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Teil I: Theoretische Beiträge zu den Grundlagen des Erasmus-Projekts
Ilse Bürmann (DE)
Zur Aktualität der Humanistischen Psychologie für die Pädagogik
1. Vorbemerkung

Im Folgenden thematisiere ich nicht nur Fragen der Beziehung der Humanistischen Psychologie zur Pädagogik, sondern immer zugleich auch meine eigene Beziehung zu beidem. Damit wird nur etwas expliziter, was aus erkenntnistheoretischer Sicht eigentlich immer geschieht, wenn ein Subjekt eine Sache oder einen Gegenstand aufzufassen und darzustellen versucht. Die mathematisierende Abstraktion physikalischer Zusammenhänge war in den vergangenen Jahrhunderten bestrebt, das erkennende Subjekt aus den beschriebenen Naturzusammenhängen methodisch zu eliminieren. Sie hat auch in weiten Teilen die Forschung über den Menschen geprägt. Andererseits hat bereits in den 50er Jahren Werner Heisenberg mit Blick auf das „nachklassische“ physikalische Weltbild formuliert:

„Wenn von einem Naturbild der exakten Wissenschaften in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehung zur Natur.“1

Ich betrachte es deshalb als eine forschungsmethodisch bedeutsame Perspektivenerweiterung, sich selbst als Forscher, Erkenntnissubjekt, Autor von Texten oder Vortragende ein Stück weit transparent und damit die eigene Beziehung zum „Gegenstand“ miterkennbar zu machen. Hierfür allerdings müssen die für wissenschaftliche Zusammenhänge geeigneten Formen erst entwickelt werden. Und damit bin ich eigentlich schon mitten in der Darstellung der erkenntnistheoretischen Implikationen der Sicht der Humanistischen Psychologen auf den Menschen als ein Teil der Natur, als Bestandteil des Organismus-Umwelt-Feldes, in seiner interdependenten Kontextualität oder wie die spezifische Begrifflichkeit in einzelnen Ansätzen der Humanistischen Psychologie auch immer geprägt sein mag.

2. Humanistische Psychologie – eine kurze Rekapitulation

Die Humanistische Psychologie ist in den frühen 60er Jahren in den USA als Sammelbewegung von Ansätzen an die Öffentlichkeit getreten, denen das naturwissenschaftliche Forschungsparadigma zur Erkenntnis des Menschen nicht angemessen schien.

Der damals vorfindlichen Polarisierung von Therapieformen in eine vielfach dogmatisch erstarrte Psychoanalyse einerseits und eine am Behaviorismus orientierte „lernpsychologische“ Forschung und Verhaltenstherapie andererseits wollten die Pioniere der Humanistischen Psychologie eine Alternative entgegensetzen. Diese Bewegung verstand sich aber nicht nur als Verbund undogmatischer neuer Therapieformen, sondern trat mit dem Anspruch auf, einen umfassenden Paradigmenwechsel innerhalb der Psychologie einzuleiten, indem diese als lebensgerechtere, menschengerechtere Wissenschaft vom Menschen neu zu begründen und zu entwickeln sei. Sie waren bemüht, eine solche in ersten Umrissen zu entwerfen und verständigten sich auf wertorientierte Grundpositionen mit dem Ziel, auf die menschlichen Lebensverhältnisse auf allen ihren Ebenen humanisierend einzuwirken. Fundamental war dabei die Ausrichtung an einem Menschenbild, das auf dem Zusammenhang von Leib, Seele und Geist besteht, das eine Bindung wissenschaftlichen Forschens über den Menschen an Sinn- und Wertkategorien im Dienste seiner Entfaltung fordert sowie eine Bindung des therapeutischen Handelns an die Respektierung seiner Würde und das ihm innewohnende Aktivitäts- und Entwicklungspotential.

Begriffe wie „Selbstaktualisierungstendenz“ und „organismische Selbstregulierung“ verweisen dabei einerseits auf das Aufgreifen früher biokybernetischer bzw. systemtheoretischer Ansätze (Karl Bühler, Ludwig von Bertalanffy und Kurt Lewin waren wie Kurt Goldstein wichtige Bezugstheoretiker dieser Gruppe). Andererseits erfolgte mit der Einbeziehung der geistigen Dimension des Menschen ein bewusstes Anknüpfen an Geistesgeschichte und philosophische Traditionen; ja, die philosophische Reflexion wurde als notwendige metatheoretische Ebene für fachspezifische Forschung und Praxis eingefordert, nachdrücklich vor allem von Charlotte Bühler. Insbesondere die existentialistischen Strömungen der Nachkriegszeit wurden aufgegriffen und gingen in sehr verschiedener Weise direkt (man denke etwa an Frankls Logotherapie und Existenzanalyse oder an Bugentals und Binswangers Daseinsanalyse) oder indirekt in die verschiedenen klinischen Ansätze ein. Die Orientierung an der Erfahrung, die methodischen Bemühungen um Wege zu möglichst großer Offenheit des Wahrnehmens, Fühlens und Denkens, die Gestaltung der Beziehung zum anderen, speziell zum Klienten als eine nicht hierarchische Begegnung (statt zielorientierter Beeinflussung aus Distanz) - alles dies sind Elemente einer Rückbesinnung des Menschen auf den primären Modus der Teilhabe und Verbundenheit und dessen bewusste Reaktivierung, Kultivierung und Nutzung als Erkenntnisweg wie als Heilungsweg.

Husserls und Merleau-Ponty’s Arbeiten zur Phänomenologie haben hierfür erkenntnistheoretische Grundlagen geschaffen.

Insgesamt versteht sich die Bewegung der Humanistischen Psychologie jedoch vor allem als Aufbruch zu neuen Ufern. Das Hier und Jetzt, die lebendige Aktualität, der primäre Erfahrungsmodus wird programmatisch akzentuiert, während das Dort und Dann zunächst in den Hintergrund tritt.

Das gefühlte Erleben wird gegenüber der reflexiven Distanznahme umfassend aufgewertet und ins Zentrum therapeutischer „Wiederbelebungen“ des unter Selbstentfremdung leidenden Menschen gestellt.

Aus dem Manifest der Humanistischen Psychologie, das auf dem Gründungskongress im Jahre 1962 beschlossen wurde, gehen die programmatischen Intentionen dieser Gesamtbewegung (die mit Namen verbunden ist wie Charlotte Bühler, Ruth Cohn, Erich Fromm, Rollo May, Abraham Maslow, Fritz und Lore Perls, Carl Rogers) deutlich hervor.

1. „Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die erlebende Person. Damit rückt das Erleben als das primäre Phänomen beim Studium des Menschen in den Mittelpunkt. Sowohl theoretische Erklärungen wie auch sichtbares Verhalten werden im Hinblick auf das Erleben selbst und auf seine Bedeutung für den Menschen als zweitrangig betrachtet.

2. Der Akzent liegt auf spezifisch-menschlichen Eigenschaften wie der Fähigkeit zu wählen, der Kreativität, Wertsetzung und Selbstverwirklichung - im Gegensatz zu einer mechanistischen und reduktionistischen Auffassung des Menschen.

3. Die Auswahl der Fragestellungen und der Forschungsmethoden erfolgt nach Maßgabe der Sinnhaftigkeit - im Gegensatz zur Betonung der Objektivität auf Kosten des Sinns.

4. Ein zentrales Anliegen ist die Aufrechterhaltung von Wert und Würde des Menschen und das Interesse gilt der Entwicklung der jedem Menschen innewohnenden Kräfte und Fähigkeiten. In dieser Sicht nimmt der einzelne Mensch in der Entwicklung seines Selbst, in seiner Beziehung zu anderen Menschen und zu sozialen Gruppen eine zentrale Stellung ein.“2

Es gehörte viel Mut dazu, sich als eine Gruppe von individualistischen Außenseitern öffentlich gegen den Mainstream der herrschenden Wissenschaftsauffassung in den Humanwissenschaften und gegen die dominanten psychotherapeutischen Schulen zu wenden. Es bedurfte ebenso sehr der Stärke, nicht in einen neuen Dogmatismus zu verfallen, sondern mit der Vielfalt von Ansätzen und Sichtweisen in den eigenen Reihen offen, dialogisch und kooperativ umzugehen, ohne auf Kritik untereinander zu verzichten.

Die Uneinheitlichkeit des Ansatzes wird von dessen Kritikern nun wieder mit dem Vorwurf der mangelnden Klarheit und vor allem auch mangelnder Präzisierung und Operationalisierbarkeit seiner Begriffe sowie der Unschärfe seiner Grenzen zu außerwissenschaftlichen Erkenntniswegen verbunden.

Anhänger der Humanistischen Psychologie betonen zumeist ihre Bahn brechenden Leistungen auf dem Feld der Psychotherapie. Bevor ich darauf unter pädagogisch-praxisbezogenem Aspekt zu sprechen komme, möchte ich aus wissenschaftsbezogener Perspektive den Beitrag der Humanistischen Psychologie zum Wandel der Selbstauffassung der Humanwissenschaften herausheben. Dieser Wandel geht dahin, dass Naturbild und Menschenbild wieder in einen einheitlichen Zusammenhang eingebettet werden. Die Humanistischen Psychologen haben sich somit als Katalysator für einen Wandel der Sicht auf den Menschen erwiesen, dessen Wirkung sich auch dort entfaltete, wo ein Rückbezug auf diese Richtung nicht explizit erfolgte. Man kann es aber auch andersherum sehen, dass sie ein spezifisches und sich prägnant artikulierendes Moment in einem disziplinenübergreifenden Wandlungsprozess darstellten, der etwa seit der Jahrhundertwende in Gang gekommen ist, sich aber nur in Schüben und Verwerfungen durchsetzen konnte. Als wichtige Momente dieses Wandels möchte ich folgende hervorheben:

• Die Relativierung des forschenden wissenschaftlichen Zugangs zum Menschen als aspekthaft gegenüber der Vielfalt der Erfahrungsrealität des erlebenden Subjekts.

• Die Einbeziehung des Forscher-Subjekts in den Forschungszusammenhang nicht als zu kontrollierende Variable, sondern als unhintergehbaren und unverzichtbaren Teil, der den Forschungsgegenstand beeinflusst und mitbestimmend dafür ist, was an ihm in Erscheinung treten kann. Transparenz und Selbstreflexivität werden zu zentralen Gütekriterien.

• Die Betonung der Unentbehrlichkeit qualitativer Methoden zur Erforschung des Menschen sowie biographischer Zugänge zu seinem Verständnis. (Hier sind als Anstöße vor allem das Eintreten für die Einzelfallstudie sowie die Lebenslaufforschungen von Charlotte Bühler zu nennen).

• Das Aufgreifen von Theorien offener Systeme im Rahmen eines ganzheitlichen Verständnisses des Menschen (nach innen) und im Hinblick auf die Erfassung interdependenter Bezüge nach außen.

• Die Hervorhebung des Aspekts der menschlichen Fähigkeit zur eigenständigen und produktiven Realitätsverarbeitung (gegenüber deterministischer Vorstellungen von der Allmächtigkeit von Sozialisationsbedingungen) ebenso wie die Betonung der menschlichen Intentionalität, Sinn- und Wertgerichtetheit gegenüber Vorstellungen von seiner Determiniertheit durch Bedürfnisse und Triebe.

• Die Annahme eines menschlichen Potentials an Spontaneität und Kreativität, das mit keinen linearen Modellen abzubilden und ebenso wenig vollständig dem Willen unterworfen ist, wie es auch nicht vorausberechnet werden kann.

Diese Positionen und Akzentsetzungen haben sich im aktuellen theoretischen Diskurs wie in der neueren humanwissenschaftlichen Forschungspraxis inzwischen verbreitet durchgesetzt; die Humanistischen Psychologen mussten seinerzeit Abwertungen und Ausgrenzungen dafür hinnehmen.

3. Zur pädagogischen Dimension der Humanistischen Psychologie

In der Pädagogik ist die Humanistische Psychologie vor allem in drei sich berührenden, aber doch wiederum auch klar unterscheidbaren Richtungen wirksam geworden, und zwar zunächst im Konzept der Schülerorientierung (auch Personen- oder Teilnehmerorientierung) unter Rückbezug auf den personenbezogenen Ansatz von Carl Rogers. Dieser ist in vielen Variationen Verbindungen eingegangen mit älteren Traditionen einer „Pädagogik vom Kinde aus“, aber auch mit Vorstellungen von Schülerorientierung als politischem Basiskonzept bis hin zu so radikalen Positionen wie der Antipädagogik eines Hubertus von Schönebeck. Rogers selbst hat seinen Ansatz auf Fragen des Lehren und Lernens bewusst ausgeweitet und hat eine Grenzziehung zwischen Erziehung, Beratung und Therapie in Bezug auf sein Verständnis von „Wachstumsförderung“ grundsätzlich abgelehnt. Rogers’ „Persönliche Gedanken über Lehren und Lernen“ und seine Ausführungen „Über das Lernen und wie man es fördern kann“ zählen in meiner Sicht zu den Perlen unter den Grundlagentexten zur Allgemeinen Didaktik.

In der Erwachsenenbildung und beruflichen Fortbildung ist besonders der Ansatz der themenzentrierten interaktionellen Methode (TZI) von Ruth Cohn pädagogisch wirksam geworden. Sie selbst – von der Psychoanalyse herkommend – hat ihr Konzept programmatisch als eine „Pädagogik für alle“ bezeichnet und versteht sie als eine therapeutisch fundierte, an existentiellen Themen orientierte Gruppen-Pädagogik.

Nachhaltig und vielfältig ist die pädagogische Rezeption der Gestalttherapie unter dem Namen Gestaltpädagogik. Diese setzt vor allem in der beruflichen Weiterbildung an der Persönlichkeitsentwicklung von Pädagogen an und ist darauf ausgerichtet, auf der Basis biographischer Selbsterfahrung und Selbstreflexion das auch pädagogisch hochwirksame Methodenrepertoire der Gestalttherapie in verantwortlicher und situationsangemessener Weise im Unterricht zu erproben. Während also Carl Rogers und Ruth Cohn selbst ihren Ansatz auf den Bereich der Pädagogik ausweiteten bzw. ihn unmittelbar darauf ausrichteten, hat die Gestalttherapie in Paul Goodman einen Pädagogen als Mitgründervater gehabt. Goodman ist allerdings vor allem als radikaler Schulkritiker und Gesellschaftstheoretiker hervorgetreten und hat Fragen der Didaktik in engerem Sinne nicht vorrangig zu seinem Thema gemacht. Dennoch kann man verallgemeinernd sagen, dass die Humanistische Psychologie in einigen ihrer wichtigsten Vertreter ein sehr offenes und engagiertes Verhältnis zur Pädagogik jenseits professioneller Abgrenzungsbestrebungen aufweist. Demgegenüber hat sich die wissenschaftliche Pädagogik mit dieser Richtung nur in seltenen Fällen in einen Dialog begeben (etwa Wolfgang Schulz mit Ruth Cohn, Hartmut von Hentig mit Paul Goodman), sondern sie hat sie oftmals für suspekt erklärt. Vorherrschend war dabei das Interesse, eine Psychologisierung und Therapeutisierung der Pädagogik zu vermeiden und ihre Eigenständigkeit zu betonen, was in der Geschichte der Pädagogik als Wissenschaft ihre nachvollziehbaren Ursachen hat und auch in der Professionalitätsdebatte immer wieder aufscheint.

Unabhängig von dem Verdikt vieler Professoren hat in der pädagogischen Praxis eine lebhafte und vielgestaltige Rezeption dieser Ansätze stattgefunden. Diese hat neben vielen positiven Effekten mitunter auch gesteigerte Grade der Trivialisierung hervorgebracht. Das Aufgreifen der Teilnehmer- oder Schülerorientierung als Bemühung der Lehrenden, die lebensweltlichen Erfahrungen von Schülern ernst zu nehmen und zum Ausgangspunkt (oft auch Gegenstand) des Unterrichts zu machen, ist teilweise so weit gegangen, dass der Ruf nach Herausforderung der Schüler zu Kontrasterfahrungen und Abstraktionsanstrengungen heute kaum mehr als reaktionär gilt. Auch wurden die Rogersschen „Basisvariablen“ für eine hilfreiche Beziehung seit eh und je technizistisch verkürzt. Die TZI ist in so viele Bereiche von Gruppenarbeit eingedrungen, dass einem manches aus diesem gut durchdachten erfahrungsfundierten Ansatz in sehr verwässerter, gelegentlich auch geistlos formalisierter Form entgegentreten kann. Und bei der Gestaltpädagogik hat sich das erlebnisaktivierende Methodenrepertoire in der Rezeption von den vorrangig zu erwerbenden persongebundenen Kompetenzen oftmals abgelöst, so dass ihre Leistungen mitunter als ein bloßer Beitrag zur Kreativitätskonjunktur wahrgenommen werden. Für umso notwendiger halte ich es, die einzelnen Ansätze wie die Humanistische Psychologie insgesamt von ihren wesentlichen Leistungen und wegweisenden Impulsen her zu würdigen und die Formen ihrer Rezeption einer differenzierenden Kritik zu unterziehen.

4. Zur Bedeutung der Humanistischen Psychologie für mich persönlich

4.1 Ich beginne mit dem historischen Kontext ihres Entstehens, verbunden mit den biographischen Erfahrungen der meisten der Hauptvertreter dieser Gruppe.

Bis auf Abraham Maslow, Carl Rogers und Rollo May waren alle führenden Vertreter und Pioniere der Humanistischen Psychologie aus Deutschland bzw. Österreich emigrierte Juden. Das gilt für Ruth Cohn ebenso wie für Erich Fromm, für Fritz und Lore Perls, für Viktor Frankl, Jakob Bugental, Charlotte Bühler oder Bruno Bettelheim, dessen Werk viele Berührungspunkte mit der Humanistischen Psychologie aufweist. Sie haben mit dem Ansatz der Humanistischen Psychologie als Entkommene oder Überlebende des Holocaust und als Psychotherapeuten auf ihre Weise auch eine Antwort zu geben versucht auf die Frage: Was ist der Mensch, und was können wir tun, damit er sich zum Guten hin entwickeln kann? Während Theodor W. Adorno etwa in seiner berühmten Rundfunkrede von 1967 unter dem Titel „Erziehung nach Auschwitz“3 die Auffassung vertritt, nach Auschwitz könne man nicht Liebe predigen oder sich um Liebe bemühen, sondern man müsse seine Anstrengungen darauf richten, „der Kälte zum Bewußtsein ihrer selbst“ zu verhelfen und sich der Erforschung des Seelenlebens der Täter zuwenden, gehen die Pioniere der Humanistischen Psychologie als Psychotherapeuten einen anderen Weg. Sie versuchen, nicht nur den Menschen „neu zu denken“, sondern sich mit dem je Einzelnen auf eine Beziehung einzulassen, die alle Vormeinungen und Verallgemeinerungen besonders hinsichtlich der Bedeutung von ethnischer, nationaler oder religiöser Zugehörigkeit sowie alle vorgängigen Zielbestimmungen zu vermeiden sucht. Man kann darin auch den Versuch sehen, mit dem je einzelnen Menschen einen neuen Anfang zu versuchen, hinter Vorurteile, gesellschaftliche Konventionen, Wertmaßstäbe und Zwecksetzungen zurückzugehen und sich mit dem Risiko der ganzen Person für neue, entwicklungsfördernde Erfahrungen in der Intersubjektivitätsbeziehung einzusetzen.

Damit ist dieser Ansatz mit seinem z. T. betont positiven Menschenbild für mich nicht nur Ausdruck eines gewissen amerikanischen Optimismus - das ist er auch, zumal bei Rogers und Maslow - sondern zugleich Ausdruck der erstaunlichen konstruktiven Möglichkeiten des Menschen zur Überwindung eigener tiefer traumatischer Verletzungen und einer Gut und Böse polarisierenden Sicht auf den Menschen. Die Humanistischen Psychologen sind nicht, wie Adorno, darauf aus, den Menschen zu analysieren und über sich selbst kritisch aufzuklären, sondern sie sind bereit, sich mit ihm neu einzulassen.

Das ist mehr als nur eine abstrakte ethische Entscheidung; diese Bereitschaft hat auch Konsequenzen für die Erkenntnisse, die dabei gewonnen werden.

Erik Homburger Erikson (auch ein Emigrant mit teilweise jüdischer Herkunft), der in vielen seiner Auffassungen zwischen Psychoanalyse und Humanistischer Psychologie steht, hat seine Grundüberzeugung mit Blick auf die experimentelle psychologische treatment-Forschung, in der Affen in die Psychose getrieben wurden, einmal so formuliert:

„Man kann das Wesen der Dinge untersuchen, indem man ihnen etwas antut, aber über die eigentliche Natur lebender Wesen kann man nur etwas lernen, wenn man etwas mit ihnen oder für sie tut“4

Ein positives Beispiel aus der Tierforschung dafür, dass eine solche Auffassung zu einer höchst produktiven Erkenntnishaltung führen kann, sind Konrad Lorenz’ Forschungen an Graugänsen, zu denen er in eine ernsthafte und respektvolle soziale Beziehung trat. Für die dabei gewonnene bahnbrechend neue Sicht auf das Verhalten von Tieren wurde er Ende der 60er Jahre mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Die Pioniere der Humanistischen Psychologie, denen selbst in ihrer Mehrzahl direkt oder indirekt Schlimmstes angetan worden ist, reagierten auf diese Erfahrung, indem sie einen radikal anderen Beziehungsmodus dem je einzelnen Menschen gegenüber nicht nur einforderten, sondern selbst zu leben und in ihr berufliches Handeln zu integrieren suchten. Sie haben damit einen wegweisenden Impuls gegeben.

4.2 Ein weiteres Moment, das mir persönlich an diesem Ansatz wichtig ist, ist der Mut zur ungeschützten Offenheit für den in der eigenen konstruktiven Entwicklung blockierten Anderen. Das setzt voraus, dass der veränderte Beziehungsmodus zunächst und vor allem sich selbst gegenüber realisiert werden muss. Ungeachtet der Notwendigkeit einer sekundären Einbettung in eine professionelle Methodik besteht hierin meines Erachtens ein entscheidendes Kernstück des humanistisch-psychologischen Ansatzes. Dies ist eine Aufgabe von so hohem Anspruch an die personale Integrität, dass gerade dieses Moment sich der Trivialisierung - wie aber auch der Sicherung durch Methode - entzieht. Fasst man die von Rogers herausgearbeiteten Grundelemente einer hilfreichen Beziehung - also Wertschätzung, Empathie und Kongruenz - auf als Aspekte einer Begegnungshaltung im Buberschen Sinne, so wird deutlich, dass es sich um Haltungen handelt, die ihre Wirksamkeit in der existentiellen Aufrichtigkeit eines Subjekts haben, das sich selbst körperlich, seelisch und geistig wahrnimmt und ungeschützt in die Beziehung einbringt. Ich zitiere zur Veranschaulichung eine Ausführung des späten Rogers zur Kongruenz, die er als wichtigste Bedingung für eine entwicklungsfördernde Beziehung ansieht.

„Je mehr der Therapeut in der Beziehung er selbst ist, d.h., kein professionelles Gehabe und keine persönliche Fassade zur Schau trägt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich der Klient äußern und auf konstruktive Weise wachsen wird. Das bedeutet, daß der Therapeut offen die Gefühle und Einstellungen darbietet, die ihn im Augenblick bewegen. Der Begriff der Transparenz wird diesem Sachverhalt gerecht:

Der Therapeut macht sich dem Klienten gegenüber transparent; der Klient kann ohne weiteres sehen, was der Therapeut in der Beziehung ist; der Klient erlebt kein Zurückhalten seitens des Therapeuten. Was den Therapeuten betrifft, so ist das, was er oder sie erlebt, dem Bewußtsein zugänglich, kann in der Beziehung gelebt und, falls angebracht, kommuniziert werden. Es besteht also eine genaue Übereinstimmung zwischen dem körperlichen Empfinden, dem Gewahrsein und den Äußerungen gegenüber dem Klienten.“5

Die Bereitschaft zur ungeschützten Transparenz ist, wie auch im Zitat angedeutet, selbstverständlich nicht identisch mit hemmungsloser Selbstoffenbarung des Therapeuten in der Kommunikation mit dem Klienten. Ruth Cohn hat in diesem Zusammenhang treffend von „selektiver Authentizität“ gesprochen, die sie auch als pädagogische Haltung versteht. Sie ist gegründet in der Offenheit der Selbstwahrnehmung und ist von der bloßen Attitüde der Menschenfreundlichkeit gerade durch ein Zulassen auch „unerwünschter“ Regungen wie durch verantwortliche Auswahl und Differenziertheit ihrer Mitteilung zu unterscheiden. Auch ist, obgleich dies oftmals nicht genügend betont wird, im Konzept der Empathie nicht nur die menschliche Möglichkeit angesprochen, sich selbst im Anderen wieder zu erkennen, sondern Empathiefähigkeit impliziert auch, den Anderen im Anderen zu erfahren und dieses auszuhalten. So wird auch die Grenze zum Anderen transparent, d. h. zugleich durchlässig und wahrnehmbar.

In der Ausarbeitung eines Verständnisses der hilfreichen Beziehung, die nicht bemächtigend und objektivierend, sondern offen und begegnend ist, verbunden mit einer genauen Beschreibung von Grundhaltungen, die diese ermöglichen sowie des Aufweisens methodischer Wege zu ihrem Erwerb, liegt für mich die Hauptbedeutung des personenzentrierten Ansatzes von Rogers. Dessen Relevanz für das Verständnis der pädagogischen Beziehung ist meines Erachtens offenkundig und unbestritten, wenngleich natürlich nicht alle Aspekte des Pädagogischen darin aufgehoben sind.

Es bestehen im Übrigen Übereinstimmungen nicht nur mit Martin Bubers philosophischem Konzept der Begegnung, sondern auch mit Otto Friedrich Bollnows Bemühungen, die „gefühlsmäßigen Grundlagen der Erziehung“ genauer zu beschreiben, wie er es in seinem Buch „Die pädagogische Atmosphäre“ von 1964 getan hat. Viele Pädagogen meiner Generation konnten in den 1970er Jahren Rogers leichter und besser rezipieren als die existenzphilosophischen Texte zur Pädagogik in ihrer spezifischen Sprache der Schwere und Bedeutsamkeit.

4.3 Demgegenüber ist es der von Fritz und Lore Perls entwickelte und in Zusammenarbeit mit Paul Goodman theoretisch fundierte Ansatz der Gestalttherapie, der das dritte für mich wesentliche Moment der Humanistischen Psychologie besonders ins Zentrum stellt.

Das ist die Betonung des Gewahrseins, der „awareness“, der phänomenologischen Wahrnehmungsoffenheit. In ihm wird letztlich auch Erkenntnis als Begegnung aufgefasst. Heik Portele hat einmal die Gestalttherapie in Abgrenzung von anderen therapeutischen Richtungen nach ihrem jeweiligen sprachlichen Grundgestus folgendermaßen zu fassen gesucht:

„Der Freudsche Therapeut sagt: ‘Assoziiere, ich werde Deine geheimnisvollen Triebmechanismen aufdecken.’ - Reich: ‘Befreie Dich von Deinem Panzer!’ - Rogers: ‘Ich versteh Dich, ich weiß, wie das ist.’ - Und Perls: ‘Schau doch richtig hin.’“6

Das klingt vielleicht trivial, erweist sich aber immer wieder als hochbrisant, denn das „genaue Hinschauen“ im Sinne von Perls verlangt uns ab, unsere habituellen Wahrnehmungsroutinen hinter uns zu lassen, die objektivierende und analysierende Distanznahme eine Zeitlang auszusetzen und uns dem zu überlassen, was dann geschieht. Perls und Goodman prägten für eine solche phänomenologische Erkenntnishaltung den Begriff des Einlassens auf den mittleren Modus, einen Zustand zwischen Tun und Erleiden, mit dem sie das Phänomen basaler Spontaneität des lebendigen Organismus verbunden sehen.

„Spontaneität ist das Gefühl, den gerade ablaufenden Organismus Umwelt-Prozeß handelnd zu erleben, nicht nur Gestalter oder das Gestaltete zu sein, sondern darin zu wachsen. Spontaneität ist nicht gelenkt oder selbstlenkend, noch ist sie ein Dahingetragenwerden, wobei man im Grunde unbeteiligt wäre, sondern sie ist ein Entdecken und Erfinden, während man unterwegs ist, sich einlässt und anerkennt. Das Spontane ist zugleich aktiv und passiv, sowohl das, wozu man bereit ist, wie auch das, was einem zustößt. Oder besser, es ist ein mittlerer Modus zwischen Tun und Erleiden, eine schöpferische Unparteilichkeit, ein Desinteresse, nicht in dem Sinne, dass man nicht erregt oder nicht schöpferisch wäre, denn Spontaneität ist dies beides in außerordentlichem Maße, sondern als Einheit vor (und nach) der Trennung von Aktivität und Passivität, die beides einschließt.“7

Mit der Bemühung um die Beschreibung und Realisierung nicht bemächtigender Grundvorgänge der Wahrnehmung wie des Erkennens verknüpft sich bei Perls eine Tendenz zur polemischen Abwertung der kulturell-dominanten Haltung der reflexiven Distanznahme als einer habitualisierten Form der Kontaktvermeidung, deren Beweggrund die Angstabwehr sei.

Diese Sicht enthält meines Erachtens ein sehr wahres, aber genauso ein vereinseitigend falsches Moment. Soweit der Modus der reflexiven Distanznahme Herrschaft über den anderen ausübt, ist auch der Perlssche Rebellionsimpuls legitim. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass das Zulassen des mittleren Modus nicht in eine Alternative zur reflexiven Distanznahme verwandelt werden darf, sondern dass es gilt, das Verhältnis beider Zugangsmodi zur Wirklichkeit, die dem Menschen möglich sind, produktiv zu reorganisieren. „Neben“ statt „anstelle von“ ist die Gedankenfigur, die ich dabei im Auge habe. Dieser Anspruch lässt sich in unterschiedlicher Ausprägung zwar und nur bei genauem Hinsehen bei allen Autoren der Humanistischen Psychologie aufspüren – allerdings besonders dort, wo der Dialog mit der Wissenschaft gesucht und nicht für obsolet erklärt wird.

Wahrnehmungsoffenheit nach innen und außen ist nicht nur für die intersubjektive Beziehung, sondern auch für die Kunst des Unterrichtens von Bedeutung. Ich habe dies in meiner Arbeit über bildendes Lehren und Lernen8 am Beispiel Wagenscheins und an Ansätzen aus der Grundschulpädagogik herausgearbeitet und sie zugleich als das Herzstück des gestaltpädagogischen Ansatzes beschrieben, dem ich mich besonders verbunden fühle.

4.4 Was ich vom Ansatz der TZI gelernt habe - ich hatte das Glück, ihn durch Ruth Cohn persönlich als Teilnehmerin eines ihrer ersten Seminare in Deutschland kennen zu lernen - ist demgegenüber etwas bescheidener, aber von großer pragmatischer Bedeutung. Es ist das Gespür für die Dynamik einer Lerngruppe, das Vertrauen in ihre Selbstorganisationsfähigkeit, die Bereitschaft, Macht abzugeben und ein Gefühl für das, was sie dynamische Balance nennt. Hüter der dynamischen Balance zu sein, wie Ruth Cohn die Funktion des Gruppenleiters beschreibt, habe ich für mich in der Universität vor allem darauf bezogen, den Dualismus von Personenorientierung einerseits und Sachorientierung andererseits, von Erfahrungs- und Theoriebezug, aber auch von persönlicher Begegnung mit Menschen und des ebenso erforderlichen bewertenden Distanzverhältnisses in Vorstellungen von der Möglichkeit eines fluktuierenden Wechsels einzubetten. Um diese begrifflich zu erfassen bedurfte ich persönlich allerdings auch des Weges oder Umweges über erkenntnistheoretische Grundfragen. Das Kernstück der Theorie der TZI, das berühmte Dreieck in der Kugel, lädt nämlich m. E. allzu sehr dazu ein, mit einem einfachen Bild und griffigen Formeln die schwierigen Fragen des Lehrens und Lernens für beantwortet zu halten.

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