Kitabı oku: «Economists4Future», sayfa 3
DIE REFLEXION DES RATIONALEN ERKENNENS
Zunächst kann dazu nachvollzogen werden, wie die berechnende Vernunft die oberste Erkenntniskruste als versteinert ausbildet. Deren Starrheit rührt daher, dass die moderne abstrakte Vernunft in keinerlei Beziehung zum konkreten Alltagsleben steht und auch nicht stehen soll. Sie hat stattdessen gänzlich erfahrungsunabhängig zu sein und hierfür rein gedanklichen, im Wesentlichen mathematischen Prozeduren zu folgen. Gefordert ist nicht weniger als die totale Unabhängigkeit von allen sinnlichen Wahrnehmungen, wie sie in der Erfahrungswelt gebildet werden. Damit erweist sich das rationale Erkennen auch als unveränderlich gegenüber jeglicher konkret gelebten Zeit. Selbst so alltägliche Fähigkeiten, wie das Bedauern vergangener Handlungen oder ein Lernen aus Erfahrungen, sind ausgeschlossen – einschließlich jeder zukunftsrelevanten Irrtumsfähigkeit menschlicher Vorstellungen.
Kein Wunder also, dass viele Studierende der Wirtschaftswissenschaften eine extreme Kluft empfinden zwischen der zu lernenden Theorie und der Welt, in der sie leben. Eine neue ökonomische Bildung sollte ihnen zunächst helfen zu verstehen, dass dies beileibe keinen Betriebsunfall, sondern eine systembedingte Erfordernis darstellt. Noch wichtiger ist aber, in einer solchen Analyse und Kritik nicht zu verharren, sondern Studierende zu wirklichen Ortswechseln des Erkennens zu befähigen.
DIE REFLEXION DES GEWÖHNLICHEN ERKENNENS
Ein erster solcher Ortswechsel vollzieht sich zunächst hin zum oberen Erkenntnismantel, der einem äußerst zähflüssigen, nahezu erkalteten Lavastrom gleicht. Hier ist das Erkennen zwar nicht mehr vollständig erfahrungsunabhängig, wohl aber unabhängig von allen konkret gegenwärtigen Erfahrungen, denn hier regieren primär mentale Gewohnheiten das Denken, Handeln und die Weltsicht. Entscheidend ist für sie nicht, was in der Gegenwart tatsächlich passiert, sondern wie es durch die Brille vorgefertigter Stereotypen wahrgenommen wird. Jede wirklich kreative Gestaltung gegenwärtiger Verhältnisse bleibt deshalb unmöglich. Kahneman etwa spricht hier treffend von einer »Tyrannei des erinnernden Selbst«. Leitend dabei ist vor allem der Umgang mit Sprache: Der begriffliche Verstand knüpft auf Basis von je schon Gelerntem ein Netz aus Wörtern und Bedeutungen, in das jedes aktuell gesprochene Wort wie in ein Raster fällt und dadurch eine vorhersehbare Bedeutung erlangt, die wiederum ein vorhersehbares Verhalten auslöst. Diese Raster entsprechen, kurz gesagt, den »Entscheidungsarchitekturen« der Verhaltensökonomik. Die Kognitionswissenschaften sprechen auch von »Frames«, zu Deutsch »kognitiven Deutungsrahmen«.
DIE WIEDERBELEBUNG SPONTANEN ERKENNENS
Die Geologie des Erkennens verneint ein solches, rein gewöhnliches Erkennen nicht. Sie bleibt aber nun – im Gegensatz zur Standardökonomie – dort nicht stehen und öffnet auf diese Weise neue Spielräume für die ökonomische Bildung. Die grundlegende Differenz zur Standardökonomik und ihres impliziten Erkenntnisparadigmas besteht darin, Formen des Erkennens, die relational zu gegenwärtigen Erfahrungen sind, nicht mehr länger zu ignorieren und ins vollständig Dunkle des vermeintlich nicht Erkennbaren zu versenken. Zunächst macht sie dafür eine Form des Erkennens stark, wie sie insbesondere in akuten Notfällen – so etwa der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie – immer wieder augenfällig wird, gleichwohl aber gerade von Ökonom*innen entweder vollständig übergangen oder aber argwöhnisch beäugt wird: das spontane Erkennen, das Menschen in unmittelbaren Erfahrungsbezügen nicht nur reagieren, sondern tatsächlich agieren lässt.
Charakteristisch für das spontane Erkennen sind die Aktivitäten des Gemeinsinns. Dieser meint die Fähigkeit, alte Urteile und Vorurteile vollumfänglich fallenzulassen und so deren handlungslenkende Wirkungen auszusetzen. Stattdessen werden angesichts konkreter Erfordernisse der Gegenwart neue Imaginationen generiert. Der Gemeinsinn erlaubt, die Lebenswelt wahrzunehmen, bevor mentale Stereotypen oder berechnende Kalküle sie im Licht bloß vergangener Erinnerungen bewerten. Dafür fügt er konkrete Sinneswahrnehmungen zu reflektierten Einheiten zusammen und arbeitet an der tiefsten Stelle des unteren Erkenntnismantels. Dort löst er alte Gewohnheiten des Erkennens auf und lässt sie ins Magma des Erkenntniskerns einsinken. Zugleich spürt der Gemeinsinn – jenseits der Wirkmächtigkeit des begrifflichen Verstands – neue potenziell sinnhafte Strukturen auf und stabilisiert sie anfänglich in improvisierendem Handeln. Dabei ist er nicht nur ein genuin kreativer, sondern auch ein moralischer Sinn, da er Bedürfnissen situationsadäquat und selbstlos begegnen kann.
Wichtig ist an dieser Stelle, dass das spontane Erkennen sich jeder operationalisierenden Form der Bildung entzieht. Es agiert gewissermaßen ex negativo, es gleicht der Negation aller Bildungsprozesse, die im Bereich des begrifflichen Verstandes bloß Stereotype oder im Bereich der abstrakten Vernunft allein Kalküle antrainieren. Stattdessen fordert der Gemeinsinn Freiräume in konkreten Erfahrungssituationen, sodass sich das Handeln angesichts von unmittelbaren Notwendigkeiten selbst professionalisieren darf. Gerade das Feld der Sorgearbeit scheint hier außerordentlich wichtig zu sein, damit Gestaltungsarbeit im Bereich der unmittelbaren wechselseitigen Abhängigkeiten von Menschen als Bedingung ihrer Existenz direkt erfahrbar und gestaltbar wird.
Während der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie hoffen viele Menschen, dass aus spontanem Gemeinsinn dauerhaft neue Gewohnheiten des Denkens und Handelns erwachsen mögen. Doch ist dies illusorisch, da der Gemeinsinn für sich genommen stets nur in unmittelbaren Handlungs- und Erfahrungsvollzügen wirksam ist. Eine »Corona-Dämmerung des Neoliberalismus«, wie die taz sie etwa beschwört, wird er deswegen nicht heraufziehen lassen können. Vielmehr droht ein Rückfall in alte Gewohnheiten, sobald die drängendsten Notlagen vorüber sind.
DIE NEUENTDECKUNG SINNSTIFTENDEN ERKENNENS
Soll das erfahrungsrelationale Erkennen tatsächlich bis an den Rand des gewöhnlichen Verstandes wirksam werden und seine Strukturen umgestalten können, bedarf es hierfür eines weiteren Habitats menschlichen Erkennens, das nun gleichsam den gesamten unteren Erkenntnismantel auszuprägen imstande ist. Es handelt sich um das sinnstiftende Erkennen, das bislang den vollständig blinden Fleck der ökonomischen Standardlehre bildet.
Diese Form des Erkennens ist – ebenso wie das spontane Erkennen – erfahrungsrelational. Es setzt ebenfalls ganz nah am Magma des dynamischen Erkenntniskerns an, indem es den Gemeinsinn umfasst. Doch verharrt das sinnstiftende Erkennen nicht einfach auf der Ebene dieses Sinns, sondern aktiviert zudem die Imagination ebenso wie die praktische Urteilskraft. Die Imagination meint dabei die Fähigkeit, kreative Vorstellungen des Gegenwärtigen und darüber hinaus auch des zukünftig Möglichen zu schaffen. Auch ist sie fähig, neue Bilder des Vergangenen zu schaffen und so Geschichtliches neu zu bewerten. Mit ihr avancieren Menschen von bloß vorstellungsgeprägten, reagierenden Wesen hin zu bildschöpfenden Wesen, die ihre eigenen Anschauungen frei gestalten können.
Während die Imagination im nochmals tieferliegenden Gemeinsinn wurzelt, speist sie ihrerseits die praktische Urteilskraft, die auch als Lebensklugheit (phronesis im Altgriechischen) bezeichnet wird. Diese ist diejenige Fähigkeit des Erkennens, die sich an konkreten Situationen orientiert und in ihnen angemessen operiert. Dabei sieht sie sich keineswegs auf bloße Erinnerungen und Instinkte reduziert, sondern beinhaltet auch das kognitive und das kreative Vermögen, sich im Konkreten und damit im Erfahrungsbedingten Urteile zu bilden, Fruchtbares und Schädliches zu unterscheiden sowie Dingen und Prozessen existenzielle und praktische Werte und Bedeutungen zuzuschreiben. Sie ist auch für die Bildung von Intentionen zuständig, die nicht einfach der Sinneswahrnehmung entspringen. Sie ist eine Form der Lebensklugheit, mit der Menschen sich darüber klar werden können, was sie wirklich wollen und sollen. Sie vermag alte Denk- und Handlungsgewohnheiten zu überwinden und ebenso neue zu schaffen, um in der Gegenwart über die Wirksamkeit der Vergangenheit zu entscheiden und sie auf eine neue Zukunft hin aktiv zu verändern.
Das sinnstiftende Erkennen bildet neue kreative Normalitäten. Um es seinerseits zu kultivieren, braucht es Freiräume für ein reflektiertes Tun in der Gegenwart, gepaart mit einem breiten Wissen um das gesellschaftlich-geschichtlich Gewordene. Dies alles in Forschung und Lehre zu vermitteln, ist nur mit handlungsorientierten und erfahrungsbasierten didaktischen Ansätzen möglich, die ein reflexives Tun mit Einblicken in die Kultur- und Ideengeschichte und imaginativen Übungen, gerade auch philosophisch-ästhetischer Art, verbinden.
FÜR EINE REFLEXIVE BIODIVERSITÄT DES ERKENNENS: DAS BASHO-FRAMEWORK
Natürlich geht es mir nicht darum, das rationale und das gewöhnliche Erkennen einfach auf den Scheiterhaufen der Geschichte zu befördern. Vielmehr entwerfe ich eine neue Vision reflexiver Biodiversität des Erkennens, die verschiedene Habitate umfasst und die sich an das basho-Framework anlehnt, welches auf der Abbildung unten gezeigt wird. Basho ist ein japanischer Begriff, der so viel wie »konkrete Aufenthaltsorte« oder »Wirkungsstätten« meint und in der japanischen Philosophie gerade auch die Vorstellung von Habitaten des Erkennens beinhaltet. Das basho-Framework kennt – genau wie die von mir vorgeschlagene Imagination der Geologie des Erkennens – nun nicht mehr bloß zwei, sondern fünf solcher Habitate: Rechts befindet sich das rationale Erkennen, das die neoklassische Theorie und die Theorie rationaler Erwartungen zur Monokultur erhoben hat. Auf der gleichen Seite liegt auch das gewöhnliche (oftmals unbewusste) Erkennen, das die Verhaltensökonomik gemeinsam mit dem rationalen Erkennen zur alleinherrschenden Duokultur stilisiert hat. Ergänzt (aber nicht ersetzt!) finden sich diese beiden nun durch das sinnstiftende, das spontane sowie das – mittig abgebildet – radikal-imaginäre Erkennen.
3 basho-Framework
Die Geologie des Erkennens, wie in der Abbildung auf Seite 30 gezeigt, schafft eine neue Vorstellung dafür, wie das spontane und das sinnstiftende Erkennen sowohl das gewöhnliche als auch das rationale Erkennen mitformen, zugleich aber von ihnen fest umschlossen und eingeschnürt werden: Spontanes und sinnstiftendes Erkennen können sich ihren Weg an die Oberfläche gesellschaftlicher Wahrnehmung und Gestaltung im Normalfalle nicht bahnen, sondern werden, obwohl sie im wahrsten Wortsinn fundamental sind, durch Formen epistemischer Gewalt verschwiegen, ignoriert und unterdrückt.
Mithilfe des basho-Frameworks möchte ich demgegenüber eine neue Oberfläche des Erkennens visualisieren, die nun nicht mehr allein vom rationalen, sondern von allen fünf Formen des Erkennens besiedelt und damit von mehreren Habitaten des Erkennens geprägt ist. Starke tektonische Kräfte in den Tiefen erfahrungsrelationalen Erkennens machen dies möglich: Sie können neue kreative Normalitäten ausbilden, sodass der begriffliche Verstand in neue Entscheidungsarchitekturen eingelassen wird und sein vormals starres Gerüst Bruchstellen erleidet. In der Folge weist auch das rationale Erkennen kein bruchloses Fundament mehr auf, sondern vermag ebenfalls aufzubrechen. Doch statt sich nur in Gestalt katastrophaler Eruptionen oder verheerender Erdbeben wandeln zu können, wird es von tektonischen Kräfte, die aus Dynamiken der tieferen Erkenntnisschichten herrühren, wie eine Kontinentalplatte in einen strikt begrenzten Teil der Erkenntnisoberfläche verschoben. In den so freigewordenen Bereichen können nun das gewöhnliche, das sinnstiftende und das spontane Erkennen ihrerseits an die Oberfläche treten und so eigene Habitate ausbilden. Die Dynamik, die der Gesamtoberfläche ihre Gestalt neu verleiht, ergibt sich aus dem Wirken des Gemeinsinns am Rande hin zur radikalen Imagination. Denn genau durch ihn beginnen sich die Tragfähigkeit als auch die Flexibilität der Erkenntnisschichten zuallererst auszubilden. Das basho-Framework ist für mich deswegen auch Sinnbild einer neuen Gemeinsinn-Ökonomie. Dabei stellt es ausdrücklich kein neues, erfahrungsunabhängiges Modell der Ökonomie dar, sondern eine sinnstiftende Imagination. Als solche soll es Menschen nicht erneut in ihrer Kreativität des Erkennens einschränken, sondern neue Spielräume schaffen, um dieser visuell und sprachlich Ausdruck zu verleihen.
In diesem Raum tritt nun auch das radikal Imaginäre offen zutage: Von den jeweils inneren Verwerfungslinien aller Erkenntnisweisen vermag der Blick frei und unverstellt in dessen dynamische Tiefe zu gleiten. Dies meint, dass jede Erkenntnisweise – statt sich zur Monokultur aufzuweiten – ausdrücklich vermittelt, dass sie selbst nur ein spezifisch Gewordenes darstellt, bereits mehr oder weniger gegenüber den stets dynamischen Erfahrungen der Gegenwart verhärtet. Wie in geologischen Aufschlüssen lässt sich dabei an den Bruchlinien jeder Erkenntnisform erforschen, wie die je spezifischen Verhärtungen einst in vergangenen dynamischen Tätigkeiten ihren Ursprung nahmen.
Zugleich lässt sich durch Bewegungen zwischen den einzelnen Bereichen des Erkennens antizipieren, wie sich diese Verhärtungen in Gegenwart und Zukunft auch wieder auflösen und umgestalten können. Gewiss fällt der Übergang des radikal Imaginären hin zum spontanen Erkennen dabei am flachsten aus – im basho-Framework verdeutlicht durch die durchlässige Linie –, vermag der Gemeinsinn doch hier jeden Tag aufs Neue nah an den Erfordernissen der dynamischen Wirklichkeit zu wirken. Zugleich braucht es die Einsicht, dass sich dessen Fläche stets nur als flexibel, ja geradezu labil erweist und deswegen keine dauerhaften Veränderungen von Denk- und Handlungsgewohnheiten begründen kann. Demgegenüber erweist sich das Habitat des sinnstiftenden Erkennens bereits als deutlich stabiler, da es Gewohnheiten zu verfestigen ebenso wie zu verflüssigen versteht und so strukturellen Wandel dessen, was Normalität genannt wird, im Strom der Zeit ermöglicht. Die Bereiche des unbewussten und vor allem des rationalen Erkennens dagegen fallen wie von hohen und steilen, felsenartigen Klippen jäh zum radikal Imaginären hinab. Hier bietet sich kein seichter Übergang, denn die postulierte Unabhängigkeit des Erkennens von gegenwärtiger beziehungsweise überhaupt aller Erfahrung erlaubt diesen Übergang nur im Sinne eines Absturzes.
DIE BILDUNG ZU REFLEXIVER FREIHEIT
Und dennoch: Das basho-Framework hilft, das rationale und das gewöhnliche Erkennen als auf einem ausgebildeten unteren Erkenntnismantel ruhend zu verstehen, der insbesondere durch das sinnstiftende Erkennen eine mächtige Tragfähigkeit ausbilden kann. Zugleich vermag dieser Mantel aufgrund der Aktivitäten des Gemeinsinns nun wie auf dem radikal Imaginären frei zu gleiten. Dieses Imaginäre symbolisiert dabei seinerseits zunächst die erlernbare Freiheit, an keinerlei bestimmte Form des Erkennens gebunden zu sein. Zugleich verweist es auf die immer wieder neu zu kultivierende Fähigkeit, sich für alle anderen Weisen des Erkennens frei entscheiden zu können.
Lässt sich die Welt nur berechnen und durch Kalküle und Modelle steuern? Können wir uns auf die quasiautomatischen Reaktionen eines festgefügten begrifflichen Verstandes verlassen? Braucht es den tiefgehenden strukturellen Wandel hin zu einer neuen kreativen Normalität? Braucht es die Fähigkeit, die Not der Mitmenschen in spontan empathischer Fürsorge zu lindern? Indem – vor allem junge – Menschen lernen dürfen, solche Entscheidungen zu treffen, kann das Erkennen für sie zu einer grundsätzlich offenen, selbst-reflexiven Tätigkeit werden.
Economists4future haben verstanden: Alles gesellschaftlich Gewordene, die Dynamik der Gegenwart und die Möglichkeiten der Zukunft sind ein reicher Schatz und eine schwere Bürde zugleich. Nur indem sie sich offen begegnen, können sie in einer »kreativen Gegenwart« gemeinsam gestaltet werden. Dies halte ich für den eigentlichen Kern einer radikal neuen ökonomischen Bildung, die eine tatsächliche, reflexive Biodiversität des Erkennens zur Grundlage haben sollte, in der sich ökonomische Theorie und Praxis wechselseitig bedingen und befruchten.
Prof. Dr. Silja Graupe ist Ökonomin wie Philosophin und Gründungsmitglied der die Wirtschaftswissenschaften vom Kopf auf die Füße stellenden Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung.
»Weit wesentlicher für die Zukunft aber wird sein, diese ›reine Lehre‹ endlich umzustellen auf eine realistische Ökonomik, in der die ökonomischen Entwicklungen und deren Folgen und die eigene Gestaltungskraft reflektiert werden. Hierin stehen Ökonom*innen in der Verantwortung, der sie sich nicht entziehen können.«
Katrin Hirte
DAS DOPPELTE REFLEXIONSPROBLEM |
Wie die Ökonomik ihren Gegenstand verfehlt und sich ihrer Wirkung auf ihn entzieht
In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass in den Wirtschaftswissenschaften ein grundsätzliches und zugleich doppeltes Reflexionsproblem besteht. Es ist mitverantwortlich für die mittlerweile desaströsen Folgen des Wirtschaftens – fatal für den Großteil der Menschen auf der Erde und katastrophal für den Zustand des Planeten.
Dieses Reflexionsproblem besteht zuerst in einer unreflektierten Gleichsetzung: Die Bewirtschaftung der Erde als Sphäre des Ressourcenumgangs wird mit der Sphäre der Ökonomie als Organisations- und Regulationsstruktur dieses Umgangs gleichgesetzt. Dies ermöglicht es, ökonomische Verhältnisse als quasinatürliche zu vermitteln. Nichts signalisiert dieses Problem so deutlich wie der beliebte Begriff »Marktwirtschaft«: »Wirtschaft« steht für die Sphäre des Bewirtschaftens und »Markt« für die Sphäre der ökonomischen Regelung dieses Wirtschaftens – wobei »Markt« im heutigen Ökonomieverständnis sogar synonym für eine angebliche Selbstregelung dieser Sphäre steht. Aber Bewirtschaftung gleicht eben nicht automatisch einer Marktökonomie, genau wie Produktionsmittel nicht automatisch Kapital sein müssen und Arbeit nicht Lohnarbeit sein muss. Vielmehr wurde die Bewirtschaftung der Ressourcen der Erde durch die Menschen in eine Marktökonomie umgewandelt. Die Regelungen dazu haben hauptsächlich Ökonom*innen geschaffen.
Hierin besteht das zweite Reflexionsproblem der Ökonomik: Sie blendet ihre eigene aktiv mitgestaltende Rolle in diesem Prozess aus – sei es hinsichtlich der Bestimmung dessen, was ein Bruttosozialprodukt ist, der Festlegung, welche Regeln für Unternehmen gelten, oder der Entwicklung von Berechnungsformeln für Finanzmarktprodukte. Durch all diese Bestimmungen werden sowohl die Bewirtschaftungssphäre als auch die ökonomische Sphäre mitgestaltet, denn Wissen webt sich beständig in das Geschehen der Gesellschaft ein. Dass darin eine gestaltende Kraft liegt, nimmt die Ökonomik nicht zur Kenntnis.
Die Vorstellungen zur Organisations- und Regulationsstruktur des Wirtschaftens gehören zu einer zweiten Reflexionsebene, die in der Soziologie als »Konzepte zweiter Ordnung« bezeichnet werden. Solche Konzepte werden seitens der Wissenschaften entwickelt, werden aber zu »Konzepten erster Ordnung«, wenn sie, so Anthony Giddens, »innerhalb des gesellschaftlichen Lebens angeeignet werden«. Dann bilden diese Konzepte erster Ordnung die Sphäre der Ökonomie als den Bereich, der über die Art und Weise der Bewirtschaftungsvorgänge entscheidet. Sie entscheiden somit über den Umgang mit Ressourcen, über Verteilung, über Verantwortlichkeiten und ähnliches mehr und tun dies mittels eigener dafür geschaffener Institutionen – ob Organisationen, Ämter oder Gesetze.
Bei dieser Differenzierung geht es weder um Spitzfindigkeiten bei der Wortwahl noch um eine Suggestion, dass es einfache Antworten auf die drängenden Probleme gäbe, die aus den Folgen einer derzeit fast ungezügelten Ökonomisierung auf der Erde entstanden sind – und aktuell durch die Corona-Pandemie noch verschärft werden. Sondern es geht darum, den Unterschied zu verdeutlichen: Bewirtschaftungssphäre und ökonomische Sphäre sind nicht deckungsgleich. Und gerade die Auswirkungen der Pandemie machen überdeutlich, dass zwischen diesen Bereichen unterschieden werden muss. Denn ausgerechnet in dieser Krisensituation wird das praktiziert, was in »Normalsituationen« undenkbar erscheint: Per politischem Beschluss werden geltende ökonomische Regularien, die bislang als keinesfalls veränderbar galten – einfach geändert. Gleichzeitig tritt dadurch zutage, wie stark diejenigen Bewirtschaftungsbereiche, die der direkten Versorgung des Menschen dienen, bereits in die ökonomische Sphäre involviert worden sind – mit negativen Folgen, wie aktuell angezeigt am Bereich Gesundheit und Pflege.
Diese missliche Gemengelage hat mit der nicht vollzogenen Grundunterscheidung zwischen Bewirtschaften und Ökonomie zu tun. Denn mit der stillschweigenden Identifikation von Bewirtschaftungs- und ökonomischer Sphäre änderte sich auch die Zielsetzung in jener erstgenannten Sphäre. Dies ist schon an der Wortherkunft erkennbar: Be-wirt-schaften bezeichnet den Vorgang, bei dem Menschen mit dem haushalten, was sie in die »Bewirtung« ihrer selbst und ihrer Umwelt einbeziehen. Schon die griechische Auffassung von Oikonomia umfasst das Behüten beziehungsweise Regeln (nemein) des Haushaltes (Oikos). Die Chrematistik, also der Gelderwerb, wurde davon unterschieden. Heute umfasst Ökonomie hingegen alles, was Menschen institutionalisiert haben, um dieses Wirtschaften regelgeleitet und mit dem Ziel des Gelderwerbes umzusetzen. Es basiert auf Kapital, dem Privateigentum an allen Ressourcen, mit dem es gelingt, aus dem Bestehenden ein Mehr zu schaffen. Daher ist die heute so gerne herangezogene »Marktwirtschaft« nichts anderes als eine Kapitalwirtschaft beziehungsweise – in klassischer Ausdrucksweise – ein Kapitalismus. Bereiche der sozialen Versorgung, wie Gesundheit, Energie, Verkehr und dergleichen, sind in dieser Ökonomie nur dann interessant, wenn sie auch ökonomisch interessant sind, also wenn sie in das Regelwerk des Kapitalismus einverleibt werden, was gerade in den letzten Jahrzehnten gelang.
Eine Abkehr von dieser Herangehensweise bedeutet daher eine Abkehr von dem grundsätzlichen Denken, das mit der heutigen Ökonomik transportiert wird und bei dem die Vermischung von Bewirtschaften und Ökonomie eine zentrale Rolle spielt. Erschwert wird eine Lossagung von dieser Vermengung durch eine apodiktische und noch dazu unhaltbare Wissenschaftsauffassung in der Ökonomik: In der Einbildung, dass in den Sozialwissenschaften ebenso wie in den Naturwissenschaften unumstößliche Gesetze gelten würden, wird einem Phantom nachgejagt. Dabei ist man gerade in den Naturwissenschaften bereit, zuvor angenommene Auffassungen mit wachsenden Einsichten aufzugeben – ob es um einen geobasierten Bezug in der Astronomie geht oder einen feststehenden Raum-Zeit-Bezug in der Physik. Mit diesem Vorgehen werden in den Naturwissenschaften sukzessive neue Zusammenhänge entdeckt. In den Sozialwissenschaften besteht die Herausforderung darin, dass sich geltende Auffassungen mit dem gesellschaftlichen Fortkommen mitentwickeln müssen. Beiden Arbeitsweisen verweigert sich die Ökonomik seit Jahrzehnten. Wie dies erfolgt und welche verheerenden Auswirkungen daraus resultieren, wird nachstehend zu drei Schwerpunkten verdeutlicht: Zuerst wird die Grundauffassung der Ökonomie beleuchtet, dann die Position der Wirtschaftsakteure problematisiert und schließlich die Rolle des Staates befragt.