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Kanon der Formate

Eine Aufführung ist also in gewisser Weise die „Anwendung“ des Werks im Format. Die Werke werden im Laufe der Zeit dabei genauso ein ums andere Mal neu interpretiert und evaluiert, wie auch die Formate sich in der Wahrnehmung des Publikums und der Programmverantwortlichen bewähren müssen. Der für jede Epoche unterschiedliche Bestand zentraler Werke, ihr „Kanon“, ist genauso veränderlich wie der Kanon der Formate.

Wie auf der Werkebene gibt es auch bei den Formaten die Kategorie der „Kreationen“ bzw. „créations“, die nur im Entstehungszusammenhang der sie hervorbringenden Künstler*innen funktionieren und sich von ihnen nie wirklich ablösen. Aus ihnen wird selten ein Werk, das autonom existiert und auf andere Interpret*innen wartet. So verhält es sich oft mit den Stücken des devised theatre, die auf den Leib bestimmter Künstler*innen geschrieben wurden bzw. von deren Mitgestaltung geformt wurden, sodass sie das Ergebnis eines kollektiven Entstehungsprozesses sind und an die Präsenz der sie Hervorbringenden gebunden bleiben. Temporäre oder neue Formatkreationen bleiben oft in ähnlicher Weise an die Urheber*innen gebunden, und das bedeutet, dass diese den Inhalt ihres Formats immer wieder neu schreiben, manchmal über Jahre hinweg. Und so nagt der Zahn der Zeit am Format vor allem von innen. Es sei denn, das Format kann sich von den es Hervorbringenden lösen und wie ein Showformat auf die Reise durch die Sender und Länder gehen.

Aber warum spricht man kaum über Formate? Bei Showformaten wissen wir oft gar nicht, dass sie in der Regel nicht von den Sendern entwickelt wurden, die sie zeigen. Ein Personality-Show-Format wie „Kessler ist …“, das in Deutschland vom ZDF produziert wurde, stammt eigentlich aus Israel und hieß dort „How to be“. Das Format der „Late Night Show“ ist wiederum mit legendären Figuren des amerikanischen Fernsehbusiness verbunden, aber gleichzeitig so allgemein, dass es in unzähligen Spielarten produziert wurde und wird. Zur Unauffälligkeit von Formaten trägt auch bei, dass viele Menschen zum Beispiel gerne „Nachrichten“ schauen und damit die „Tagesschau“ meinen, was zeigt, dass Formate oft ihre eigene Attraktion besitzen. Manche Zuschauer*innen oder Zuhörer*innen lieben zum Beispiel Podcasts und finden dann den speziellen, der zu ihnen passt. Oder sie lieben „Ausstellungen“ und „Konzerte“ oder „Theater“. Wenn jemand sagt: „Ich liebe Tatort“, dann meint das selten einen speziellen Film, sondern ein Spielfilmformat, das in deutschsprachigen Städten mit ihren lokaltypischen Kommissar*innen geprägt ist. Und vielleicht spricht man auch deshalb nicht oft über Formate, weil die ästhetische Anmutung sich in der Regel nur auf der Ebene der Werke entfaltet – Formate sind Abstraktionen.

Formate sind Mustererkennungswerkzeuge. Ihre wachsende Bedeutung und auch ihre jüngsten Entwicklungen verbinden sich eng mit der Entwicklung des digitalen Zeitalters. Weniger in dem Sinne, dass sie mit dem Bau der ersten Computer in die Welt gekommen sind, sondern eher im Verständnis von „Digitalität“ des Philosophen Armin Nassehi, der das digitale Zeitalter mit dem Beginn einer Praxis der Vermessung und Kultur der Standardisierung und Präkognition verbindet (Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, 2019). Formate entwickeln formale, oft intuitive und nicht kommunizierte Algorithmen für die Diagnose des Zusammengehörigen. Formate bringen also Ordnung in die Welt, weil sie deren Muster lesen und aufweisen.

Das Format als Werk

Für Künstler*innen wie Philippe Parreno oder Yayoi Kusama ist das eigentliche Werk nicht das einzelne Objekt, das sie in einer Ausstellung zeigen und in der Galerie verkaufen, sondern das Gesamtgefüge der Ausstellung selbst – erst ihre Totalität erzeugt am Ende das „Werk“, und dafür wird hier alles, was im Raum ist, inklusive der baulichen Infrastruktur, der anwesenden Künstler*in oder Besucher*in zum Teil des Werks. In der Gestaltung der Ausstellung, wie sie Kai Althoff 2016 im Museum of Modern Art (MoMA) in New York entwickelt hat, wird das Format als spezifisches Werk begriffen – eine Gesamtkomposition aus Dingen, Musik, Gerüchen und gelegentlich auch Abfall, die in ihrem Zusammenspiel ähnlich durchgestaltet wurde wie das einzelne Objekt. Seine Ausstellung „und dann überlasst mich den Mauerseglern“ organisiert die Begegnung mit den Bildern und Klängen durch die Einbettung aller Objekte in ein ebenfalls werkhaftes Ambiente völlig anders als eine White-Cube-Ausstellung. Wo klassische Ausstellungen septische Räume kreieren, Übersicht und Abstand, und so das aus seinem Kontext extrahierte Werk als Objekt präsentieren, vergräbt Althoff seine Arbeiten in der Ausstellung wieder. Dafür hat er im großen Saal des obersten Geschosses eine White-Tent-Höhle geschaffen, und die Besucher*innen entdecken darin die Welt des Künstlers in einem Gewirr von Arbeiten und Fundstücken, in Grafiken und kunstvollen Briefen unter bekleckerten Glasplatten, neben verbrannten Matratzen, oder man sieht sie einfach gar nicht, weil die Bilder verpackt in grauem Papier an der Wand lehnen. In seiner exquisiten Ausstellung mit Lutz Braun bei der Berlin Biennale 4 roch es nach Exkrementen. Zwar besetzt Kai Althoff den Ausstellungsraum, aber er inszeniert seine Arbeit nicht als Kette singulärer Ereignisse, die Gemälde oder Zeichnungen wie Heiligtümer ohne Einbettung und Kontext präsentieren – was auch interessant sein kann, nur eben nicht für Kai Althoff. Er spielt mit dem Format, seiner verborgenen Pädagogik, seiner subtilen Macht, die auf uns via ihrer für selbstverständlich gehaltenen Konventionen einwirken, auf dass auch wir aus ihnen kommend ein bisschen sauberer und aufgeklärter zurück in die Welt gehen. Kai Althoff gestaltet lieber unordentliche Ausstellungen, die in ihren eintausend arrangierten Details so überaus pedantisch sind, dass man lachen möchte über die Befreiung, die von ihnen ausgeht.

Das Format, von dem hier die Rede ist, ist ein Container oder Ordner, der nie neutral ist, auch wenn er an sich „leer“ sein mag. Formate vereinen Werke, bilden oder ermöglichen eine Erzählung, sie strukturieren den Raum und kreieren ein eigenes „Nutzer*innenverhalten“ mit Konventionen wie Applaus oder Berührungsverbot, die, wie Botho Strauß einmal über die Erscheinung von Schauspieler*innen bemerkte, eine Mischung aus Prostitution und Keuschheit erzeugen, aus energetischer Verbindung und physischer Trennung.

Formate rivalisieren bisweilen mit den Werken, vor allem aber verleihen sie ihnen Aufmerksamkeit und Kraft. Alle heute als „klassisch“ empfundenen Veranstaltungsformen sind institutionalisierte Formate, also Formate, die heute das Basisangebot von Institutionen darstellen, die ihrem Publikum Begegnungen mit Werken anbieten, die man kennt, noch bevor man die Werke kennt. Kulturaffine Besucher*innen wissen, was eine Lesung ist oder ein Interview oder ein Festival, eine Aufführung oder eine Ausstellung, eine Biennale oder Lecture Performance: Man kann diese Container mit Inhalt füllen wie man möchte, immer wird das Format als „Fassung“ des zu Veröffentlichenden aufseiten des Publikums eine Form von Sicherheit, Gewohnheit und Wiedererkennung zur Folge haben. Formate formalisieren dafür verschiedene Funktionen und Zwecke, die in einer ausreichend großen Zahl von Werken angelegt waren. Und so kommt es, dass Formate als Formate nur auffällig werden, wenn gegen ihre eigenen Formalisierungen und Regeln verstoßen wird oder es sich um temporäre Kreationen handelt, also Abweichungen von den institutionellen Gewohnheitsformen. Ein Dokumentarfilm oder eine Reportage wird sofort aus dem jeweiligen Format verstoßen, wenn sich herausstellt, dass die O-Töne und authentischen Bilder des Werkes Fake sind und Fiction, die sich als solche nicht zu erkennen gab. Bei einem Dokumentarfilm oder einer Reportage wird die Signatur eines „Erfinders“ oder einer „Erfinderin“ auf der Werkebene zum Problem für das Format.

Eine künstlerische Produktion wie 100% Stadt des Kollektivs Rimini Protokoll kann als ein Format verstanden werden, das überall, wo das Werk aufgeführt wird, mit ortsspezifischen Vertreter*innen ein szenisches Selbstporträt der Stadt entsprechend unterschiedlicher statistischer Profile entwickelt. Formate definieren dabei an sich keine Ästhetik, sondern meist nur Parameter, innerhalb derer sie sichtbar wird. Festivals sind Pan-Formate, die in sich nahezu alles mit allem verbinden können. Unterformen der Festivals können Mitternachtskonzerte oder Marathons sein, ein Stadtraumprojekt, eine Party, ein Battle oder Wettbewerb, Preisverleihungen, ein LARP oder Symposium, aber jedes dieser Unterformate hat auf die eine oder andere Weise einen Bezug zur großen Erzählung des Festivals. All das kann es auch im Repertoiretheater neben den klassischen Aufführungen geben – es gibt auch dort Lecture Performances und hybride Formate zwischen Streaming und Livepräsentation vor Ort, Publikumsdiskussionen und Matineen. Aber aufwendige Formate im Stadtraum wie Matthias Lilienthals „X-Wohnungen“, die nicht mehr im Inneren der Institutionen stattfinden, sind ähnlich wie der „Schwarzmarkt des Wissens“ von Hannah Hurtzig auf flexiblere Strukturen und auch auf ein anderes Publikum angewiesen. Formate in diesem autor*innenhaften Sinne adressieren ihrerseits ein Publikum, das neugierig auf Kreationen ist und nicht so sehr auf die Interpretation von etwas Bekanntem. Auch das führt oft aus den traditionellen Institutionen der Kunst hinaus in kunstfremde Räume.

Neue Räume

Denn die klassischen Veranstaltungsformen wie Ausstellung, Kongress, Konzert oder Aufführung sind direkt mit baulichen Infrastrukturen verbunden, die mit dem Format den Werken oft auch die jeweils nötigen Voraussetzungen garantieren – keine Ausstellung ohne Klimaanlage, kein Konzert ohne Saal und Bühne, keine Aufführung ohne Gewerke. Formate schaffen also in erster Linie Räume – sie organisieren das Sicht- und Hörbarwerden der einzelnen Arbeit und definieren das in einer spezifischen Weise. Die Kreation eines spezifischen, über Jahre wiederholten Konzertformats wie „The Long Now“ schafft zum Beispiel einen 30 Stunden währenden Flow von unterschiedlichsten Kompositionen, der mittelalterliche Werke in die Nachbarschaft von Minimal Music und Ambient-Stücken bringt, zugleich aber auch eine liberalisierte Aufführungspraxis schafft – mit Musiker*innen, die sich bisweilen inmitten des Publikums aufhalten, das seinerseits ständig kommen und gehen kann. Man schläft in der riesigen Turbinenhalle des Veranstaltungsortes Kraftwerk Berlin auf den gleichen Feldbetten ein, auf denen man zuvor mit Freund*innen saß, etwas gegessen oder angehört hat – all das zusammen ergibt die Signatur des Formats. Wobei ein Event nur zum Format werden kann, wenn es sich wiederholt, ohne immer das Gleiche zu sein – die Musikauswahl wiederholt sich ja nie, auch nicht die das Konzert begleitende Ausstellung und Filmreihe. Ein Großteil der Besucher*innen kommt bei „The Long Now“ nicht für einzelne Stücke, sondern für diese Erfahrung einer Vergleichgültigung von Zeit, das Erlebnis der freundlichen Nachbarschaft verschiedener Stile und Menschen. Das Format überragt hier in gewisser Weise das einzelne Werk in der Wirkung auf das Publikum. Das ist genau jener Aspekt, den manche zeitgenössischen Künstler*innen auch als Konkurrenz von Werk und Format beschreiben, als eine neue Übermacht des Formats, oder zumindest eine starke Präsenz, die zu wenig reflektiert wird.

Ein großer Teil unserer Arbeit bei den Berliner Festspielen bestand in den letzten zehn Jahren im Experimentieren mit diesen institutionell verbürgten Konventionen. Künstler*innen, aber auch Programmmacher*innen veränderten das Ritual des Konzerts, der Aufführung oder Ausstellung selbst als Format. Oft entstanden neben den sich selbst entgrenzenden Werken auch ganz neue Formate, die eine eigene Autor*innenschaft besaßen. Ein Werk wie das Nationaltheater Reinickendorf von Vegard Vinge und Ida Müller ist nicht nur ein Stück oder eine Serie von Stücken, sondern eine inszenierte Welt, die Ausstellung, Konzert und Aufführung vereint und ihrerseits von Künstler*innen bespielt wurde, die dafür eingeladen wurden und in einem kuratierten Gesamtkonzept erschienen. Viele Arbeiten von Rimini Protokoll dagegen sind Formate, die theoretisch durch andere Akteur*innen wiederholbar und neu interpretierbar wären.

Die Tendenz, dass die Attraktivität von Veranstaltungen heute oft von Formaten ausgeht, die in ihrer Wirkung die Werke überstrahlen, ist meiner Erfahrung nach die eigentliche Verschiebung im Kunstsystem der letzten 20 oder 25 Jahre. Die Tendenz vom Werk zum Format ist eine, die andere Gewichtungen schafft und die primäre Welt der Werke gelegentlich in den Schatten stellt. Wirklich gute Formate, die nicht nur eine These verfolgen, sondern auch ihr angemessene Wahrnehmungssituationen schaffen, sind Glücksfälle – in ihnen kristallisieren sich Erlebniswelten aus, die spezifische Werkaspekte in Atmosphären übersetzen und für sie neue Verortungen schaffen. Sie erzeugen die Unruhe der Erfahrung von etwas Neuem und von oft ungeahnten Verbindungen zu anderen Feldern der Kunst, der Nichtkunst, anderen Milieus und Generationen. Sich mit Formaten zu beschäftigen, heißt, Rahmungen zu lesen, eine Metaerzählung zu genießen, unabhängig vom Geschmack am einzelnen Werk. Man kann dies als Vorteil dieser Verschiebung vom Werk zum Format empfinden, aber auch als Gefahr. Auf diese Verschiebung zu achten, ist noch eine relativ junge Beschäftigung. Traditionell wird vor allem auf Werke geachtet. Doch nun wächst sowohl auf der Werkebene, also dem singulären Ereignis, als auch auf der Veranstaltungsebene ein kuratorischer Gestus heran, der diese intentionalen Sammelbecken diverser Werke hervorbringt, die als übergeordnete Fassung selbst eine Erzählung bilden.

Formate, insbesondere operative Formate, die für bestimmte Themen oder Aufgabenstellungen erfunden wurden, haben sich im traditionellen Feld der Begegnung zwischen Kunstwerk, Institution und Publikum als eigene Entitäten etabliert. Auch im Bereich der Unternehmensentwicklung oder Pädagogik sind an die Stelle der klassischen Mitarbeiter*innenschulung diverse operative Formate getreten. Formate sind keineswegs Modeerscheinungen einer deregulierten Kunstszene, deren Werke immer interdisziplinärer, internationaler, intermedialer werden und nach neuen Rahmungen verlangen, sondern eine generelle Tendenz des digitalen Zeitalters. Klassische Formate, also die Formate der klassischen Institutionen, sind Sendeformate mit einem linearen Charakter – sie senden von „oben“ und sind in ihrer Struktur festgelegt, das heißt verbindlich für Werke, die in Institutionen nach Sichtbarkeit streben. Dieses Privileg der Formatierung ist inzwischen weniger zwingend mit diesen Institutionen verbunden. So, wie es neben den traditionellen Häusern immer mehr Orte und Strukturen gibt, in denen Formate leichter aus den Bedürfnissen der Werke abgeleitet werden können, hat sich auch eine alternative Kulturszene herausgebildet, die längst ebenfalls „Hochkultur“ produziert, nur nach anderen Spielregeln und Ressourcen.

Eine Ausstellung von Pierre Huyghe schafft zum Beispiel eine schwebende Erfahrung von Kunst, die sich durch die unterschiedlichsten Medien und Orte hindurchbewegt und oft größere Organismen bildet, als klassische Formate sie aufnehmen können. Gerard Mortier hat als Opernspezialist und Festivaldirektor dafür Anfang der 2000er-Jahre, als er die Ruhrtriennale gründete, den bereits erwähnten Begriff der „Kreation“ geprägt – die Beschreibung der Zusammenführung von Romanen mit Räumen und Kompositionen, die ein eigenes, neues Werk hervorgebracht haben, das unwiederholbar durch andere Künstler*innen blieb, weil diese Kreation keine Interpretation war, sondern Schöpfung – was oft schwer zu trennen ist. Während sich im frankophonen Theater der Begriff der „création“ weitgehend durchgesetzt hat, ist sein deutschsprachiges Pendant heute nur selten auf Spielplänen zu lesen. Häufiger stößt man auf die „Stückentwicklung“, die eine vergleichbare Abhängigkeit von Werk und Akteur*innen in der Werkgenese beschreibt, die Wiederholbarkeit durch andere Interpret*innen aber vielleicht weniger kategorisch ausschließt und häufig impliziert, dass das enstandene Werk dem Sprechtheater zuzuordnen ist. Kreationen bzw. créations wie Alain Platels Wolf interpretierten nicht mehr einzelne Werke Mozarts, sondern in der Collage verschiedenster seiner Arbeiten Mozart selbst. In Gerard Mortiers Programm entstanden Formate wie „Century of Song“ oder „Die Wiedererrichtung des Himmels“, die mehrjährige Kreationen auf der Ebene eines anderen Framings von Musik oder Literatur waren und neue Berührungsräume zwischen Literatur und Nicht-Literatur, Malerei oder Politik schufen, um einer Idee, einer Fragestellung bis in ihre feinsten und überraschendsten Verästelungen zu folgen.

Formate sind Inszenierungen von Zusammenhängen, die weniger spezifische Inhalte als Verbindungen aufführen. Festivals sind wahrscheinlich die größten und auch flexibelsten „Maschinen“ für die Zusammenkunft diverser Werkformen. Der moderne Begriff des Kuratierens zielt tatsächlich stärker auf die Inszenierung und das Spiel mit Formaten ab als auf die Arbeit am oder mit dem einzelnen Werk. Dramaturg*innen interessiert im Berufszusammenhang das singuläre Stück, Kurator*innen die Erzählung, die es im Zusammenspiel mit anderen Stücken und vor allem anderen Räumen und Akteur*innen bilden kann. Festivaldirektor*innen orientieren sich hingegen oft an den Eigenbedürfnissen der ihnen übergebenen Festivalmarke – sie haben ein Budget und einen Zeitplan, einen Ort und eine Zielgruppe, und in der Regel sind diese Parameter über viele Jahre oder Jahrzehnte stabil. Die kuratorische Arbeit bricht diese Eigenbedürfnisse der Marke aufgrund der Begegnung mit den Werken und den Schmerzthemen der Gesellschaft immer wieder auf, und Kurator*innen arbeiten daher oft operativer als Direktor*innen – sie formulieren zugespitzte Behauptungen und rahmen sie in einer Struktur, die sie über weite Teile den Werken verdanken. Diese Strukturerfindung ist das Format.

Das Versprechen der Abweichung

Neu kreierte Formate unterscheiden sich von institutionalisierten Formaten auch dadurch, dass sie sich begründen müssen oder wollen. Sie verbinden sich mit ästhetischen Eigenarten oder Inhalten, die nach besonderen Räumen oder einer anderen Spieldauer verlangen. Temporäre Formate sind in der Regel programmierte Abweichungen, die etwas Abweichendes versprechen – Theaterabende in privaten Wohnzimmern, Performancekunst-Ausstellungen im Museum, intensive Themendiskussionen über Nacht in der Galerie – Formate dieser Art sind Interventionen. Und zugleich sind sie Brands, sie schaffen etwas, das immer gleich ist, auch wenn sich darin nichts wiederholt – wie bei einer Nachrichtensendung. Nur dass diese Sendeformen zunächst auf sich selbst als Plattform verweisen, auf ihre eigenen Spielregeln und Masterminds. Am Anfang „gehören“ Formate ihren Autor*innen, am Ende aber, weil Formate sie tragende Strukturen brauchen, den Redaktionen.

Temporäre Formate sind die Projekte der Institutionen. Während eine tägliche Nachrichtensendung als solche scheinbar außerhalb sich wandelnder Programmangebote zu stehen scheint, sind neu kreierte Formate immer auch Zugeständnisse an den Tag, an spezifische Fragestellungen, Talente und Interessen und müssen sich immer wieder fragen lassen, ob es sie noch braucht. Insofern sind temporäre Formate die Inkubatoren für Neues im System, sie beatmen die traditionellen Häuser und ihre regulären Angebote mit frischen Ideen. Und da es frisches Geld nur für frische Ideen gibt, sind neue Formate oft die einzige Möglichkeit, gewachsene Strukturen für andere Milieus und ein jüngeres Publikum wieder attraktiv zu gestalten. Insofern resultiert der Hang zum neuen Format auch aus der strukturellen Notwendigkeit zur Veränderung. Formate sind Instrumente. Wer Programme gestaltet, braucht die Gestalter*innen dieser Erzählungen, die dem großen Patchwork die entscheidenden inhaltlichen, gesellschaftlichen oder ästhetischen Akzente verleihen.

Auch jede Interpretation alter Stücke schafft etwas Neues. Das gilt für Werke genauso wie für Formate. Jede Interpretation bezieht ihre Relevanz aus der Abweichung von anderen Gesten der Wiederholung. In der Klassik, ähnlich auch im Jazz, zielt die Anstrengung darauf, das Gleiche immer wieder anders zu hören und trotzdem als die Erfahrung einer erfüllten Begegnung mit dem Original. In der Regel tritt das Format in der Welt der Interpretationen völlig hinter das Werk zurück und wird nur auffällig, wenn eine Aufführung 30 Stunden dauert oder in einem Saal mit vier Bühnen stattfindet.

Vielleicht wird es irgendwann in der Kunst- und Theaterwissenschaft „Formatstudien“ geben, die uns den Werkcharakter der institutionellen und auch der vergänglichen Formate aufmerksamer lesen und verstehen lehren. Sie könnten eine eigene Forschungs- und Sensibilisierungsschule für diese Sprache des Formats oder jener Werke sein, die selber die Form kuratierter Agglomerationen angenommen haben. Formate sind eben auch eine Software – sie programmieren Ideen in der Hardware von Institutionen, um neue Erlebnis- und Kongruenzerfahrungen zu schaffen. Was spielt mit wem zusammen, und wofür steht das? Wie viele Perspektiven auf eine Fragestellung muss ich einnehmen, um ein Thema oder Œuvre nicht eindimensional und ideologisch zu behandeln? Wie organisiere ich die „Luft“ zwischen den Phänomenen, den Freiraum, den Entdeckungen brauchen, um nicht nur These zu bleiben? Wie öffne ich diese Sendestrukturen für das Feedback unterschiedlichster Akteur*innen und Communities? Fast jedes temporäre Format organisiert dafür Regeln, die sich von den institutionellen Standards oft deutlich unterscheiden, aber wir achten nicht auf diese Regeln oder Umstände, und im Grunde ist das auch sehr gut, denn es geht ja nicht wirklich um die Formate, sondern das, was drin ist in diesen Containern. Die Formate sind Instrumente – sie sind, in einem bescheidenen Sinne, die erweiterten Medien der Werke. Als William S. Burroughs mit David Bowie über die Lyrics seiner Songs sprach, fragte er ihn, ob er glaube, dass seine Fans diese anspruchsvollen Gedichte wirklich verstehen würden. Worauf Bowie erwiderte, oh nein, er glaube das nicht, sie hören wahrscheinlich „nur“ das Medium. Und so ist es mit dem Format auch – oft hören wir nur die „Musik“.

Der Kern des temporären Formats ist sein Erlebnisversprechen bei gleichzeitigem Erwartungsbruch – es liberalisiert und verändert die für Institutionen typischen Formen der Aufführung, Ausstellung oder Konzerte. Temporäre Formate vermitteln oft exklusivere Inhalte als die traditionellen Formate der Institutionen, die im Laufe der Zeit eine enorme Fülle unterschiedlicher Werke aufnehmen können, alte genauso wie aktuelle. Trotzdem treten die neuen, temporären Formate stets mit dem Gestus der Öffnung und Liberalisierung auf, und dieses Formatparadox fällt nur auf, solange das neue Format noch überraschend ist. Sobald seine Form vertraut geworden ist, vermittelt sie genügend Sicherheit, um die Werke wirken zu lassen und sich selbst wieder weitestgehend zum Verschwinden zu bringen.

Temporäre Formate unterscheiden sich von den institutionellen Begleitformaten kanonischer Werke, zum Beispiel Publikumsdiskussionen oder Matineen, vor allem durch ihre eigenständige Erzählung – temporäre Formate dienen nicht anderen Werken, sondern abstrahieren sie und bilden autonome Erlebniswelten. Daher stehen sie oft in einem intuitiven Gegensatz zu den Veranstaltungsformen klassischer Institutionen, die die Besuchenden über Jahrhunderte hinweg sanft erzogen haben. Institutionelle Rituale lehren uns, kein Foto während der Aufführung zu machen und so werden wir langsam einverstanden mit der Institution und ihrem Platz in der Welt, weil sie Genuss und Privilegien beschert. Während die traditionellen Veranstaltungsformen wie Aufführung oder Ausstellung auf Disziplinierung beruhen, beruhen viele experimentellen Formate auf Kontrolle – wir können kommen und gehen, manchmal auch mitmachen, aber nur, wenn wir in die Welt eintreten, die uns scannt. Temporäre Formate liberalisieren den Zugang, sie erzeugen ein Vergleichen und Besprechen, aber sie drängen sich auch mehr auf – sie zeigen stärker mit dem Finger auf sich und ihre These und Leistungen. Formate sind Neugierplattformen, die auf ihr Publikum deshalb stärker einwirken als klassische Rituale, weil sie stärker sein Feedback suchen.

Matthias Lilienthal zeigte am Berliner Ku’damm zehn ortsspezifische Choreo- grafien in Galerieräumen und auf der Straße, in Ladenlokalen und Kneipen. Jedes Werk hat in dieser Struktur seine eigene Fassung, und diese singulären Präsentationen bilden im Zusammenspiel eine Erzählung über Veränderungen innerhalb des Genres Tanz, aber nutzen diesen Vorgang auch, um einen anderen Blick auf die Stadt anzuregen, die wir so gut zu kennen glauben. Solche Deregulierungen des Aufführungsformats erscheinen einem Teil der Besucher*innen unter Umständen als Zumutung, andere erleben Tanz in dieser Einbettung vielleicht als eine Möglichkeit, eine Choreografie ohne die traditionelle Markierung der Aufführung als Kunst gerade deshalb in ihrer künstlerischen Eigenart besonders eindringlich zu erleben. Viele zeitgenössische Werke sind mit einer Aufführungspraxis verbunden, die sie vor der Konvention dessen, was Kunst ist, schützen, indem sie sich in Umgebungen einbetten, die eine andere, eigene historische Realität und Situation erfordern – sei dies in ehemaligen Industrieanlagen oder privaten Räumen. Die Produktion Hausbesuch von Rimini Protokoll organisierte zum Beispiel ein Gemeinschaftsspiel im Wohnzimmer fremder Leute, da diese Leute nicht nur die Gastgeber*innen, sondern ihre persönlichen Geschichten auch ein Element dieses Begegnungsspiels waren.

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