Crowleys Wichtigkeit und seinen Einfluss auf den zeitgenössischen westlichen Okkultismus im Auge behalten. Dass seine Anhänger ein anhaltendes Interesse an östlicher Esoterik zeigen, kennzeichnet Crowleys Vermächtnis.28
Bevor wir uns an die Beantwortung der Frage wagen, welche von Crowleys Praktiken von Yoga und Tantra inspiriert sind, ist es angebracht, seinen Interpretationen der Ähnlichkeiten zwischen der östlichen und der westlichen esoterischen Tradition einigen Raum zu geben. Zwei Elemente stechen in seinen Interpretationen hervor: auf der einen Seite war er konsequent in seiner Überzeugung, dass die Methode der Magick der Schulung des Geistes bedarf. In diesem Sinne kann gesagt werden, dass er die westliche magische Tradition so erklärt, als sei sie eine Art Yoga. Auf der anderen Seite glich Crowley Yoga an die westlichen Muster an, indem er es wie den Baum des Lebens strukturierte und die Prinzipien des Yoga in westliche esoterische Konzepte „übersetzte“. In jedem Fall herrscht seine Überzeugung vor, dass Yoga und Magick zwei unterschiedliche Aspekte desselben Phänomens repräsentieren.29
Yoga in Theorie und Praxis – Parallelen in westlichen esoterischen Traditionen gemäß Crowley
Für die Erkundung der Art und Weise, wie Crowley Theorien und Praktiken aus dem indischen Yoga und dem Tantra mit westlicher Esoterik verschmolzen hat, gibt es folgende anschauliche Beispiele. Beginnen sollten wir mit den mutmaßlichen Gemeinsamkeiten zwischen Yoga und Magick, wie sie in den „Postkarten für Anwärter“ des A ∴ A ∴ postuliert werden. Danach werden wir einen Abschnitt der Eight Lectures on Yoga [Acht Vorlesungen über Yoga] untersuchen, wo das yogische Konzept des Niyama („Disziplin“ oder – in Crowleys Darstellung heißt – „positive Kraft“) in Relation zur westlichen Astrologie und zum kabbalistischen Lebensbaum gesetzt wird. Abschließend werden wir uns das Ritual von Crowleys Gnostischer Messe anschauen, in dem die tantrischen Auffassungen bezüglich der Erweckung der feinstofflichen Energien des Körpers und der Aufnahme sexueller Flüssigkeiten in ein spirituelles Ritual transformiert werden.
In einem frühen kurzen Text aus dem Jahre 1909 mit dem Titel „Postcards for Probationers“ [„Postkarten für Anwärter“] nahm Crowley sich vor, Parallelen zwischen den Techniken des indischen Yoga und der westlichen Zeremonialmagie nachzuweisen. Er definierte beides als „Kunst, den Geist mit einer einzelnen Idee zu vereinen“.30 So repräsentieren Jñāna Yoga und die Heilige Kabbalah die „Vereinigung durch Wissen“, Rāja Yoga und die Heilige Magie stehen für die „Vereinigung durch Willen“, Bhakti Yoga und die Handlungen der Verehrung für die „Vereinigung durch Liebe“ und schließlich Hatha Yoga und die Prüfungen für die „Vereinigung durch Mut“.31 Hier wird erkennbarerweise die Praxis der Konkordanz angewendet, die Antoine Faivre für eine der Hauptkomponenten der abendländischen Esoterik hält.32 Während seiner ganzen Laufbahn ging Crowley beständig von tiefen Übereinstimmungen zwischen den Annahmen und Methoden der östlichen und westlichen esoterischen Traditionen aus.33 Damit setzte er den menschlichen Geist als Quelle und Ursprung mystischer und magischer Phänomene voraus34 und sah dessen Kultivierung als vereinendes Element hinter der Vielfalt der verschiedenen lokalen Traditionen: „Alle Phänomene, deren wir gewahr werden, finden in unserem eigenen Geist statt, und darum müssen wir auf diesen Geist achten, der eine weit konstantere Größe über der ganzen Menschheit ist, als allgemein angenommen wird.“35 So deutet Crowley selbst die Requisiten der traditionellen Magie aus der Perspektive eines Mentalisten: der Tempel grenzt an die Ausdehnung des Bewusstseins, der magische Kreis schützt vor feindlichen Gedanken, der Stab symbolisiert den Willen, der Kelch ist das Verständnis, das Schwert entspricht der analytischen Fähigkeit.36 Gleichermaßen bedeutet „die Geister herbeizurufen, den Geist zu analysieren; sie zu regieren bedeutet, die Elemente dieses Geistes seinem Willen gemäß zu verbinden.“37 Dies ist eine signifikante Neuinterpretation des magischen Verfahrens, das sonst gewöhnlich mit rituellen Handlungen assoziiert wird. Crowley ließ das Ritual nicht außer Acht, doch indem er den Schwerpunkt auf die mentale Konzentration als Schlüssel zum Erfolg legte, verdeutlichte er den gemeinsamen Nenner eines Aspektes der Magie mit der Yoga-Praxis.
Eight Lectures on Yoga bezieht die Texte einer Reihe von Reden mit ein, die Crowley seit Januar 1937 wiederholt vor einem kleinen Publikum in den oberen Räumen von Londoner Restaurants gehalten hatte.38 Die dritte Vorlesung behandelt eine der vorbereitenden Stufen im klassischen Yoga, das Konzept der Disziplin oder Niyama. Patañjali, der Verfasser der grundlegenden Yoga Sātras, definiert diese Praxis als bestehend aus „Reinlichkeit, Zufriedenheit, reinigender Handlung, Studium und dem Willen, alle Handlungen dem persönlichen Gott zu weihen“.39 In seiner Erläuterung dieses Konzepts nutzt Crowley „eine Art Abakus“, den er für „sehr nützlich für alle Arten des Denkens“ hält.40
Dieser Abakus ist der kabbalistische Lebensbaum. Vereinfacht gesagt, ist der Lebensbaum, so wie er im westlichen Okkultismus angewendet wird, eine symbolische Darstellung der Ganzheit des Daseins und besteht aus zehn Kreisen oder Sephiroth, die durch zweiundzwanzig Pfade in gleichmäßiger Anordnung miteinander verbunden sind. Jeder dieser Kreise und Pfade ist der Mittelpunkt einer Gruppe von Entsprechungen.41 Gemäß der üblichen Praxis sind auch die Planeten des Sonnensystems mit ihrer astrologischen Bedeutung den dazugehörigen Positionen des Baumes zugeordnet.
Crowley erklärt die Eigenschaften der Planeten gemäß dem Verständnis der westlichen Astrologie und betont dabei die „Tugend“ oder „positive Kraft“ jedes Planeten als einen Aspekt dessen Niyamas. So repräsentiert Saturn – dem traditionell das menschliche Skelett zugeordnet wird – die feste Grundlage der spirituellen Praxis. Außerdem impliziert die Melancholie, die mit Saturn assoziiert wird, die Tugend der „Transzendierung des Leides, das einen dazu bestimmt hat, seine Befreiung durchzuführen“.42 Jupiter ist „das vitale, schöpferische, geistige Element des Kosmos“.43 Mars entspricht Energie und Kraft und wird mit dem Muskelapparat assoziiert. Sein Niyama ist „die Tugend, die dazu befähigt, mit den physischen Erschwernissen des Werkes zu ringen und sie zu besiegen“.44 Die Sonne ist Harmonie und Schönheit, das Herz des Systems wie auch des Menschenwesens. Das Niyama der Venus besteht in Ekstase und Güte. Merkur ist mit den intellektuellen Kräften verbunden.45 Das Niyama des Mondes schließlich ist „jene Eigenschaft des Strebens, diese positive Reinheit, die es ablehnt, sich mit etwas Geringerem zu vereinigen als mit dem All.“46
Die Originalität der obigen Zuordnung der Prinzipien yogischer Disziplin und westlicher Astrologie zum Baum des Lebens lässt sich an mehreren Faktoren ausmachen. Zusätzlich zum offenkundigen Wert als Anwendung vergleichender Esoterik dient diese Zuordnung auch der Veranschaulichung, dass „ähnliche Methoden, mit welchen ähnliche Ergebnisse erzielt werden, in allen Ländern zu finden sind. Die Einzelheiten variieren, doch die allgemeine Struktur ist dieselbe – weil alle Körper, und damit alle Geister, identische Formen haben.“47 Damit nimmt Crowley die kognitive Betrachtung religiöser Systeme vorweg, wie sie in neuerer Zeit der rumänische Gelehrte Ioan P. Culianu verfocht.48 Nach dieser Sichtweise sind die verschiedenen Religionen grundsätzlich Systeme, die vom menschlichen Geist erzeugt werden. In Culianus Worten [liegt] „die grundsätzliche Einheit der Menschheit … nicht in einer Einheit von Anschauungen oder Lösungen, sondern in der Einheit von Handlungen des menschlichen Geistes.“49 Aus dieser Perspektive ist Yoga seiner Exotik, seines Andersseins, entkleidet und wird stattdessen als eine Disziplin aufgefasst, die in die Potentiale und Artikulationen des menschlichen Körpers und Geistes eingebettet ist. Diese anthropozentrische Annäherung passt zu Crowley und dessen charakteristischem Anspruch „Es gibt keinen Gott außer dem Menschen.“50
„Liber XV, Ecclesiæ Gnosticæ Catholicæ Canon Missæ” oder einfach die Gnostische Messe51 ist das Hauptritual des O.T.O., das Crowley 1913 während eines Aufenthaltes in Russland verfasste. Diese hieratische Zeremonie ist eine der bedeutendsten Ausdrucksformen von Crowleys Religionsphilosophie, und in ihr sind Einflüsse und Vorstellungen aus dem westlichen Gnostizismus, aus Crowleys Thelema, und wohl auch aus dem Tantra der Hindus miteinander verbunden. Die Leiter der Messe sind der Priester und die Priesterin, denen der Diakon und die zwei „Kinder“ assistieren.
Hier ist eine kurze Zusammenfassung des Rituals: Die Priesterin betritt den Tempel und „erweckt“ den „toten“ Priester aus seinem Grab (dabei wird symbolisch die Lanze des Priesters erhoben, was offensichtlich einen sexuellen Bezug hat). Gemeinsam nähern sie sich dem Hochaltar am gegenüberliegenden Ende des Tempels. Der Priester setzt die Priesterin, die sich sodann hinter dem Schleier verbirgt, auf den Altar. Dann ruft der Priester die Göttin Nuit herbei, die im Pantheon der Thelemiten eine Hauptgottheit ist und mit dem „unendlichen Raum und den unendlichen Sternen darin“ gleichgesetzt wird.52 Die Priesterin, die in diesem Augenblick eins mit der Göttin wird, antwortet mit deren Worten, die sie aus dem Buch des Gesetzes [The Book of the Law] zitiert. Nun wird der Schleier geteilt, und man kann die Priesterin sehen, die den Kelch mit Wein oder den „Heiligen Gral“ in ihrer Hand hält. Der so genannte Lichtkuchen, ein Gegenstück zum Abendmahl, wird gesegnet und auf der Spitze der Lanze des Priesters platziert, woraufhin die Spitze der Lanze in den Kelch gedrückt wird und ein Teil des Lichtkuchens in den Wein darin fällt. Der Priester isst den Rest des Lichtkuchens und trinkt den Wein. Danach verkündet er: „Es ist kein Teil von mir, der nicht von den Göttern ist.“ So wird letztlich das Ritual vollzogen.
Bei der Ausarbeitung dieses Rituals war Crowley offenkundig in formaler Hinsicht von den Zeremonien der katholischen wie auch der östlich-orthodoxen Messen beeinflusst. Doch obwohl ihre Form westlich und kirchlich inspiriert ist, hat der zugrunde liegende Prozess, der in den rituellen Handlungen der Messe dargestellt wird, Parallelen in einigen grundlegenden Vorstellungen des Tantra. Hugh B. Urban erklärt das Wesentliche der tantrischen Praxis, indem er darlegt, dass „das Ziel des Sādhanā [Praktizierens] darin liegt, die göttlichen Prinzipien, das männliche und das weibliche, wieder zu vereinen, um die vollkommene Verbindung von Samen und Menstruationsblut im einzelnen Körper zu erreichen. Durch Anwendung sowohl meditativer Imagination als auch körperlicher Rituale verläuft Sādhanā wie eine Art mystischer Hochzeit oder eher wie eine Verinnerlichung und alchemische Transformation des gewöhnlichen Hergangs der Hochzeit.“53
Behalten wir im Gedächtnis, dass die Gnostische Messe auf verschiedenen Bedeutungsebenen operiert, lautet eine mögliche Deutung des Rituals wie folgt: Die Priesterin repräsentiert die göttliche weibliche Energie bzw. im tantrischen Vokabular Śakti, während der Priester deren männliches göttliches Gegenstück oder Śiva symbolisiert, der oft mit einem stilisierten Phallus (Lingam) verbunden wird; der Lichtkuchen steht für den Samen (Bindu), und der Wein im Kelch entspricht entweder dem Menstruationsblut (Rajas) oder der Scheidenflüssigkeit (Yonitattva). Die Priesterin erweckt den reglosen Priester – der zu Beginn des Ritus im „Grab“ verborgen liegt – und holt ihn ins Leben zurück. Dies ruft Assoziationen zu der bekannten Tantra-Stelle hervor, nach der „Śiva ohne seine Śakti nur eine Leiche“ ist. Der Tempel, in dem die Gnostische Messe stattfindet, ist nach der symbolischen Struktur des Lebensbaumes geordnet. In solcher Umgebung korrespondiert das Grab mit Malkuth, der untersten Sephira, welche wiederum mit dem Mūlādhāra-Chakra korrespondiert.54 Nach der tantrischen Theorie verwandelt sich der Samen, der in seinem Urzustand himmlische Eigenschaften besitzt (und sich oben im Kopf befindet), in Gift, sobald er in die unteren Teile des Körpers, insbesondere die Genitalien (d. h. in das Mūlādhāra-Chakra) gelangt. Um diesen Zustand zu heilen, muss der Samen wieder zurück in den Kopf gebracht werden. In der Gnostischen Messe wird diese Rückkehr durch das Schreiten der Offiziere fort vom Grab und hin zum Hochaltar symbolisiert. Sobald die Priesterin auf dem Thron sitzt, wird sie zur Gottheit und spricht so die Worte der Göttin Nuit. Das Eintauchen des Lichtkuchens von der Spitze der Lanze des Priesters in den Wein im Kelch, den die Priesterin hält, entspricht der Vermischung des Samens mit dem Menstruationsblut, die zu den gängigen Abläufen in tantrischen Sexritualen gehört.55 Die Aufnahme dieser geweihten Substanzen – des Lichtkuchens und des Weines – ist eine Parallele zur Einnahme vermischter Geschlechtsflüssigkeiten in Tantra-Zeremonien. Der Zweck liegt darin, die Teilnehmer in einen göttlichen Zustand zu versetzen, was sich deutlich in der abschließenden Formel der Messe ausdrückt, in welcher der Priester verkündet, dass jeder Teil seines Körpers mit den Göttern eins geworden ist.