Kitabı oku: «Aleister Crowley & die westliche Esoterik», sayfa 9

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Eine Zeit des Krieges

Eine Vorahnung von einem neuen Zeitalter war beileibe keine alleinige Angelegenheit von Thelema und The Book of the Law, sondern sie wurde in den Diskursen der okkulten und religiösen Bewegungen des Fin de Siècle insgesamt vertreten.20 Doch in den allermeisten esoterischen Spekulationen um ein Neues Zeitalter sah man dies als einen graduellen und friedlichen Prozess an. Gelehrte wie Wouter Hanegraaff haben beobachtet, dass der Okkultismus (oder die verweltlichte Esoterik) des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts unter anderem von den Einwirkungen des Positivismus und des Darwinschen Evolutionismus geprägt war, mit welchen oft der Glaube an eine persönliche Veränderung wie auch an einen gesellschaftlichen Wandel einherging.21 Der Fortschritt der Menschheit wurde als Ergebnis spiritueller Evolution betrachtet, als ein natürlicher Prozess, der zu einer sich stetig verbessernden und weiter entwickelnden Gesellschaft führen würde. Dennoch würde die bewusste Übertragung eines breiten Spektrums esoterischer Praktiken diesen Prozess beschleunigen helfen. Dieser Glaube, der vielerlei Gestalt annahm und sich auf verschiedene Weise ausdrückte, prägte einen mit Nachdruck geführten Diskurs im Okkultismus des zwanzigsten Jahrhunderts.

Das Neue Zeitalter wurde gemeinhin auch astrologisch dahingehend definiert, dass das Zeitalter der Fische vom Zeitalter des Wassermanns abgelöst werde. Der daraus folgende Evolutionssprung in der Entwicklung der Menschheit wurde oft als Verkündung eines fundamentalen Wandels im Verständnis der Beziehung zwischen den Menschen und dem Universum geschildert. Dieser Gedanke gipfelte im Aufblühen der New-Age-Bewegung der 1960er und frühen 1970er Jahre, die im Zeitalter des Wassermanns die Verkörperung holistischer Prinzipien sah, die im Kontrast zum Dualismus standen, der das Zeitalter der Fische bestimmt hatte. Der Dualismus des vorangegangenen Zeitalters wurde für die Zwietracht und Streitigkeiten zwischen patriarchalen Religionssystemen wie dem Christentum und dem Islam verantwortlich gemacht, wohingegen das Neue Zeitalter von Frieden und Harmonie gekennzeichnet sein werde.22

Während Vertreter des Wassermannzeitalters den Übergang zwischen den Zeitaltern anscheinend als grundsätzlich harmonisch betrachtet haben und den Konflikt der Dualität langsam durch den Frieden der Einheit ersetzt sahen, wurde die Geburt des Neuen Zeitalters des Horus ganz anders beschrieben. The Book of the Law schildert den Übergang vom Alten zum Neuen Äon als von Krieg und Zerstörung gekennzeichnet. Crowley umreißt dieses im folgenden, offenbar prophetischen Abschnitt, von dem es heißt, dass Crowley ihn 1911 verfasst habe – drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges:

Es ist eine Magische Handlung von höchster Wichtigkeit: die Einleitung eines Neuen Zeitalters. Wenn es nötig wird, ein Wort auszusprechen, muss der ganze Planet in Blut gebadet sein. Bevor der Mensch bereit ist, das Gesetz von Thelema zu akzeptieren, muss der Große Krieg ausgefochten werden. Dieses Blutopfer ist der entscheidende Punkt der Weltzeremonie der Ankündigung des gekrönten und erobernden Kindes Horus als Herrn des Äons.

Diese ganze Sache ist im Buch des Gesetzes selbst prophezeit; lass den Schüler es vermerken und tritt ein in die Reihen der Heerschar der Sonne.23

Nach Crowley lag der Grund für den destruktiven Übergang in der extremen Divergenz zwischen dem Ethos des Äons des Osiris und dem des Horus. Nicht nur, dass sich die zwei Äonen auf grundlegend unterschiedliche magische Formeln stützen – der Äon des Opfers stand im Gegensatz zum Prinzip der Entdeckung des Wahren Willens (Thelema) –, sondern auch, und das ist vielleicht das Wichtigste, dass das Aufblühen des Äons des Horus der Befreiung von den bedrückenden religiösen Systemen des Alten Äons bedarf. Für Crowley bedeutete dies im Besonderen die Freiheit von den Beschränkungen des Christentums. Indem er die Rolle des Verkünders des Neuen Äons mit dem geschmähten Tier 666 aus dem Buch der Offenbarung einnahm, glaubte Crowley, dass er eine kosmische Aufgabe als Befehlshaber jener Kräfte wahrnahm, die das Christentum stürzen würden:

Es ist richtig, dem Tier zu gehorchen, denn Sein Gesetz ist reine Freiheit, und Er wird keinen Befehl geben, der etwas anderes ist als eine richtige Interpretation dieser Freiheit. Doch für die Entwicklung der Freiheit selbst ist es nötig, eine Organisation zu haben; und jede Organisation muss eine höchste zentrale Kontrolle haben. Dies ist besonders in Zeiten des Krieges notwendig, wie selbst die so genannten „demokratischen“ Nationen durch ihre Erfahrung gelehrt wurden. … Nun ist dieses Zeitalter in erster Linie eine „Zeit des Krieges“, vor allem jetzt, da es unser Werk ist, die Sklavengötter zu stürzen.24

Es ist nicht nur offensichtlich, dass Crowley den vielen Hinweisen auf Krieg, Gewalt und Zerstörung in The Book of the Law viel Aufmerksamkeit widmete, sondern auch, dass seine Deutungen der gewaltsamen und apokalyptischen Passagen sich über die Zeit verändert haben. Crowley schrieb zwei wichtige Kommentare zu The Book of the Law, die er einfach als den „Alten Kommentar“ und den „Neuen Kommentar“ bezeichnete; außerdem verfasste er einen dritten Kommentar mit dem Titel „Der D genannte Kommentar“ (oft auch als Djeridensis-Werk bezeichnet) und den „Kurzen“ oder „Tunis-Kommentar“. An ihnen läßt sich deutlich verfolgen, wie sich Crowleys Interpretationen der gewaltsamsten Passagen des Buches über die Zeit gewandelt haben.25 Den „Alten Kommentar“ hatte Crowley vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges geschrieben und 1912 in seiner Zeitschrift The Equinox, Band I, Nr. 7, veröffentlicht. Im „Alten Kommentar“ neigte Crowley dazu, die gewaltsamen Abschnitte mystisch auszudeuten, und bezog sich auf spirituelle Eigenschaften und Übungen. Im „Neuen Kommentar“, den er in den frühen 1920ern schrieb, ist die Interpretation jedoch radikal geschichtsbezogen und apokalyptisch.

Besonders auffällig ist die gewaltsame Sprache und Symbolik im dritten Kapitel von The Book of the Law. Treffenderweise wird dieses Kapitel dem Gott Ra-Hoor-Khuit zugeschrieben, der als Gott „des Krieges und der Vergeltung“ dargestellt wird. Crowley räumte ein, dass die Interpretation dieses Kapitels schwierig sei und dass viele die radikaleren Empfindungen darin abstoßend finden könnten. Dennoch hob Crowley, als er das dritte Kapitel kommentierte, die Wichtigkeit hervor, es wörtlich zu interpretieren, obwohl er weiterhin auch nach subtileren, esoterischen Erklärungen suchte.

Kommentar scheint kaum nötig. Der Große Krieg [gemeint ist der Erste Weltkrieg] ist nur eine Veranschaulichung dieses Textes. Die einzigen Nationen, die gelitten haben, sind die, deren Glaube osirianisch, oder, wie sie es nennen, christlich ist.26

Im „Alten Kommentar“ bemerkt Crowley, dass „es beabsichtigt scheint, dieses ganze Buch wörtlich zu deuten …, dennoch ist eine mystische Erklärung leicht zu finden.“ Crowley schien so für beide Interpretationen offen zu sein, für die wörtliche wie die metaphorische, doch es ist offensichtlich, dass er vor dem Ersten Weltkrieg die mystische Annäherung an The Book of the Law bevorzugte. Drei kurze Abschnitte des dritten Kapitels dienen als guter Einstieg in Crowleys unterschiedliche Interpretationen: „Wählet euch eine Insel!“, „Befestiget sie!“, „Dünget sie mit Kriegsgerät!“27

Im „Alten Kommentar“ werden diese Zeilen so gedeutet, dass sie sich auf die Wichtigkeit beziehen, den Geist auf die Chakren zu konzentrieren, während Crowley im „Neuen Kommentar“ schrieb: „Für die, die je einen in Aktion gesehen haben, deutet diese Redewendung seltsamerweise auf einen ‚Minenleger’ hin.“ Ebenso behauptet Crowley im „Alten Kommentar“, dass jener Vers 7, in dem es heißt, „eine Kriegsmaschine will ich euch geben“, ein Hinweis auf eine neue Meditationstechnik sei; im „Neuen Kommentar“ bemerkte er dazu: „Dies deutet auf den Panzer hin; die gewählte Insel ist England. Aber dies ist wahrscheinlich eine Vorahnung des wirklichen Großen Krieges, in dem Horus gänzlich triumphieren wird.“28

Laut Crowley war die kosmische Aufgabe Thelemas nicht auf den Sturz der alten Religionen und die Verkündung des neuen Gesetzes beschränkt; sie hatte auch das Potential, direkt auf die globale politische Situation einzuwirken. Crowley hatte politische Erwartungen für Thelema und glaubte fest daran, dass die erste Regierung, die das neue Gesetz annahm, unbesiegbar werden würde. Eine deutsche Anhängerin Crowleys, Martha Küntzel (1857 - 1941) übersetzte The Book of the Law ins Deutsche sandte 1925 angeblich ein Exemplar an Adolf Hitler. Wie Crowley schreibt, war der deutsche Diktator von dem Buch beeindruckt genug, um für einige Jahre mit Küntzel zu korrepondieren, wobei es sehr unwahrscheinlich scheint, dass sich dies wirklich so zugetragen hat. Crowley versuchte angeblich im Herbst 1930 auch, über seinen ehemaligen Schüler J. F. C. Fuller (1878 - 1966) mit Hitler Kontakt aufzunehmen und gleichzeitig über den Journalisten Walter Duranty (1884 - 1957) zu Stalin durchzudringen.29 Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass diese Annäherungen aus reinem Opportunismus erfolgten, der eher von Crowleys Ambitionen angetrieben war, Thelema zu verbreiten, als dass er Anzeichen irgendeiner Sympathie Crowleys für die jeweiligen Ideologien gewesen wäre.30

Über die zuvor zitierten Passagen aus The Book of the Law reflektierend, drückte Crowley in seinem „Neuen Kommentar“ seine Gewissheit aus, dass diese die potentielle politische Wirkmächtigkeit des Glaubensbekenntnisses von Thelema bestätigen:

Dies ist eine praktische Instruktion; und – wie ein „Militärgeheimnis“ – nicht in irgendeiner Form aufzudecken. Ich sage nur, dass die Pläne vollständig sind und dass die erste Nation, die das Gesetz von Thelema annimmt, zur alleinigen Herrin der Welt wird.31

In einer seltsamen Bekräftigung seiner apokalyptischen Interpretation von The Book of the Law behauptet Crowley auch, dass die Publikation des Buches selbst direkt mit den Ausbrüchen einer Anzahl von Kriegen in Verbindung stehe. So legt er nahe, dass die ersten vier Veröffentlichungen des Buches nacheinander zum Balkankrieg, zum Ersten Weltkrieg, zum Chinesisch-Japanischen Krieg und zum Zweiten Weltkrieg geführt hätten.32 Crowley betrachtete diese Kriege als notwendige Schritte zur Errichtung des Neuen Äons: die Menschheit musste eine Phase der Kriege, des Chaos und der Zerstörung durchlaufen, um die Gesellschaft von den Ketten und Beschränkungen der alten Götter zu befreien und dem Neuen Äon des Lichts, der Liebe und der Freiheit den Weg zu ebnen. Während diese Betrachtungsweise zu anderen esoterischen Visionen jener Zeit von einem kommenden Neuen Zeitalter in scharfem Kontrast stand, war sie – und ist es immer noch – ein wiederkehrender Gedanke in vielen prämillenaristischen christlichen Gruppen, die eine apokalyptische Phase der Trübsal als Voraussetzung für den Beginn der tausendjährigen Herrschaft Christi betrachteten.

Tabelle 4.1. Vergleich von Crowleys „Alten Kommentaren“ und „Neuen Kommentaren“ zu Liber AL vel Legis


Liber AL vel Legis Alter Kommentar Neuer Kommentar
AL III:4: „Wählet euch eine Insel!“ Eine Insel = eines der Chakren oder Nervenzentren in der Wirbelsäule. Dies ist eine praktische Instruktion und – wie ein „Militärgeheimnis“ – nicht in irgendeiner Form aufzudecken. Ich sage nur, dass die Pläne vollständig sind und dass die erste Nation, die das Gesetz von Thelema annimmt, zur alleinigen Herrin der Welt wird.
AL III:5: „Befestiget sie!“ Befestiget sie = konzentriert den Geist darauf. Befestiget sie = konzentriert den Geist darauf.
AL III:6: „Dünget sie mit Kriegsgerät!“ Haltet jeden Eindruck von ihr fern. Für die, die je einen in Aktion gesehen haben, deutet diese Redewendung seltsamerweise auf einen ‚Minenleger’ hin.
AL III:7: „Eine Kriegsmaschine will ich euch geben.“ Ich werde eine neue Meditationsmethode beschreiben, mit welcher … [siehe Vers 8, Alter Kommentar]. Dies deutet auf den Panzer hin; die gewählte Insel ist England. Aber dies ist wahrscheinlich eine Vorahnung des wirklichen Großen Krieges, in dem Horus gänzlich triumphieren wird.

Christlicher Prämillenarismus und Dispensationalismus

Mit dem christlichen Prämillenarismus war Crowley durch die religiöse Erziehung seiner Eltern, die zur fundamentalistischen evangelikalen Sekte der Plymouth Brethren gehörten, wohl vertraut.33 Diese Bewegung, die in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts von dem Calvinisten John Nelson Darby (1800 - 1882) gegründet wurde, ist geprägt von einer wörtlichen Auslegung der Bibel und einer konservativen Theologie, in deren Mittelpunkt die dispensationalistischen Lehren Darbys stehen.34

Nach Darbys Theologie kann die Weltgeschichte in eine Reihe von sieben Zeitaltern oder Dispensationen eingeteilt werden. Gott verhält sich in jeder dieser Dispensationen unterschiedlich zur Menschheit, der er verschiedene Lektionen zu lernen aufgibt. Die Dispensationen werden bezeichnet als „Unschuld“ (bis zum Sündenfall), „Gewissen“ (von Adam bis Noah), „Regierung“ (von Noah bis Abraham), „Versprechen“ (von Abraham bis Moses), „Mosaisches Gesetz“ (von Moses bis Christus), „Gnade“ (von Christus bis heute) und das „Tausendjährige Königreich“, das zum Ende der Zeitalter eingeleitet wird. Darby interessierte sich stark für Eschatologie, und seine Theologie betonte die bevorstehende Endzeit. Er vertrat die prämillenaristische Auffassung, dass Christus vor Beginn des Tausendjährigen Königreiches körperlich zur Erde zurückkehre. In diesem Punkt wich er von anderen Formen der christlichen Eschatologie ab, vor allem vom Postmillenarismus, der das Tausendjährige Königreich vor der Zweiten Ankunft Christi sah.

Darby predigte eine prätribulationale Wiederkunft Christi, nach welcher Christus unmittelbar vor der weltweiten Trübsal wiederkehren und die Gläubigen in den Himmel „entrücken“ würde. Der Theologe Jan S. Markham erklärt, dass Darby glaubte, die Bibel habe festgelegt, dass die Zweite Ankunft Christi in zwei unterschiedliche Phasen gegliedert sein wird. Die erste ist die „Entrückung“, wenn die in Christus Wiedergeborenen in den Himmel aufsteigen und ihm dort begegnen, und die zweite ist die „Sichtbare Wiederkunft“, die die Tausendjährige Herrschaft auf Erden einleiten wird. Darby lehrte, dass zwischen diesen beiden Stufen eine siebenjährige Zeit der Trübsal liege, in welcher der Antichrist hervortreten werde.35

Auch wenn Crowley in seinen Jugendjahren gegen die religiösen Ansichten seiner Eltern rebellierte – und diese Revolte Zeit seines Lebens fortsetzte –, fällt es auf, dass sich zwei charakteristische Merkmale der religiösen Weltanschauung der Plymouth Brethren im Glaubenssystem von Thelema widerspiegeln: die Wichtigkeit des Studiums der Heiligen Schrift und der Dispensationalismus. In Crowleys neuer Religion wurde die Heilige Schrift der Bibel durch The Holy Books of Thelema [Die Heiligen Bücher von Thelema] ersetzt, von denen das wichtigste The Book of the Law war. Die neue Dispensation war nicht die bevorstehende Zeit vor der Wiederkunft Christi, sondern eher der Äon des Horus, der formell zur Frühlingstagundnachtgleiche 1904 eingeleitet wurde.

Es scheint wahrscheinlich, dass Crowleys Feindseligkeit gegenüber dem Christentum zum Teil eine Reaktion auf die Traumata seiner Erziehung im kultischen Umfeld des Exklusiven Zweiges der Plymouth Brethren war. Seiner Autobiographie nach war Crowley bis zum Alter von elf Jahren, als sein Vater starb und seine Mutter sich in ihrer Trauer der Religion noch stärker zuwandte, relativ glücklich. Zu diesem Schlüsselmoment in seinem Leben schreibt er:

Ich akzeptierte die Theologie der Plymouth Brethren. In der Tat konnte ich mir kaum vorstellen, dass es Leute gab, die sie bezweifeln könnten. Ich bin einfach zu Satans Seite übergelaufen; und bis zur Stunde kann ich nicht sagen warum.36

Crowleys Einstellung dem Christentum gegenüber ist in Wirklichkeit viel komplexer, als man von jemandem, der sich selbst mit dem Tier der Offenbarung identifiziert, erwarten mag. Wie auch H. P. Blavatsky und andere Okkultisten jener Zeit scheint er einen grundsätzlichen Respekt für Christus als Individuum, das Erleuchtung erreicht hat, bewahrt zu haben, obwohl er der historischen Beschreibung der Person Christus in den Evangelien gegenüber skeptisch blieb. Er verachtete auch das Christentum und seine Morallehren; insbesondere den protestantischen und reformierten Kirchen stand er feindselig gegenüber. Obwohl Crowley bereits in seiner Autobiographie auf seine Kindheitserfahrungen mit den Plymouth Brethren und den verschiedenen Brüderschulen, auf die er geschickt wurde, einging, bewahrte er sich die radikalste, sein Ich schonungslos enthüllende Darstellung dieses schmerzhaften Abschnittes seines Lebens, den er „eine Kindheit in der Hölle“ nannte, für die Einleitung zu seinem epischen Gedicht The World’s Tragedy (1910) auf:

Darum halte ich den legendären Jesus in keiner Weise für verantwortlich für die Schwierigkeiten: sie begannen wohl mit Luther und setzten sich mit Wesley fort; doch ganz gleich! – worauf ich hinaus will, ist die Religion, die England heute zur Hölle für jedermann macht, dem überhaupt an Freiheit gelegen ist. Diese Religion nennen sie Christentum; den Teufel, den sie verehren, nennen sie Gott. Ich akzeptiere diese Definitionen, wie ein Dichter es tun muss, wenn er von seinen Zeitgenossen verstanden werden will, und es ist ihr Gott und ihre Religion, die ich hasse und die ich zerstören werde.37

Abschließende Bemerkungen

Zeit seines Lebens griff Crowley die gewaltsamen Passagen von The Book of the Law immer wieder neu auf, und zunehmend betrachtete er sie als Prophezeiungen der Weltgeschehnisse, die sich um ihn herum offenbarten. Dies wurde gegen Ende seines Lebens mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges besonders deutlich, der, wie Crowley behauptete, eine direkte Folge der Veröffentlichung von The Book of the Law im Jahre 1937 war. Also revidierte er 1945, nach Entfesselung der Atombombe, seine Meinung über die „Kriegsmaschine“ in The Book of the Law und änderte den „Panzer“ zur „Atombombe“ um.38 Nach Crowleys Tod 1947 interpretierten Thelemiten wie Karl J. Germer (1885 - 1962) und Marcelo R. Motta (1931 - 1987) bestimmte apokalyptische Passagen von The Book of the Law im Angesicht des Kalten Krieges neu und erwarteten einen drohenden Dritten Weltkrieg, in dem ein großer Teil der Menschheit von Nuklearwaffen vernichtet werden würde.39 In den 1950er Jahren arbeitete Germer, der nach Crowley den Ordo Templi Orientis (O.T.O.) übernommen hatte, mit dem ehemaligen Crowley-Schüler Gerald Yorke zusammen, der alle Werke Crowleys gesammelt hatte, um maschinenschriftliche Kopien sämtlicher erhaltenen Briefe, Tagebücher und Manuskripte anzufertigen. Ein Satz von Kopien sollte in London aufbewahrt werden, einer in den Vereinigten Staaten und ein weiterer in Australien, mit dem Ziel, dass im Falle globaler Kriege oder Katastrophen mindestens eine relativ vollständig erhaltene Sammlung der Schriften des Tieres überlebt.40

Kenneth Grant (1924 - 2011), der für eine kurze Zeit gegen Ende von Crowleys Leben dessen Privatsekretär gewesen war, hatte in den späten 1940ern und Anfang der 1950er Jahre teil an diesem Projekt, indem er Material für Yorke und Germer abschrieb. Ende der 1960er begann Grant, in Zusammenarbeit mit Crowleys Nachlaßverwalter John Symonds, eine Anzahl signifikanter Werke des Tieres zu veröffentlichen. Es sollte danach nicht lange dauern, bis Grant seine eigene Version des O.T.O. gründete (der später als Typhonischer O.T.O. bezeichnet wurde und heute Typhonischer Orden heißt) und die ersten Bände seiner einflussreichen „Typhonischen Trilogien“ veröffentlichte. Grants Werke sind fest in der thelemischen Tradition verwurzelt, auch wenn Traditionalisten innerhalb der Bewegung sie als unorthodox und eigensinnig empfinden. Grant erörtert The Book of the Law in verschiedenen seiner Werke ausführlich, und es ist offensichtlich, dass er Crowleys Glauben, dass der Übergang von Alten zum Neuen Äon von gewaltsamen Umbrüchen markiert sei, teilte. Seine Perspektive war möglicherweise stärker apokalyptisch als Crowleys, denn er sagte eine bevorstehende globale Katastrophe voraus. In seinem Buch Outside the Circles of Time (1980) behauptet Grant:

Die Bedeutung von Crowleys Werk … tritt nun erst in Erscheinung, da die Werte der alten Welt, des alten Äons, wegbrechen oder einem radikalen Wandel unterzogen werden. Des Weiteren ist die ganze Masse der Menschheit – nicht nur eine Handvoll Nationen, seien sie auch groß und machtvoll – jetzt von Zerstörung bedroht, wie einst zuvor in den Tagen von Atlantis, als sie fast völlig vernichtet wurde. Da sind jene, die glauben, dass es bereits zu spät ist, eine Wiederholung dieser Katastrophe abzuwenden, obwohl erwogen wird, dass es bestimmten Mitgliedern des Menschengeschlechts möglich sei, das Inferno und seine Auswirkungen zu überleben.41

Auch Grants Auffassung von den Mechanismen der Zeit unterschied sich von der Crowleys, denn wo Crowley die Geschichte relativ linear in Zeitalter unterteilt sah, nahm Grant ein zyklisches Konzept an, das er möglicherweise dem Hinduismus entlehnt hat.42 Indem er die geschichtlichen Ereignisse aus dieser Perspektive betrachtete, ging Grant davon aus, dass die Menschheit den Endphasen des Kali Yuga oder Schwarzen Zeitalters entgegensehe und dass die Gewalt um uns und die drohende Katastrophe die Geburtswehen des Neuen Äons seien, das auch Satya oder Goldenes Zeitalter genannt wird. In einem kurzen Text mit dem Titel „Looking Forward“ [Vorausschau], den er 2004 zum einhundertsten Jubiläum der Rezeption von The Book of the Law verfasste, scheint Grant die zeitgenössischen apokalyptischen Spekulationen über den Maya-Kalender und das „Ende der Zeit“ aufgegriffen zu haben, nach welchen die Zerstörung der Welt gegen Ende 2012 erfolgen sollte.43

Kenneth Grants Schriften sind ein gutes Beispiel dafür, wie die millenaristischen und dispensationalistischen Themen von The Book of the Law von einigen Thelemiten nach Crowley neu interpretiert wurden. Eine schnelle Suche im Internet belegt eine Vielzahl anderer gegenwärtiger Interpretationen, angefangen von rein symbolischen bis hin zu wörtlichen und historischen Deutungen.

Zusammenfassend kann man Crowleys Verständnis der Geschichte als Abfolge von Äonen oder Dispensationen als eine Widerspiegelung der Lehren John Nelson Darbys und der Plymouth Brethren betrachten, denen Crowley in seiner Kindheit begegnete. Darbys Beschreibung der in chronologisch aufeinander folgenden Dispensationen unterteilten Menschheitsgeschichte zieht eine Parallele zu Crowleys Folge von Äonen. Die christliche Endzeittheologie des Prämillenarismus mit ihrem Glauben an die Trübsal, die dem Millennium vorausgeht, wird bei Crowley als Geburtswehen des neuen Äons des Horus neu interpretiert. Nach der prämillenaristischen Theologie werden die gläubigen Christen durch Entrückung vor der Trübsal gerettet. Während es dazu wohl kein direktes thelemisches Gegenstück gibt, scheinen gewisse Passagen im ersten Kapitel von The Book of the Law – zum Beispiel Vers 58: „Unvorstellbare Freuden gebe ich auf Erden: Gewissheit, nicht Glauben während des Lebens; im Tod: unaussprechlichen Frieden, Ruhe, Ekstase“ – den wahren Gläubigen, die das Gesetz von Thelema annehmen, eine große Belohnung anzubieten. Schließlich, gerade wie Christus in der millenaristischen und apokalyptischen christlichen Tradition eine zentrale Rolle in der Schlacht gegen Satan und die Mächte des Bösen zukommt, sieht sich Crowley – als das Tier 666 – als Befehlshaber der Mächte, die die „Sklavengötter“ des Alten Äons stürzen werden. Diese (teilweise) umgekehrte Form des christlichen Prämillenarismus kann so als interessantes Beispiel dafür betrachtet werden, in welcher Weise christliche Lehren bewusst oder unbewusst von zeitgenössischen neureligiösen esoterischen Bewegungen umgedeutet und übernommen werden, und wie wichtig es darum für die Erforschung westlicher Esoterik ist, christliche Praktiken und Glaubensvorstellungen mit einzubeziehen.