Kitabı oku: «Deutsche Geschichten», sayfa 2
… Die Nationen haben ein glühendes Verlangen nach Frieden, und wir sind es der Menschheit schuldig und den Regierungen, die uns hier mit ihrer Vollmacht betraut haben, wir sind es uns selber schuldig, ersprießliche Arbeit zu vollbringen, indem wir die Anwendungsweise einiger der friedensichernden Mittel feststellen. Unter diesen Mitteln stehen voran: Schiedsgericht und Vermittlungsdienste.
Charles Richet und sein Sohn frühstücken bei uns. Ein Wort Richets macht mir tiefen Eindruck: »Von allen Seiten müssen wir hören, die Zeit sei noch nicht da, unsere Ideale auszuführen. Mag sein – aber ganz sicher ist die gegenwärtige Zeit da, um ihnen vorzuarbeiten.«
Nachmittag Besuch bei Frau von Okoliczany. Die Gesandtin – geborene Fürstin Lobanow – hat den Ruf, eine blendende Beauté gewesen zu sein. Ist noch immer schön. Gestalt, Schultern, Arme von statuenhafter Linienharmonie. Das weiße Cachemire-tea-gown, in dem sie uns empfing, hat offene Aermel, die den zarten, runden Arm frei lassen. Hände haben bekanntlich Physiognomien; die schönen Hände Frau von Okoliczanys begleiten ihre lebhafte Sprache mit – man könnte sagen – lebhaftem Mienenspiel, und die Armbewegungen reden mit.
Ein Besucher kommt hinzu: Graf Konstantin Nigra. Sollte man es für möglich halten, daß dieser schlanke, hochgewachsene Mann mit dem dichten, leichtgelockten, noch immer blonden Kopfhaar, mit dem regelmäßigen, nur geringe Altersspuren aufweisenden Gesicht schon siebzig Jahre alt ist?
Selbstverständlich wird auch von der Konferenz und ihren Zielen gesprochen. Graf Nigra macht den Eindruck, von der Größe der Aufgabe durchdrungen zu sein und Hoffnungen an die Ergebnisse zu knüpfen.
Natürlich ist es Pflicht, nicht nur diplomatische, sondern beinahe Anstandspflicht, so zu reden. Man wird doch nicht an offiziellen – noch dazu geheimen – Beratungen teilnehmen und im Salon darüber geringschätzig schwatzen. Nur dem Freiherrn von Stengel war es zugefallen, zu einer Konferenz entsendet zu werden, deren Ziel er kurz vorher als »Duselei« verkündet hatte … aber von diplomatischer Selbstverständlichkeit abgesehen: man fühlt, was aufrichtig und überzeugt gesprochen wird, und ich habe den Eindruck: Graf Nigra wird ernste, eifrige Mitarbeit leisten.
…
25. Mai. Eine Karte wird mir gebracht: The earl of Aberdeen. Mit Lady Isabel Aberdeen, die dem kommenden internationalen Frauenkongreß in London vorsitzen wird, stehe ich seit einiger Zeit in Korrespondenz.
Der Lord, gewesener Gouverneur von Kanada – noch ein junger Mann von großem schlankem Wuchs, mit kurzem schwarzem Vollbart –, bringt mir Grüße seiner Frau. Erzählt, daß er an der großen, von Stead veranstalteten Meetingkampagne regen Anteil genommen, bei den Kundgebungsversammlungen mitgesprochen hat. Charles Richet kommt hinzu. Auch einige deutsche Zeitungskorrespondenten, die bisher von der Friedenssache nur Ablehnendes gehört und geschrieben; die namentlich von dem Grundsatze ausgehen, daß die einzige Friedensbürgschaft in den deutschen Rüstungen liegt, da alle übrigen Nationen kriegslustig seien; es war mir eine Genugtuung, daß die nun dem Franzosen und Engländer zuhören konnten, wie sie in voller Uebereinstimmung und mit den kräftigsten Argumenten für jene Sache eintraten. Dabei waren es ja keine »obskuren Schwärmer«, sondern einer der höchsten Würdenträger des Britischen Reiches und einer der berühmtesten Gelehrten an der Pariser Universität.
Nachmittags, beim Empfang der russischen Gesandtschaft, treffen wir Sir Julian Pauncefote. Aeußere Erscheinung: einundsiebzig Jahre, aber von strammer Haltung; das Haupthaar schon weiß, ebenso der Bart; dieser, nach österreichischer Art, mit ausrasiertem Kinn. Gestalt groß und schlank. Gesichtsausdruck freundlich und edel. So wie geleistete Kriegsdienste zur Verleihung eines Oberkommandos im Feldzug berechtigen, so sind hervorragende Friedenstaten die richtigen Titel zur Delegation an die hiesige Konferenz. Sir Julian hat in seiner diplomatischen Laufbahn zwei Friedenssiege zu verzeichnen:
Als Clevelands Botschaft über die Venezuelafrage die Welt erschütterte und überall verkündet wurde, der Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und England sei unvermeidlich, damals war er Botschafter in Washington. Wäre statt seiner ein Chamberlain auf diesem Posten gewesen, so wäre es vielleicht zum Losschlagen gekommen. Sir Julian wußte die Angelegenheit mit solcher Ruhe und Versöhnlichkeit zu leiten, daß sie mit dem Schiedsgericht geendet hat, das heute – unter dem Vorsitz des Professors von Martens – in Paris die Sache verhandelt. Zweitens ist Sir Julian derjenige, der den bekannten Schiedsgerichtsvertrag zwischen Amerika und Großbritannien (der erste solche Vertrag, der jemals aufgesetzt wurde) am 11. Januar 1899 mit dem amerikanischen Staatssekretär Olney unterzeichnet hat. Daß die Ratifikation des Vertrags nachher an der fehlenden (durch drei Stimmen fehlenden) Zweidrittelmehrheit scheiterte, dafür ist er nicht verantwortlich.
Wie neulich Mr. White, so teilt uns diesmal Sir Julian mit, daß seine Delegation mit einem bestimmten Vorschlag in der dritten (der Schiedsgerichts-) Kommission hervortreten würde. Er hegt die besten Hoffnungen auf ein positives Ergebnis. Ich bringe das Gespräch auf den englisch-amerikanischen, wirkungslos gebliebenen Vertrag. Er antwortet, daß man die Sache jedenfalls wieder aufnehmen werde:
»Was auf den ersten Wurf nicht gelingt, my dear Baroness, gelingt auf den zweiten oder dritten.«
Abends Rout bei der Obersthofmeisterin der Königin. Werde wieder mit vielen, darunter auch exotischen Größen bekannt gemacht. Nur von der deutschen Delegation erweist mir niemand die Ehre, sich zu nähern. Graf Münster behandelt mich als Luft. Als Professor Stengel in seiner Broschüre von den »komischen Personen« der Friedensbewegung sprach, vor deren groteskem Benehmen und Ideen er nicht genug warnen konnte, hat er offenbar auch mich daruntergezählt.
26. Mai. Bloch faßt den Entschluß, vor geladenem Publikum eine Reihe von Vorträgen zu halten. Kein anderer Ort und keine andere Gelegenheit eignet sich so gut zur Darstellung der Utopie des Krieges. Besonders für militärische Delegierte müßten die dokumentierten und ziffernbelegten Tatsachen und Schlüsse von Interesse sein, die diese Vorträge enthalten werden. Der Meine und ich sind behilflich in den Vorbereitungen, fahren mit ihm Säle besichtigen, Bestellungen machen u. s. w.
Besuch des Korrespondenten der »Frankfurter Zeitung«. Kommt eben von Herrn von Stengel. Dieser hat den Interviewer versichert, daß er nur gegen die Auswüchse der Friedensbewegung (nun ja, die komischen Personen) protestiert hat, daß er jedoch als Delegierter sein möglichstes tun werde, die Sache zu fördern. Desto besser!
Die Korrespondenten des »Figaro« und »Echo de Paris« interviewen mich; Mr. Leveson Gower, Sekretär der britischen Botschaft, verlangt im Auftrag der »North American Review« einen Artikel über die Bewegung für das Juliheft.
Um drei Uhr im Hotel Vieux Doelen zu tun. Treffe da Stead. »Endlich sehe ich Sie, « rief ich, »gerade von Ihnen, der Sie mit den Delegierten auf so gutem Fuße sind, erwarte ich immer Nachricht und –«
»Und die sollen Sie auch haben. Heute wichtiger und glücklicher, als Sie hoffen konnten. Hier ist eine Kopie des Berichtes, den ich eben an die englischen Blätter gesandt – lesen Sie und freuen Sie sich mit mir. Die Konferenz hat ein wunderschönes Stück Arbeit gemacht.«
Hier ein Auszug des Berichtes:
Plenarversammlung vom 25. Mai.
Auf der Tagesordnung der Gegenstand der dritten Kommission, nämlich: »Friedliche Schlichtung internationaler Konflikte.«
Als Grundlage zu den Verhandlungen legt Herr von Staal die russischen Vorschläge auf den Tisch. Es ist ein aus 18 Artikeln bestehendes Dokument, das den Titel führt: »Elemente zur Ausarbeitung einer zwischen den an der Konferenz teilnehmenden Mächten abzuschließenden Konvention.« Diese Elemente sind:
1. Gute Dienste und Vermittlung.
2. Internationales Schiedsgericht.
3. Internationale Untersuchungskommission.
Ehe die Diskussion über die Artikel beginnt, erhebt sich Sir Julian Pauncefote im Namen seiner Regierung und beantragt, daß dem russischen Plane noch ein Zusatzartikel beigefügt werde, nämlich: Die Errichtung eines ständigen Schiedsgerichtstribunals.
Mit kurzer, aber sehr eindrucksvoller Rede begründet der englische Delegierte diesen Antrag. Er verweist auf die Argumente, die in der »Adresse an die Regierungen« seines Kollegen Descamps enthalten sind.2
Die Worte und die positive Tat des Chefs der englischen Delegierten bringen sichtlich tiefen Eindruck hervor. Als er geendet, herrscht feierliche Stille. Viele der Mitglieder schauen einander mit hellem Staunen an – manche unter ihnen mögen da zum erstenmal empfinden, daß es sich um ernste Dinge handle, vorgebracht von praktischen Staatsmännern, die es redlich meinen.
Noch größer ist die Ueberraschung, als nun Herr von Staal erklärt, daß auch die russische Regierung einen Plan – in 26 Artikeln – für die Errichtung eines permanenten Schiedsgerichtshofes in Bereitschaft habe.
Nun rückt Mr. A. White mit dem amerikanischen Antrag hervor. In dessen Einleitung heißt es:
»Der Antrag zeigt den ernsten Wunsch des Präsidenten der Vereinigten Staaten, daß ein ständiges internationales Tribunal zur schiedsrichterlichen Schlichtung der Streitigkeiten zwischen den Völkern errichtet werde, und zeigt die Bereitwilligkeit des Präsidenten, bei dieser Einsetzung behilflich zu sein.«
Wie radikal dieser Vorschlag gemeint war, erhellt aus den Artikeln III und IV:
Art. III. Das Tribunal hat in Permanenz zu bestehen, stets bereit, alle sich bietenden Fälle zu übernehmen.
Art. IV. Alle Streitfragen jeglicher Art3 sollen bei gegenseitigem Uebereinkommen zur Entscheidung unterbreitet werden, und jede solche Unterbreitung muß von der Verpflichtung begleitet sein, daß man sich dem Schiedsgerichte fügen werde.
Ein schönes Stück Arbeit in der Tat. Hier sind also gleich zu Anfang positive, konkrete Pläne, im Namen von vier Regierungen, zur Behandlung und zur Beschlußfassung vorgelegt.
Wie schade, daß nicht auch aus Oesterreich, Deutschland und Frankreich solche Initiativen gekommen!
Schade auch, daß die Berichte über diese Sitzung samt den genauen Texten der Anträge nicht sofort in alle Weltgegenden hinaustelegraphiert und von sämtlichen Blättern gebracht und kommentiert werden, damit der Welt das Verständnis der großen Interessen aufdämmere, die hier auf dem Spiele stehen, und sie Zeugin und Richterin sein könne über die Art und Weise, wie – und von wem diese Interessen hier vertreten werden.
QUELLE: Bertha von Suttner: Memoiren, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart/Leipzig 1909, S. 440 – 455.
ZEITDOKUMENT
DAS ZARENMANIFEST VON 1899
Das am 28. 8. 1899 vom russischen Außenminister Murawjew überreichte sogenannte »Zarenmanifest« hatte folgenden Wortlaut:
»Die Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens und eine mögliche Herabsetzung der übermäßigen Rüstungen, welche auf allen Nationen lasten, stellen sich in der gegenwärtigen Lage der ganzen Welt als ein Ideal dar, auf das die Bemühungen aller Regierungen gerichtet sein müßten. Das humane und hochherzige Streben seiner Majestät des Kaisers, meines erhabenen Herrn, ist ganz dieser Aufgabe gewidmet. In der Überzeugung, daß dieses erhabene Endziel den wesentlichsten Interessen und den berechtigten Wünschen aller Mächte entspricht, glaubt die Kaiserliche Regierung, daß der gegenwärtige Augenblick äußerst günstig sei, auf dem Wege internationaler Beratung die wirksamsten Mittel zu suchen, um allen Völkern die Wohltaten wahre und dauernden Friedens zu sichern, und vor allem der fortgeschrittenen Entwicklung der gegenwärtigen Rüstungen ein Ziel zu setzen. Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre hat der Wunsch nach einer allgemeinen Beruhigung in dem Empfinden der zivilisierten Nationen besonders festen Fuß gefaßt. Die Erhaltung des Friedens ist als Endziel der internationalen Politik aufgestellt worden. Im Namen des Friedens haben große Staaten mächtige Bündnisse miteinander geschlossen. Um den Frieden besser zu wahren, haben sie in bisher unbekanntem Grade ihre Militärmacht entwickelt und fahren fort, sie zu verstärken, ohne vor irgendeinem Opfer zurückzuschrecken. Alle ihre Bemühungen haben gleichwohl noch nicht das segensreiche Ergebnis der ersehnten Friedensstiftung zeitigen können. Da die finanziellen Lasten eine steigende Richtung verfolgen und die Volkswohlfahrt an ihrer Wurzel treffen, so werden die geistigen und physischen Kräfte der Völker, die Arbeit und das Kapitel zum großen Teil von ihrer natürlichen Bestimmung abgelenkt und in unproduktiver Weise aufgezehrt. Hunderte von Millionen werden aufgewendet, um furchtbare Zerstörungsmaschinen zu beschaffen, die bis heute als das letzte Wort der Wissenschaft betrachtet werden und schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren infolge irgendeiner neuen Entdeckung auf diesem Gebiet. Die nationale Kultur, der wirtschaftliche Fortschritt, die Erzeugung von Werten sehen sich in ihrer Entwicklung gelähmt und irregeführt. Daher entsprechen in dem Maße, wie die Rüstungen einer jeden Macht anwachsen, diese immer weniger und weniger dem Zweck, den sich die betreffende Regierung gesetzt hat. Die wirtschaftlichen Krisen sind zum großen Teil hervorgerufen durch das System der Rüstungen bis aufs äußerste, und die ständige Gefahr, welche in dieser Kriegsstoffsammlung ruht, hat die Armee unserer Tage zu einer drückenden Last gemacht, welche die Völker mehr und mehr nur mit Mühe tragen können.
Es ist deshalb klar, daß, wenn diese Lage sich noch weiter so hinzieht, sie zwangsläufig zu eben der Katastrophe führen würde, welche man zu vermeiden wünscht, und deren Schrecken jeden Menschen schon beim bloßen Gedanken schaudern machen. Diesen unaufhörlichen Rüstungen ein Ziel zu setzen und die Mittel zu suchen, dem Unheil vorzubeugen, das die ganze Welt bedroht, das ist die höchste Pflicht, welche sich heutzutage allen Staaten aufzwingt.
Durchdrungen von diesem Gefühl hat Seine Majestät geruht, mir zu befehlen, daß ich allen Regierungen, deren Vertreter am kaiserlichen Hofe akkreditiert sind, den Zusammentritt einer Konferenz vorschlage, welche sich mit diesen ernsthaften Fragen zu beschäftigen hätte. Diese Konferenz würde mit Gottes Hilfe ein günstiges Vorzeichen des kommenden Jahrhunderts sein. Sie würde in einem mächtigen Bunde die Bestrebungen aller Staaten vereinigen, welche aufrichtig darum bemüht sind, den großen Gedanken des Weltfriedens triumphieren zu lassen über alle Elemente des Unfriedens und der Zwietracht. Sie würde zugleich ihr Zusammengehen besiegeln durch eine solidarische Weihe der Prinzipien des Rechts und der Gerechtigkeit, auf denen die Sicherheit der Staaten und die Wohlfahrt der Völker beruhen.«
QUELLE: Ernst Reibstein: Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, Band II: Die letzten zweihundert Jahre; © Alber Verlag in der Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Br. 1958
STEFAN ZWEIG (1881 – 1942)
Stefan Zweig kommt am 28. November 1881 in Wien als Sohn des Textilindustriellen Moritz Zweig und seiner aus einer jüdischen Bankiersfamilie stammenden Frau Ida geb. Brettauer zur Welt. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Wien studiert er Germanistik und Romanistik. Unter dem Einfluss Hugo von Hofmannsthals schreibt er früh Gedichte (»Silberne Saiten«, 1901). Seine ersten Novellen erscheinen 1904. Werke wie »Brennendes Geheimnis« (1911), »Amok« (1922) »Sternstunden der Menschheit« (1927) sowie seine großen Biographien von Joseph Fouché (1929), Maria Stuart (1935) und Magellan (1938) u. a. machen ihn weltberühmt.
Viele Studien- und Vortragsreisen führen ihn nicht nur in die westeuropäischen Länder, sondern auch nach Indien, Nord- und Mittelamerika, die Sowjetunion und Südamerika. 1941 wandert er nach Petrópolis (Brasilien) aus, wo er sich am 22. Februar 1942 zusammen mit seiner zweiten Frau Charlotte das Leben nimmt. In seinem Nachlass finden sich verschiedene Werke, so auch seine Erinnerungen eines Europäers »Die Welt von Gestern«.
STEFAN ZWEIG
DIE WELT VON GESTERN
VORWORT
Ich habe meiner Person niemals soviel Wichtigkeit beigemessen, daß es mich verlockt hätte, anderen die Geschichte meines Lebens zu erzählen. Viel mußte sich ereignen, unendlich viel mehr, als sonst einer einzelnen Generation an Geschehnissen, Katastrophen und Prüfungen zugeteilt ist, ehe ich den Mut fand, ein Buch zu beginnen, das mein Ich zur Hauptperson hat oder – besser gesagt – zum Mittelpunkt. Nichts liegt mir ferner, als mich damit voranzustellen, es sei denn im Sinne des Erklärers bei einem Lichtbildervortrag; die Zeit gibt die Bilder, ich spreche nur die Worte dazu, und es wird eigentlich nicht so sehr mein Schicksal sein, das ich erzähle, sondern das einer ganzen Generation – unserer einmaligen Generation, die wie kaum eine im Laufe der Geschichte mit Schicksal beladen war.
Jeder von uns, auch der Kleinste und Geringste, ist in seiner innersten Existenz aufgewühlt worden von den fast pausenlosen vulkanischen Erschütterungen unserer europäischen Erde; und ich weiß mir inmitten der Unzähligen keinen anderen Vorrang zuzusprechen als den einen: als Österreicher, als Jude, als Schriftsteller, als Humanist und Pazifist jeweils just dort gestanden zu sein, wo diese Erdstöße am heftigsten sich auswirkten. Sie haben mir dreimal Haus und Existenz umgeworfen, mich von jedem Einstigen und Vergangenen gelöst und mit ihrer dramatischen Vehemenz ins Leere geschleudert, in das mir schon wohlbekannte »Ich weiß nicht wohin«. Aber ich beklagte das nicht; gerade der Heimatlose wird in einem neuen Sinne frei, und nur der mit nichts mehr Verbundene braucht auf nichts mehr Rücksicht zu nehmen. So hoffe ich wenigstens eine Hauptbedingung jeder rechtschaffenen Zeitdarstellung erfüllen zu können: Aufrichtigkeit und Unbefangenheit.
Denn losgelöst von allen Wurzeln und selbst von der Erde, die diese Wurzeln nährte, – das bin ich wahrhaftig wie selten einer in den Zeiten. Ich bin 1881 in einem großen und mächtigen Kaiserreiche geboren, in der Monarchie der Habsburger, aber man suche sie nicht auf der Karte: sie ist weggewaschen ohne Spur. Ich bin aufgewachsen in Wien, der zweitausendjährigen übernationalen Metropole, und habe sie wie ein Verbrecher verlassen müssen, ehe sie degradiert wurde zu einer deutschen Provinzstadt. Mein literarisches Werk ist in der Sprache, in der ich es geschrieben, zu Asche gebrannt worden, in eben demselben Lande, wo meine Bücher Millionen Leser sich zu Freunden gemacht. So gehöre ich nirgends mehr hin, überall Fremder und bestenfalls Gast; auch die eigentliche Heimat, die mein Herz sich erwählt, Europa, ist mir verloren, seit es sich zum zweitenmal selbstmörderisch zerfleischt im Bruderkriege.
Wider meinen Willen bin ich Zeuge geworden der furchtbarsten Niederlage der Vernunft und des wildesten Triumphes der Brutalität innerhalb der Chronik der Zeiten; nie – ich verzeichne dies keineswegs mit Stolz, sondern mit Beschämung – hat eine Generation einen solchen moralischen Rückfall aus solcher geistigen Höhe erlitten wie die unsere. In dem einen kleinen Intervall, seit mir der Bart zu sprossen begann und seit er zu ergrauen beginnt, in diesem einen halben Jahrhundert hat sich mehr ereignet an radikalen Verwandlungen und Veränderungen als sonst in zehn Menschengeschlechtern, und jeder von uns fühlt: zu vieles fast! So verschieden ist mein Heute von jedem meiner Gestern, meine Aufstiege und meine Abstürze, daß mich manchmal dünkt ich hätte nicht bloß eine, sondern mehrere, völlig voneinander verschiedene Existenzen gelebt.
Denn es geschieht mir oft, daß, wenn ich achtlos erwähne: Mein Leben, ich mich unwillkürlich frage: »Welches Leben?« Das vor dem Weltkriege, das vor dem ersten oder das vor dem zweiten oder das Leben von heute? Dann wieder ertappe ich mich dabei, daß ich sage: »Mein Haus« und nicht gleich weiß, welches der einstigen ich meinte, ob das in Bath oder in Salzburg oder das Elternhaus in Wien. Oder daß ich »bei uns« sage und erschrocken mich erinnern muß, daß ich für die Menschen meiner Heimat längst ebensowenig dazugehöre wie für die Engländer oder für die Amerikaner, dort nicht mehr organisch verbunden und hier wiederum niemals ganz eingegliedert; die Welt, in der ich aufgewachsen bin, und die von heute und die zwischen beiden sondern sich immer mehr für mein Gefühl zu völlig verschiedenen Welten.
Jedesmal wenn ich im Gespräch jüngeren Freunden Episoden aus der Zeit vor dem ersten Kriege erzähle, merke ich an ihren erstaunten Fragen, wieviel für sie schon historisch oder unvorstellbar von dem geworden ist, was für mich noch selbstverständliche Realität bedeutet. Und ein geheimer Instinkt in mir gibt ihnen recht: zwischen unserem Heute, unserem Gestern und Vorgestern sind alle Brücken abgebrochen. Ich selbst kann nicht umhin, mich zu verwundern über die Fülle, die Vielfalt, die wir in den knappen Raum einer einzigen – freilich höchst unbequemen und gefährdeten – Existenz gepreßt haben, und schon gar, wenn ich sie mit der Lebensform meiner Vorfahren vergleiche.
Mein Vater, mein Großvater, was haben sie gesehen? Sie lebten jeder ihr Leben in der Einform. Ein einziges Leben vom Anfang bis zum Ende, ohne Aufstiege, ohne Stürze, ohne Erschütterung und Gefahr, ein Leben mit kleinen Spannungen, unmerklichen Übergängen; in gleichem Rhythmus, gemächlich und still, trug sie die Welle der Zeit von der Wiege bis zum Grabe. Sie lebten im selben Land, in derselben Stadt und fast immer sogar im selben Haus; was außen in der Welt geschah, ereignete sich eigentlich nur in der Zeitung und pochte nicht an ihre Zimmertür. Irgendein Krieg geschah wohl irgendwo in ihren Tagen, aber doch nur ein Kriegchen, gemessen an den Dimensionen von heute, und er spielte sich weit an der Grenze ab, man hörte nicht die Kanonen, und nach einem halben Jahr war er erloschen, vergessen, ein dürres Blatt Geschichte, und es begann wieder das alte, dasselbe Leben.
Wir aber lebten alles ohne Wiederkehr, nichts blieb vom Früheren, nichts kam zurück; uns war im Maximum mitzumachen vorbehalten, was sonst die Geschichte sparsam jeweils auf ein einzelnes Land, auf ein einzelnes Jahrhundert verteilt. Die eine Generation hatte allenfalls eine Revolution mitgemacht, die andere einen Putsch, die dritte einen Krieg, die vierte eine Hungersnot, die fünfte einen Staatsbankrott, –und manche gesegnete Länder, gesegnete Generationen sogar überhaupt nichts von dem allen. Wir aber, die wir heute sechzig Jahre alt sind und de jure noch eigentlich ein Stück Zeit vor uns hätten, was haben wir nicht gesehen, nicht gelitten, nicht miterlebt? Wir haben den Katalog aller nur denkbaren Katastrophen durchgeackert von einem zum andern Ende (und sind noch immer nicht beim letzten Blatt).
Ich allein bin Zeitgenosse der beiden größten Kriege der Menschheit gewesen und habe sogar jeden erlebt auf einer anderen Front, den einen auf der deutschen, den andern auf der antideutschen. Ich habe im Vorkrieg die höchste Stufe und Form individueller Freiheit und nachdem ihren tiefsten Stand seit hunderten Jahren gekannt, ich bin gefeiert gewesen und geächtet, frei und unfrei, reich und arm. Alle die fahlen Rosse der Apokalypse sind durch mein Leben gestürmt, Revolution und Hungersnot, Geldentwertung und Terror, Epidemien und Emigration; ich habe die großen Massenideologien unter meinen Augen wachsen und sich ausbreiten sehen, den Faschismus in Italien, den Nationalsozialismus in Deutschland, den Bolschewismus in Rußland und vor allem jene Erzpest, den Nationalismus, der die Blüte unserer europäischen Kultur vergiftet hat. Ich mußte wehrloser, machtloser Zeuge sein des unvorstellbarsten Rückfalls der Menschheit in längstvergessen gemeinte Barbarei mit ihrem bewußten und programmatischen Dogma der Antihumanität.
Uns war es vorbehalten, wieder seit Jahrhunderten Kriege ohne Kriegserklärungen, Konzentrationslager, Folterungen, Massenberaubungen und Bombenangriffe auf wehrlose Städte zu sehen, Bestialitäten all dies, welche die letzten fünfzig Generationen nicht mehr gekannt haben und künftige hoffentlich nicht mehr erdulden werden. Aber paradoxerweise habe ich auch in ebenderselben Zeit, da unsere Welt im Moralischen zurückstürzte um ein Jahrtausend, dieselbe Menschheit im Technischen und Geistigen sich zu ungeahnten Taten erheben sehen, mit einem Flügelschlag alles in Millionen Jahren Geleistete überholend: die Eroberung des Äthers durch das Flugzeug, die Übermittlung des irdischen Worts in derselben Sekunde über den Erdball und damit die Besiegung des Weltraums, die Zerspaltung des Atoms, die Besiegung der heimtückischesten Krankheiten, die fast tägliche Ermöglichung des gestern noch Unmöglichen. Nie bis zu unserer Stunde hat sich die Menschheit als Gesamtheit teuflischer gebärdet und nie so Gottähnliches geleistet.
Dies unser gespanntes, dramatisch überraschungsreiches Leben zu bezeugen, scheint mir Pflicht, denn – ich wiederhole – jeder war Zeuge dieser ungeheuren Verwandlungen, jeder war genötigt Zeuge zu sein. Für unsere Generation gab es kein Entweichen, kein Sich-abseits-Stellen, wie in den früheren; wir waren dank unserer neuen Organisation der Gleichzeitigkeit ständig einbezogen in die Zeit. Wenn Bomben in Shanghai die Häuser zerschmetterten, wußten wir es in Europa in unseren Zimmern, ehe die Verwundeten aus ihren Häusern getragen waren. Was tausend Meilen über dem Meer sich ereignete, sprang uns leibhaftig im Bilde an. Es gab keinen Schutz, keine Sicherung gegen das ständige Verständigtwerden und Mitgezogensein. Es gab kein Land, in das man flüchten, keine Stille, die man kaufen konnte, immer und überall griff uns die Hand des Schicksals und zerrte uns zurück in sein unersättliches Spiel.
Ständig mußte man sich Forderungen des Staates unterordnen, der stupidesten Politik zur Beute hinwerfen, den phantastischsten Veränderungen anpassen, immer war man an das Gemeinsame gekettet, so erbittert man sich wehrte; es riß einen mit, unwiderstehlich. Wer immer durch diese Zeit ging oder vielmehr gejagt und gehetzt wurde – wir haben wenig Atempausen gekannt –, hat mehr Geschichte miterlebt als irgendeiner seiner Ahnen. Auch heute stehen wir abermals an einer Wende, an einem Abschluß und einem neuen Beginn. Ich handle darum durchaus nicht absichtslos, wenn ich diesen Rückblick auf mein Leben mit einem bestimmten Datum vorläufig enden lasse. Denn jener Septembertag 1939 zieht den endgültigen Schlußstrich unter die Epoche, die uns Sechzigjährige geformt und erzogen hat. Aber wenn wir mit unserem Zeugnis auch nur einen Splitter Wahrheit aus ihrem zerfallenen Gefüge der nächsten Generation übermitteln, so haben wir nicht ganz vergebens gewirkt.
QUELLE: Stefan Zweig: Die Welt von Gestern, Verlag Bermann-Fischer, Stockholm 1944, S. 9 – 15
Die preußisch-welfische Hochzeit von 1913
Die Hochzeit zwischen dem jüngsten Sohn des Kronprinzen von Hannover, Erbprinz Ernst August von Hannover, mit Viktoria Luise, der einzigen Tochter von Kaiserin Auguste Viktoria und Kaiser Wilhelm II. am 24. Mai 1913 in Berlin war die letzte glanzvolle Begegnung des deutschen Kaisers, des russischen Zaren und des britischen Königs vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Eine Linie des ursprünglich fränkischen Adelsgeschlechts der Welfen, das seit dem 9. Jahrhundert bekannt ist, stieg 1692 zu Kurfürsten von Hannover auf. Sie erbte 1714 vom Haus Stuart den Thron des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Irland, den sie bis 1901 als Haus Hannover besetzte. Deshalb trug Erbprinz Ernst August von Hannover zugleich den Titel eines Herzogs von Cumberland. Prinzessin Viktoria Luise von Preußen trug den Namen Viktoria nach ihrer Großmutter, Kaiserin Viktoria, und ihrer Urgroßmutter Viktoria (1819 – 1901), Königin des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Irland und Kaiserin von Indien, die dem Königshaus Hannover entstammte. Dieses führte mit der Thronbesteigung von Viktorias Sohn Eduard VII. den Namen Sachsen-Coburg und Gotha. Im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg änderte sein Sohn König Georg V. 1917 den deutschen Namen Sachsen-Coburg-Gotha in den jetzigen Namen Windsor.