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II. DIE ENTFESSELUNG DER MÄCHTE
EDUARD VON KEYSERLING (1855 – 1918)
Eduard Graf von Keyserling wird am 14. Mai 1855 auf Schloss Paddern in Kurland (heute: Tasu-Padures/Lettland) als Sohn von Eduard Graf Keyserling und seiner Frau Theophile geb. von Rummel als zehntes von zwölf Kindern geboren. Nach Studien in Dorpat (heute Tartu) und Wien verwaltet er bis zum Tode seiner Mutter die heimatlichen Güter. 1895 zieht er mit drei Schwestern nach Wien. Zwei Jahre später erkrankt er an einem schweren Rückenmarksleiden und erblindet als Folge einer Syphilisinfektion.
1887 erscheint seine erste Erzählung »Fräulein Rosa Herz«. Die meisten seiner Erzählungen und Romane diktiert er – inzwischen erblindet – seinen Schwestern, mit denen er von 1900 bis zu seinem Tod 1918 eine Wohnung in München-Schwabing bewohnt, so etwa »Wellen« (1911) und »Abendliche Häuser« (1914). Hinzukommen Aufsätze zu allgemeinen kulturellen Fragen wie der Artikel vom 17. Oktober 1914 »Über die Vaterlandsliebe«. Mit seinem Œuvre gehört er zu den bedeutendsten Schriftstellern des Impressionismus.
Keyserling bleibt unverheiratet. Er stirbt kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges in München. Sein schriftlicher Nachlass wird auf seinen Wunsch hin nach seinem Tod vernichtet.
EDUARD VON KEYSERLING
ÜBER DIE VATERLANDSLIEBE
Die frühe Dämmerung des Septemberabends sinkt auf stillgewordene Dörfer herab, dunkel kauern die Häuser unter dem dunkeln Gezweige der alten Linden. Auf dem Dorfplatz stehen Männer beisammen und sprechen mit ruhig besonnener Stimme. Vor den Haustüren, auf den Treppenstufen hocken noch vor dem Schlafengehen Kinder in ihren Hemden, kleine weiße Gespenster, und singen mit dünnen, glashellen Stimmen ein Siegeslied. Alte Frauen sitzen auf den Bänken, die Hände müßig im Schoße, und blicken mit dem geduldig wartenden Blick des Alters in die Dämmerung. Am Brunnen aber stehen große blonde Mädchen, sie lassen die Hände einen Augenblick auf dem Rande des Eimers ruhen und starren mit groß werdenden Augen vor sich hin, als horchten sie hinaus in die Ferne, auf etwas Großes und Furchtbares.
Die Nacht sinkt nieder, die Dorfstraße wird still, die Haustüren fallen in das Schloß, durch die kleinen Fensterscheiben blinzeln friedliche Lichter in die Finsternis, schläfrig singt der Brunnen, und hie und da in einem dunkeln Gärtchen zwischen den taufeuchten Sonnenblumen und Nachtviolen steht einsam eine Frau und weint. In Tausenden der Männer, die begeistert an die Grenze des Reiches beim Feinde entgegeneilen, verdichtet sich der weite Begriff des Vaterlandes, für das sie kämpfen, zu dem Bilde solch eines stillen Dorfes; denn das große Gefühl Vaterlandsliebe erwächst aus der Liebe zu der Scholle, dem Heimatsdorf und dem Heimatshause. Und für die Sicherheit des großen Vaterlandes steht als Symbol die Geborgenheit des kleinen Stückes Erde, auf dem das lebt, was dem Herzen dieser Männer am nächsten steht. Die Enge dieses Gefühls gibt der Liebe zu der deutlichen Allgemeinheit seine Wärme und Intensität. Aber jene Dörfer, die friedlich inmitten ihrer wogenden Kornfelder liegen mit der stetigen und fleißigen Alltäglichkeit ihres Lebens, sie sind die Grundlage des stolzen Baues des Reiches mit seiner Macht, seinem Reichtum, seiner Kultur.
Unser modernes Leben hat sich in hohem Grade kompliziert, mit seinen Gegensätzen und Spannungen. Wir schweigen in Widersprüchen und berauschen uns an Zweifeln. Überallhin bohren die Gedanken sich hinein und nehmen den Gefühlen ihre Ganzheit und Unmittelbarkeit. Jetzt aber, da ein großes Schicksal wie ein Sturmwind über das deutsche Vaterland hinbraust, jetzt verlieren viele der Gedanken und Einfälle, der Gefühle und Gefühlchen ihren Glanz. Vieles, das groß schien, schrumpft zusammen, und was bedeutungsvoll war, wird unwichtig. Die Gefühle in jedem Deutschen vereinfachen sich unendlich. In allen lebt ein großes, einfaches Ziel, die Sicherheit des Vaterlandes, eine Hoffnung, der Sieg, ein Wille, alles für das Vaterland einzusetzen. Dieses Fühlen ist so klar, stark und einfach, daß jedes Kind es ahnt, es ist das gleiche in den Dorfbewohnern, dem Gelehrten, dem Staatsmann, es ist das Urgefühl der Menschheit und liegt in der Menschenbrust, seit der Mensch es begriff, daß es so etwas wie eine Heimat gibt. Dieses Gefühl gleicht dem vollen und reinen Glockenton, der alle die kleinen und eigensinnigen Melodien übertönt, die ein jeder vor sich hinsummte.
Moltke spricht von der reinigenden Wirkung des Krieges. Sie liegt darin, daß das Kleine, Unruhige der vielen Sonderinteressen von uns abfällt und einem einheitlichen Wollen, einem einfachen starken Fühlen Platz macht. Trotz der Spannung, der Schmerzen und der Not dieser Tage wirkt die Konzentration, der schwere Ernst des Gefühls, dennoch stählend auf die Seele wie ein tiefer Atemzug in klarer, scharfer Luft. Wunderbar transzendent ist dieses Gefühl der Vaterlandsliebe. Der Soldat ist bereit zu sterben, damit das Vaterland lebe. Das Spiel seines Willens, seiner Sehnsucht geht über sein individuelles Leben hinaus, er opfert seine Persönlichkeit einem Glücke, das nach ihm der großen Gemeinschaft des Vaterlandes zugute kommen soll, dieses Glück begeistert ihn und macht ihn stark, wie die Hoffnung auf eine ewige Seligkeit den christlichen Märtyrer freudigen Mutes den Tod erleiden ließ. Dieses Hinausgehen über das eigene vergängliche Leben ist das Mysterium jedes großen, ethischen Gefühl und jeder ethischen Tat. Jene Männer aber, die von den Schlachtfeldern in das bürgerliche Leben, in den Alltag der Arbeit und Sorge zurückkehren – wird in ihrer Seele nicht etwas stets geweiht bleiben, durch die Berührung mit dem heiligen Mysterium der Todesbereitschaft für das Vaterland?
QUELLE: Eduard von Keyserling: Über die Vaterlandsliebe, in: Der Tag, Ausgabe, Nr. 244, Berlin, 17. 10. 1914
KARL KRAUS (1874 – 1936)
Karl Kraus kommt am 28. April 1874 in Gitschin, Böhmen (heute Jicin/Tschechien) als Sohn des Papierfabrikanten Jakob Kraus und seiner Frau Ernestine geb. Kantor zur Welt. 1877 zieht die Familie nach Wien, wo Kraus ein Studium der Rechtswissenschaften beginnt.
1897 gelingt ihm mit der Veröffentlichung der Satire »Die demolirte Litteratur« der erste Publikumserfolg. 1899 gründet er die satirische Zeitschrift »Die Fackel«, die bis kurz vor seinem Tod 1936 in unregelmäßigen Abständen erscheint. Hierin werden von 1915 bis 1919 Teile des monumentalen Epos »Die letzten Tage der Menschheit« veröffentlicht. Darüber hinaus hält Kraus 700 öffentliche Lesungen, übersetzt Shakespeare-Sonette und liest im Rundfunk in Berlin. 1952 erscheint posthum sein Werk über die Machtübernahme Hitlers »Dritte Walpurgisnacht«.
Karl Kraus polarisiert durch seine Person und seine Werke. Daher hat er auch kaum Verbindungen zu der kleinen, aber einflussreichen Zeitschrift »Weltbühne«, die u. a. Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky in Berlin herausgeben. Kraus stirbt unverheiratet am 12. Juni 1936 in seiner Wohnung in Wien.
KARL KRAUS
DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT
EPILOG
Die letzte Nacht
Schlachtfeld. Trichter. Rauchwolken. Sternlose Nacht. Der Horizont ist eine Flammenwand. Leichen. Sterbende. Männer und Frauen mit Gasmasken tauchen auf.
EIN STERBENDER SOLDAT
schreiend
Hauptmann, hol her das Standgericht!
Ich sterb’ für keinen Kaiser nicht!
Hauptmann, du bist des Kaisers Wicht!
Bin tot ich, salutier’ ich nicht!
Wenn ich bei meinem Herren wohn’,
ist unter mir des Kaisers Thron,
und hab’ für sein Geheiß nur Hohn!
Wo ist mein Dorf? Dort spielt mein Sohn.
Wenn ich in meinem Herrn entschlief, kommt an mein letzter
Feldpostbrief.
Es rief, es rief, es rief, es rief!
Oh, wie ist meine Liebe tief!
Hauptmann, du bist nicht bei Verstand,
daß du mich hast hieher gesandt.
Im Feuer ist mein Herz verbrannt.
Ich sterbe für kein Vaterland!
Ihr zwingt mich nicht, ihr zwingt mich nicht! Seht, wie der Tod
die Fessel bricht!
So stellt den Tod vors Standgericht!
Ich sterb’, doch für den Kaiser nicht!
WEIBLICHE GASMASKE
nähert sich
Soviel ich seh’, fiel hier ein Mann mit Gottes Willen.
Auch unsereins hat seine Pflicht hier zu erfüllen.
In dieser ernsten Zeit gibts keinen Zeitvertreib.
Das Kleid ist nicht der Mann, doch ist’s auch nicht das Weib.
In Not und Tod und Kot gibt es die gleichen Rechte.
Wo kein Geschlecht, gereicht’s zur Ehre dem Geschlechte.
Zwei Soldaten und ein Maulesel mit Gasmasken, 1917
Der erste Einsatz von chemischen Kampfstoffen im Ersten Weltkrieg fand im August 1914 durch französische Truppen statt, die Xylylbromid, ein Tränengas, gegen deutsche Truppen anwandten. Das anschließende weitere Ausprobieren anderer chemischer Stoffe führte zu einer Verschärfung des Gaskrieges. Der erste schwerwiegende Einsatz fand am 22. April 1915 bei Ypern statt, als deutsche Truppen 150 Tonnen Chlorgas gegen die französischen Schützengräben einsetzten: Das Ergebnis waren ca. 5.000 Tote und 10.000 Verletzte. Die grausamen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg – ca. 90.000 Menschen starben, bis zu eine Million wurde verletzt – führten dazu, dass im Zweiten Weltkrieg in Europa keine chemischen Kampfstoffe eingesetzt wurden.
MÄNNLICHE GASMASKE
stellt sich gegenüber
Nur daß dein Gesicht
sich an meines gewöhne!
Ich kenne dich nicht,
du Maske, du schöne!
Erfüllt von dem Grauen,
erfüllend die Pflicht,
sollen wir uns nicht schauen,
wir kennen uns nicht.
Uns gilt nur die Sache,
hier gilt es zu kämpfen,
es droht uns die Rache
mit giftigen Dämpfen.
Der Himmel spuckt Flammen,
verzischend im Blute.
So gehn wir zusammen
auf diese Redoute.
Fernes Trommelfeuer
WEIBLICHE GASMASKE
Gesicht und Geschlecht
verbietet die Pflicht.
Wir haben kein Recht
auf Geschlecht und Gesicht.
Das Leben verbracht
zwischen Leichen und Larven –
mir tönt diese Nacht
wie Hörner und Harfen!
BEIDE
Arm in Arm
Wir haben kein Recht auf Geschlecht und Gesicht.
Gesicht und Geschlecht verbietet die Pflicht.
Sie verschwinden.
Zwei Generale auf der Flucht, in einem Automobil
GENERAL
(Sprechgesang)
Da kann man nicht weiter,
die Erde hat Risse,
da gibts spanische Reiter
und sonst Hindernisse.
Die Schlacht hat nunmehr
eine Wendung genommen,
wir sind bis hieher
nach vorne gekommen.
In unsere Jahr’
da is nicht zu spaßen,
wir sind in Gefahr,
das Leben zu lassen.
Nicht wanken und weichen
die Mannschaften ziert.
Fahren S’ über die Leichen,
sonst sind wir petschiert!
Was hat denn der eine,
der hat keinen Kopf,
dem fehlen die Beine,
und am Rock fehlt a Knopf!
Das is ein Skandal,
da werd’ ich leicht schiech,
Sie toter Korpral,
adjustieren Sie sich!
Das is doch zuwider,
da krieg’ ich ein’ Pik,
ah, da legst di nieder –
hörn S’, jetzt is doch Krieg!
Der hört nicht. Herstellt!
Sie, was machen S’ denn dort
mir san doch im Feld!
Sie gehn zum Rapport!
Das is doch verboten,
die Wirtschaft hier vorn!
Fahren S’ über die Toten,
sonst sind wir verlorn!
Sie fahren ab. Es tagt.
Zwei Kriegsberichterstatter im Automobil, sie steigen aus. Breeches, Feldstecher, Kodak
ERSTER KRIEGSBERICHTERSTATTER
Ich finde es gut,
hier stehen zu bleiben.
Ich habe den Mut,
diese Schlacht zu beschreiben.
ZWEITER KRIEGSBERICHTERSTATTER
Ja, hier wie mir scheint
kann noch etwas geschehn.
Der Punkt ist vom Feind
sehr gut eingesehn.
DER ERSTE
Hier liegen die Helden,
hier ist es bewegt,
und wenn wir es melden,
es Aufsehn erregt.
DER ZWEITE
Es imponiert ja doch allen,
authentisch mit Bildern,
ist einer gefallen,
die Stimmung zu schildern.
DER ERSTE
Wir sind gern informiert
von besonderen Seiten.
Was mich intressiert,
sind die Einzelheiten.
Er tritt an einen sterbenden Soldaten heran.
DER ZWEITE
Sie, machen S’ zum End
ein verklärtes Gesicht!
Ich brauch’ den Moment,
wo das Aug Ihnen bricht.
DER ERSTE
Sie sind doch gescheit –
solang Sie am Leben,
ist hinreichend Zeit,
eine Schilderung zu geben.
DER ZWEITE
Was haben Sie empfunden,
was haben Sie sich gedacht,
wir brauchen die letzten Stunden,
wie war denn die Schlacht?
DER ERSTE
Schaun S’, das wird goutiert auf Details ich schon spitz’, und Ihr Heldentod wird eine schöne Notiz.
DER ZWEITE
Dieses Detail schon allein hat
für das Blatt seinen Reiz,
und der Chef gibt mich ein
für das Eiserne Kreuz.
DER STERBENDE
Geschwinde – geschwinde –
seht, wie ich – mich – winde –
verbinde, Herr Doktor –
verbinde, verbinde!
Seit so vielen Stunden –
mit so vielen Wunden –
sie bluten, sie bluten –
sie sind nicht verbunden.
Nur noch wenig Minuten –
laßt mich doch nicht verbluten –
verbindet geschwinde,
ihr müsset euch sputen.
So seht doch – wie mir schon –
der Atem – entschwindet –
geschwinde – Herr Doktor –
verbindet, verbindet!
DER ERSTE KRIEGSBERICHTERSTATTER
Der erzählt nichts – zu peinlich!
Der wird immer verstockter.
Er hält mich wahrscheinlich
für einen Dokter!
DER ZWEITE
Krieg ist Krieg – hör’n S’, ich hust’,
unsere Pflicht hier ist schwer,
über Ihre zerschossene Brust
sag’ ich nur c’est la guerre.
DER ERSTE
Denn Wunden verbinden, das hab’ ich nicht studiert, aber für Eindrücke finden wer’n wir honoriert.
DER ZWEITE
Die Stimmung zu melden, das ist unser Brot.
Einen schweigsamen Helden, den schweigen wir tot.
Wenden sich zur Abfahrt.
DER STERBENDE
Mein Weib – ach – ich – bitt –
das ist – eine Qual –
so – nehmen S’ mich mit –
bis zum – nächsten – Spital!
DER ERSTE KRIEGSBERICHTERSTATTER
Das ist doch gediegen –
was der von mir will!
So bleiben Sie doch liegen
und halten Sie still!
DER ZWEITE
Für einen Gemeinen
ist das eine Ehr’!
Ihr Bild wird erscheinen,
was wollen Sie mehr!
DER ERSTE
Wenn ich Ihnen garantier’,
es erscheint ein Bericht!
Ich war vor dem Tod hier,
so schaun S’ mir ins Gesicht!
DER ZWEITE
Er sagt nichts darauf.
Ich glaub’, es wird gehn.
So nehm’ ich ihn auf
man wird doch da sehn.
Er photographiert.
DER ERSTE
So sein S’ doch nicht fad,
es soll stimmungsvoll sein.
Uns fehlt der Kurat,
Sie sind leider allein.
DER ZWEITE
Das wär’ ein Effekt,
dem Abonnenten zu zeigen, den Priester direkt
über den Helden sich neigen!
DER ERSTE
Wir sind doch intim, er tät’s mir zu Liebe,
weil ja schließlich auch ihm eine Reklam dabei bliebe.
DER ZWEITE
Wo man ihn ja einmal braucht,
ist er natürlich beim Teufel.
Das ist trostlos … Es raucht!
Nur ein Blindgänger, kein Zweifel!
DER ERSTE
Geh’ mr! Hier is stier,
hier is doch nix los.
Gehn wir ins Pressequartier
vor dem Gegenstoß.
DER ZWEITE
Der würde mich nicht
im geringsten tuschieren,
ich kann bloß bei dem Licht
nicht photographieren.
DER ERSTE
Sie, hier wie mir scheint
kann noch was geschehn,
der Punkt ist vom Feind
zu gut eingesehn!
DER ZWEITE
Es lohnt nicht zu bleiben.
Bin ich ein Held?
Also was soll man schreiben?
Ein Erlebnis im Feld!
Sie fahren ab
Ein Feldwebel jagt mit dem Revolver einen Zug vor sich her
FELDWEBEL
Marsch! Ich wer’ euch lehrn hier herumtachiniern!
Fürs Vaterland stirbts, oder ich laß euch krepiern!
Was glaubts denn, i wer’s euch schon einigeignen!
Jetzt schießts auf den Feind, oder ich schieß auf die Eignen!
Sie verschwinden.
EIN ERBLINDETER
tastet sich kriechend vorwärts
So, Mutter, Dank! So fühl’ ich deine Hand.
Oh, sie befreit von Nacht und Vaterland!
Ich atme Wald und heimatliches Glück.
Wie führst du mich in deinen Schoß zurück.
Nun ist der Donner dieser Nacht verrollt.
Ich weiß es nicht, was sie von mir gewollt.
O Mutter, wie dein guter Morgen thaut!
Schon bin ich da, wo Gottes Auge blaut.
Er stirbt
DIE KRIEGSBERICHTERSTATTERIN
erscheint
Hier ist er, das Suchen hat sich gelohnt,
hier find’ ich den einfachen Mann an der Front!
EIN VERWUNDETER
tastet sich kriechend vorwärts
Fluch, Kaiser, dir! Ich spüre deine Hand,
an ihr ist Gift und Nacht und Vaterland!
Sie riecht nach Pest und allem Untergang.
Dein Blick ist Galgen und dein Bart der Strang!
Dein Lachen Lüge und dein Hochmut Haß,
dein Zorn ist deiner Kleinheit Übermaß,
der alle Grenze, alles Maß verrückt,
um groß zu sein, wenn er die Welt zerstückt.
Vom Rhein erschüttert ward sie bis zum Ganges
durch einen Heldenspieler zweiten Ranges!
Der alten Welt warst du doch kein Erhalter,
gabst du ihr Plunder aus dem Mittelalter.
Verödet wurde ihre Phantasie
von einem ritterlichen Weltkommis!
Nahmst ihr das Blut aus ihren besten Adern
mit deinen Meer- und Luft- und Wortgeschwadern.
Nie würde sie aus Dreck und Feuer geboren!
Mit deinem Gott hast du die Schlacht verloren!
Die offenbarte Welt, so aufgemacht,
von deinem Wahn um ihren Sinn gebracht,
so zugemacht, ist sie nur Fertigware,
mit der der Teufel zu der Hölle fahre!
Von Gottes Zorn und nicht von seinen Gnaden,
regierst du sie zu Rauch und Schwefelschwaden.
Rüstzeug des Herrn! Wir werden ihn erst preisen,
wirft er dich endlich zu dem alten Eisen!
Komm her und sieh, wie sich ein Stern gebiert,
wenn man die Zeit mit Munition regiert!
Laß deinen Kanzler, deine Diplomaten
durch dieses Meer von Blut und Tränen waten!
Fluch, Kaiser, dir und Fluch auch deiner Brut,
hinreichend Blut, ertränk sie in der Flut!
Ich sterbe, einer deutschen Mutter Sohn.
Doch zeug’ ich gegen dich vor Gottes Thron!
Er stirbt.
QUELLE: Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, 17. bis 23. Tausend (einschließlich der Aktausgabe); Verlag Die Fackel, Wien/Leipzig [1922]
ERNST JÜNGER (1895 – 1998)
Ernst Jünger wird am 29. März 1895 als Sohn des Apothekers Ernst Georg Jünger und seiner Frau Karolina geb. Lampl in Heidelberg geboren.
1914 meldet er sich als Kriegsfreiwilliger. 1918 werden ihm das Goldene Verwundetenabzeichen und der Orden »Pour le Mérite« verliehen. 1920 erscheint sein Kriegstagebuch »In Stahlgewittern«, das ihn berühmt macht. 1925 heiratet er Gretha von Jeinsen. Sein Philosophie- und Zoologiestudium bricht er ab und widmet sich ganz der Schriftstellerei. Dabei bleibt die Entomologie seine Leidenschaft. 1928 erscheint »Das abenteuerliche Herz«. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 weist er die Aufnahme in die Deutsche Akademie der Dichtung zurück. 1936 zieht er mit seiner Familie nach Überlingen und dann nahe Hannover. Dort erscheint »Auf den Marmorklippen«. 1939 wird er erneut eingezogen. Es entsteht der Essay »Der Friede«. Im September 1944 wird er regulär aus der Wehrmacht entlassen.
1945 weigert Jünger sich, den Fragebogen der alliierten Besatzungsmächte zur Entnazifizierung auszufüllen, und erhält bis 1949 Publikationsverbot. Er zieht 1951 nach Wilflingen, wo er 1962 nach dem Tod seiner ersten Frau Gretha (1960) die Germanistin und Lektorin Liselotte Lohrer heiratet. Es entstehen weitere Werke wie »Siebzig verweht«. Jünger stirbt hoch geehrt im Alter von 103 Jahren.
ERNST JÜNGER
IN STAHLGEWITTERN
ORAINVILLE
Der Zug hielt in Bazancourt, einem Städtchen der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir dem langsamen Takte des Walzwerkes der Front, einer Melodie, die uns in langen Jahren Gewohnheit werden sollte. Ganz weit zerfloß der weiße Ball eines Schrapnells im grauen Dezemberhimmel. Der Atem des Kampfes wehte herüber und ließ uns seltsam erschauern. Ahnten wir, daß fast alle von uns verschlungen werden sollten an Tagen, in denen das dunkle Murren dahinten aufbrandete zu unaufhörlich rollendem Donner? Der eine früher, der andere später?
Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zusammengeschmolzen zu einem großen, begeisterten Körper, Träger des deutschen Idealismus der nachsiebziger Jahre. Aufgewachsen im Geiste einer materialistischen Zeit, wob in uns allen die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach dem großen Erleben. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen in trunkener Morituri-Stimmung. Der Krieg mußte es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen. Kein schönrer Tod ist auf der Welt … Ach, nur nicht zu Haus bleiben, nur mitmachen dürfen!
»In Gruppenkolonne antreten!« Die erhitzte Phantasie beruhigte sich beim Marsche durch den schweren Lehmboden der Champagne. Tornister, Patronen und Gewehr drückten wie Blei. »Kurztreten. Aufbleiben dahinten!«
Ach, zu des Geistes Flügeln wird so bald
Kein körperlicher Flügel sich gesellen!
Endlich erreichten wir das Dorf Orainville, den Ruheort des Füsilier-Regiments 73, eins der typischen Nester jener Gegend, gebildet durch 50 Häuschen aus Ziegel- oder Kreidesteinen um einen parkumschlossenen Herrensitz.
Das Treiben auf der Dorfstraße bot den kulturgewohnten Augen einen fremden Anblick. Man sah nur wenige scheue und zerlumpte Zivilisten; überall Soldaten in abgetragenen, zerschlissenen Röcken mit wettergegerbten, meist von großen Bärten umrahmten Gesichtern, die langsamen Schrittes dahinschlenderten oder in kleinen Gruppen vor den Türen der Häuser standen und uns Neulinge mit Scherzrufen empfingen. Irgendwo stand eine nach Erbsensuppe duftende Feldküche, von kochgeschirrklappernden Essenholern umringt. Die wallensteinsche Romantik wurde durch den beginnenden Verfall des Dorfes noch gesteigert.
Nachdem wir die erste Nacht in einer gewaltigen Scheune verbracht hatten, wurden wir im Hofe des Schlosses vom Regimentsadjutanten, dem damaligen Oberleutnant v. Brixen, eingeteilt und ich der 9. Kompagnie überwiesen.
Unser erster Kriegstag sollte nicht vorübergehen, ohne uns einen entscheidenden Eindruck zu hinterlassen: Wir saßen in der uns als Quartier angewiesenen Schule und frühstückten. Plötzlich dröhnte eine Reihe dumpfer Erschütterungen in der Nähe, während aus allen Häusern Soldaten dem Dorfeingang zustürzten. Wir befolgten dies Beispiel, ohne recht zu wissen warum. Wieder ertönte ein eigenartiges, nie gehörtes Flattern und Rauschen über uns und ertrank in polterndem Krachen. Ich wunderte mich, daß die Leute um mich sich zusammenduckten wie unter furchtbarer Drohung.
Gleich darauf erschienen schwarze Gruppen auf der menschenleeren Dorfstraße, in Zeltbahnen oder auf den verschränkten Händen schwarze Bündel schleppend. Mit einem merkwürdig beklommenen Gefühl der Unwirklichkeit starrte ich auf eine blutüberströmte Gestalt mit lose am Körper herabhängendem Bein, die unaufhörlich ein heiseres »Zu Hilfe!« hervorstieß und in ein Haus getragen wurde, von dessen Eingang die Rote-Kreuz-Flagge herabwehte. – Was war das nur? Der Krieg hatte seine Krallen gezeigt und die gemütliche Maske abgeworfen. Das war so rätselhaft, so unpersönlich. Kaum, daß man dabei an den Feind dachte, dieses geheimnisvolle, tückische Wesen irgendwo dahinten. Das völlig außerhalb der Erfahrung liegende Ereignis machte einen so starken Eindruck, daß es Mühe kostete, die Zusammenhänge zu begreifen. Es war wie eine gespenstische Erscheinung am hellen Mittag.
Eine Granate war oben am Portal des Schlosses krepiert und hatte eine Wolke von Steinen und Sprengstücken in den Eingang geschleudert, gerade, als die durch die ersten Schüsse aufgeschreckten Insassen aus dem Torweg strömten. Sie erschlug 13 Opfer, darunter den Musikmeister Gebhard, eine mir von den hannoverschen Promenaden-Konzerten her wohlbekannte Erscheinung. Ein angebundenes Pferd witterte die Gefahr eher als die Menschen, riß sich wenige Sekunden vorher los und galoppierte, ohne verletzt zu werden, in den Schloßhof.
Im Gespräch mit meinen Kameraden merkte ich, daß dieser Zwischenfall manchem die Kriegsbegeisterung sehr gedämpft hatte. Daß er auch auf mich stark gewirkt hatte, ersah ich aus zahlreichen Gehörstäuschungen, die mir das Rollen jedes vorüberfahrenden Wagens in das fatale Geräusch der Unglücks-Granate verwandelten.
Am Abend desselben Tages kam der lang ersehnte Augenblick, in dem wir, schwer bepackt, zur Kampfstellung aufbrachen. Durch die aus phantastischem Halbdunkel ragenden Ruinen des Dorfes Betricourt führte unser Weg nach einem einsamen, in Tannenwaldungen versteckten Forsthause, der sogenannten »Fasanerie«, wo die Regiments-Reserve lag, der bis zu dieser Nacht auch die dort liegende 9. Kompagnie angehörte. Ihr Führer war der Leutnant d. R. Brahms.
Wir wurden in Empfang genommen, auf die Gruppen verteilt und befanden uns bald im Kreise bärtiger, lehmbekrusteter Gesellen, die uns mit einem gewissen ironischen Wohlwollen begrüßten. Wir wurden gefragt, wie es in Hannover aussähe, und ob der Krieg denn noch nicht bald zu Ende gehen sollte. Dann drehte sich das Gespräch in eintöniger Kürze um Schanzen, Feldküche, Grabenstücke und andere Angelegenheiten des Stellungskrieges.
Nach einiger Zeit erscholl vor der Tür unseres hüttenartigen Aufenthaltes der Ruf: »Heraustreten!« Wir traten bei unseren Gruppen an und stießen auf das Kommando: »Laden und Sichern!« mit geheimer Wollust einen Rahmen scharfer Patronen ins Magazin.
Dann ging es schweigend Mann hinter Mann querbeet durch die nächtliche, von dunklen Waldstücken besäte Landschaft. Ab und zu verhallte ein einsamer Schuß, oder eine Leuchtkugel strahlte zischend auf, um nach kurzer, geisterhafter Beleuchtung eine noch tiefere Dunkelheit zu hinterlassen. Monotones Klappern von Gewehr und Schanzzeug durch den Warnungsruf: »Achtung, Draht!« unterbrochen. Wie oft bin ich nach diesem erstenmal in halb melancholischer, halb erregter Stimmung durch ausgestorbene Landschaften zur vorderen Linie geschritten!
Endlich verschwanden wir in einem der Laufgräben, die sich wie weiße Schlangen durch die Nacht zur Stellung wanden. Dort fand ich mich einsam und fröstelnd zwischen zwei Schulterwehren wieder, angestrengt in eine vorm Graben liegende Tannenreihe starrend, in der meine Phantasie mir allerhand Schattengestalten vorgaukelte, während ab und zu eine verirrte Kugel durchs Geäst klatschte. Die einzige Abwechslung in dieser schier endlosen Zeit war, daß ich von einem älteren Kameraden abgeholt wurde und mit ihm durch einen langen, schmalen Gang zu einem vorgeschobenen Postenloch trottete, in dem wir wiederum damit beschäftigt waren, das Vorgelände zu betrachten. Zwei Stunden durfte ich in einem kahlen Kreideloche versuchen, den Schlaf der Erschöpfung zu finden. Als der Morgen graute, war ich bleich und lehmbeschmiert wie die anderen, und es war mir, als ob ich dieses Maulwurfsleben schon monatelang geführt hätte.
Die Stellung des Regiments wand sich durch den Kreidebogen der Champagne gegenüber dem Dorfe Le Gauda. Sie lehnte sich rechts an ein zerhacktes Waldstück, den Granat-Wald, lief dann durch riesige Zuckerrübenfelder, aus denen die roten Hosen gefallener Stürmer leuchteten, und endete in einem Bachgrund, über den die Verbindung mit dem Regiment 74 durch nächtliche Patrouillen aufrechterhalten wurde. Der Bach rauschte über das Wehr einer zerstörten, von finsteren Bäumen umringten Mühle. Ein unheimlicher Aufenthalt, wenn nachts der Mond durch zerrissene Wolken wechselnde Schatten warf, und seltsame Laute in das Murmeln des Wassers und das Rascheln des Schilfes sich zu mischen schienen.
Der Dienst war der denkbar anstrengendste. Das Leben begann mit dem Einbruch der Dämmerung, während der die ganze Besatzung im Graben stehen mußte. Von 10 Uhr abends bis 6 Uhr morgens durften dann je zwei Mann jeder Gruppe schlafen, so daß man einen Nachtschlaf von zwei Stunden genoß, der indes durch früheres Wecken, Strohholen und andere Beschäftigungen illusorisch gemacht wurde.
Entweder hatte man Wache im Graben, oder man zog in eins der zahlreichen Postenlöcher, die mit der Stellung durch lange, ausgehobene Verbindungswege zusammenhingen; eine Art der Sicherung, die wegen der Exponiertheit der Posten im Laufe des Stellungskrieges bald aufgegeben wurde.
Diese endlosen, furchtbar ermüdenden Nachtwachen waren bei klarem Wetter und selbst bei Frost noch erträglich, sie wurden jedoch qualvoll, wenn es, wie meist im Januar, regnete. Wenn die Feuchtigkeit erst die über den Kopf gezogene Zeltbahn, dann Mantel und Uniform durchdrang und stundenlang am Körper herunterrieselte, geriet man in eine Stimmung, die selbst durch das Rauschen der heranwatenden Ablösung nicht erhellt werden konnte. Die Morgendämmerung beleuchtete erschöpfte, kreidebeschmierte Gestalten, die sich zähneklappernd mit bleichen Gesichtern auf das faule Stroh der tropfenden Unterstände warfen. Diese Unterstände! Es waren nach dem Graben zu offene, in die Kreide gehauene Löcher mit einer Lage von Brettern und einigen Schaufeln Erde bedeckt. Hatte es geregnet, so tropften sie noch tagelang nachher; ein gewisser Galgenhumor hatte sie deshalb mit entsprechenden Namen, wie »Tropfsteinhöhle«, »Zum Männerbad« usw., bezeichnet. Wollten mehrere darin der Ruhe pflegen, so waren sie gezwungen, ihre Beine als unfehlbare Fußangeln für jeden Vorübergehenden in den Graben zu legen. Unter diesen Umständen war natürlich auch tagsüber von Schlaf wenig die Rede. Außerdem mußte man noch zwei Stunden Tagesposten stehen, den Graben reinigen, Essen, Kaffee, Wasser holen und anderes mehr.