Kitabı oku: «Gestalttherapie in der klinischen Praxis», sayfa 10

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3.6. Es gibt verschiedene Landkarten

Wie wir schon mehrfach betont haben, bewegt sich der laufende Prozess einer Diagnosestellung auf den Horizont des beziehungsorientierten Paradigmas zu, wo er ko-kreierte Phänomene und nicht das Individuum betrifft. Diese Orientierung ist wesentlich für einen gestalttherapeutischen Ansatz. In ihrer täglichen Praxis nutzen GestalttherapeutInnen jedoch auch diagnostische Werkzeuge, die in anderen Paradigmen verwurzelt sind. Wie soll man mit diesem Dilemma umgehen?

Stellen Sie sich vor, Sie gehen in einen Park und bemerken eine Skulptur. Sie sehen sie an, befühlen und erkunden sie. Dann gehen Sie um sie herum und sehen sie sich von einer anderen Stelle aus an. Es ist dieselbe Skulptur und trotzdem nehmen Sie sie jetzt anders wahr. Dann verändern Sie ihre Position noch einmal und sehen sich die Skulptur aus einer anderen Perspektive an. Eine Perspektive ist nicht genug, um der Skulptur gerecht zu werden. Diese Metapher wird hier für eine klinische Situation und Diagnose verwendet. Es gibt eine epistemologische Meinungsverschiedenheit zwischen medizinischen und gestalttherapeutischen Ansätzen, die jedoch nicht zwangsläufig zu einem unproduktiven Konflikt führt, wie eine Aussage ähnlich der folgenden es täte: »Man muss die Skulptur aus dieser Perspektive betrachten!« Stattdessen kann die BeobachterIn sich ihres Standortes stärker bewusst sein und erkunden, welche Perspektiven sich von anderen Standorten aus ergeben. Was wir sehen, hängt von unserer Beobachtungsposition ab. Unterschiedliche Perspektiven führen zu unterschiedlichen Landkarten und unterschiedlichen Diagnosen derselben klinischen Situation.16

Die Begegnung mit einer PatientIn bedeutet für die TherapeutIn ein komplexes Erleben. Sie kann eine multidimensionale Diagnose erstellen, indem sie unterschiedliche Betrachtungsweisen nutzt und die Perspektiven flexibel verändert, aus denen sie die therapeutische Situation beobachtet. Es ist wichtig, dass diese Perspektiven nicht hierarchisch bewertet werden, sodass eine als höher oder besser gilt als eine andere. Die Perspektiven stehen nicht in gegenseitiger Konkurrenz, sondern ergänzen sich vielmehr und bilden gemeinsam eine multidimensionale Diagnose. Eine Diagnose muss multidimensional sein, um zuverlässig durch das komplexe Gebiet zu führen, das eine TherapeutIn bei der Begegnung mit einer PatientIn betritt. Das Stellen einer multidimensionalen Diagnose reduziert das Risiko, dass wir unser eigenes Konzept behandeln, anstatt uns voll auf einen lebenden Menschen einzulassen. Sie befähigt uns, den Bedürfnissen der PatientIn im Hinblick auf verschiedene Dimensionen ihres Lebens zuzuhören (entwicklungsorientiert, beziehungsorientiert, spirituell, psychosomatisch usw.) und fördert guten Kontakt.

Der Inhalt einer Diagnose hängt von der Perspektive ab, aus der die TherapeutIn die klinische Situation beobachtet. Es ist von größter Wichtigkeit, dass die TherapeutIn erkennt, welche Perspektive sie in einem bestimmten Moment einnimmt. Sollte sie die unterschiedlichen Perspektiven miteinander verwechseln, verlieren sie ihren Nutzen für die Diagnosestellung.

Bei der Diagnosestellung bieten sich für GestalttherapeutInnen drei unterschiedliche Perspektiven an (siehe Abbildung 1). Diese drei Perspektiven tauchen oft in der Literatur zur Gestalttherapie auf, außerdem greifen GestalttherapeutInnen bei der Schilderung ihrer klinischen Arbeit häufig darauf zurück. Dennoch werden sie meist nicht deutlich genug voneinander abgegrenzt, was zu einer Verwirrung der theoretischen Grundlagen führt und ihren Nutzen für die tägliche psychotherapeutische Praxis einschränkt. Wir wollen hier ein Werkzeug vorstellen, mit dessen Hilfe sich diese drei Möglichkeiten der Konzeptualisierung einer Situation erkennen und umsetzen lassen: die »ko-kreative Perspektive«, die »kontextuelle Perspektive« und die »symptomatische Perspektive«.

Aus der ersten Perspektive, die einen Beitrag der Gestalttherapie zum psychotherapeutischen Feld darstellt, beobachtet die TherapeutIn einen Prozess der Ko-Kreation der Feldorganisation im Hier und Jetzt. Aus der zweiten Perspektive beobachtet sie Interaktionen und Rollen innerhalb eines Beziehungssystems sowie die Geschichte dieser Interaktionen und Rollen. Und aus der dritten Perspektive beobachtet sie klinische Symptome. Diese Perspektiven gezielt und getrennt voneinander einzunehmen, hilft der TherapeutIn dabei, sich ihrer individuellen Vorzüge und Grenzen bewusst zu werden. Jede Perspektive ergibt eine andere Art von Landkarte. Die verschiedenen Landkarten ergänzen sich schließlich und bilden eine multidimensionale Diagnose. Jede Landkarte beschreibt unterschiedliche Eigenschaften des Gebiets und ist in unterschiedlichen Situationen von Nutzen.

3.6.1. Die symptomatische Perspektive: Fokus auf dem, was nicht gesund ist

Es kann für GestalttherapeutInnen schwierig sein, diese Perspektive gezielt einzunehmen. Schließlich nehmen wir für uns in Anspruch, weder zu pathologisieren noch zu objektivieren. Es ist jedoch hilfreicher, nicht mit dem medizinischen Paradigma zu konkurrieren und stattdessen seinen Wert zu nutzen. Wir müssen in einem System funktionieren, das sehr stark von einem medizinischen Paradigma geprägt ist. Wir müssen medizinische Diagnosen kennen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie existieren. Sie sind in jedem Fall Teil des Feldes, in dem wir leben und arbeiten. Sie finden nicht nur auf dem Gebiet der Psychotherapie Anwendung, sondern auch in der Psychiatrie, der Forschung, der Forensik und nicht zuletzt auch im alltäglichen Sprachgebrauch. Diesen Aspekt zu ignorieren würde bedeuten, uns von unserem Kontext abzuschotten. In der Folge würden wir unsere Möglichkeiten verringern, die uns anvertrauten Menschen zu unterstützen und vor einer Kategorisierung zu schützen. TherapeutInnen müssen die medizinischen Diagnosen kennen, um dahinterblicken zu können. Vorwissen ist zugleich eine Beschränkung und eine Ressource. Es stellt kein von vornherein feststehendes Wissen dar, durch das das Subjekt kategorisiert werden kann; vielmehr ist es Wissen, das zum Feld beiträgt. Das klinische Wissen und die Beziehung, die entsteht, beeinflussen sich gegenseitig.

PatientInnen kommen oft mit einer vorab geprägten Denkweise und Erwartung zur Therapie, die sie sich in einem medizinischen Kontext angeeignet haben: Es gilt, die Probleme zu identifizieren und eine geeignete Behandlung zu finden. TherapeutInnen müssen diese bestehende Einstellung von PatientInnen respektieren, um ein Arbeitsbündnis aufbauen zu können.


Abb. 1: Das Bild zeigt drei mögliche diagnostische Perspektiven von GestalttherapeutInnen. Während des Prozesses der Diagnose-Stellung ist sich die TherapeutIn des spezifischen Fokus’ bewusst, den sie einnimmt, wenn sie auf die therapeutische Situation blickt. Der Fokus entsteht durch den Kontakt-Prozess.

Wir stimmen mit Wollants (2012, 12) überein, dass »die meisten GestalttherapeutInnen zwar das Verbindende des interaktionellen Feldes hervorheben, aber trotzdem immer noch der Ansicht sind, dass Krankheit eine Kategorie psychischer Störungen ist, die den Einzelnen betreffen.« (Übers.: A. J. &. R. K.)

Wir empfehlen, diese individualistische Perspektive gezielt einzunehmen, wenn es der PatientIn hilft. Auf diese Weise sind wir in der Lage, die Perspektive des Leidens des »Zwischen« (Francesetti / Gecele 2009) oder des Leidens der Situation (Wollants 2008) zu unterscheiden und voll zu nutzen. Einen Moment lang kann sich die GestalttherapeutIn die Freiheit nehmen, sich nicht überlegen zu müssen, ob sie sich auf die Beziehung, den Prozess der kreativen Anpassung, die Feld-Theorie-Perspektive oder die Ko-Kreation von Symptomen konzentrieren »sollte«. Diese Konzepte der gestalttherapeutischen Theorie sind die wertvollsten Leitlinien für GestalttherapeutInnen. Wenn wir sie jedoch verpflichtend und starr einsetzen, werden auch sie zu integrierten Introjekten. Wir können sie einen Augenblick lang ausklammern, um die Vorteile der symptomatischen Perspektive zu nutzen.

Die TherapeutIn kann bewusst eine symptomatische Perspektive einnehmen, um sich auf die Störungen und dysfunktionalen Aspekte in der Funktionsweise der PatientIn zu konzentrieren. Der Vorteil eines solchen Ansatzes ist, dass die TherapeutIn ein klares und deutliches Bild von den riskanten und einschränkenden Merkmalen bekommt, die das Leiden der PatientIn kennzeichnen (z. B. suizidale Tendenzen, abhängiges Verhalten, Traumatisierung). Metaphorisch gesagt erhält die TherapeutIn ein grundlegendes Bild des Gebiets, das sie mit der PatientIn bereisen wird. Es ist eine Landkarte, die die gefährlichen Schluchten und Sümpfe und andere Fallen beschreibt, mit denen man dort rechnen muss. Wie die Reise vonstatten geht und welche Ausrüstung dafür nötig ist, hängt vom jeweiligen Gebiet ab. Aus diesem Grund bietet diese Perspektive große Vorteile bei der Ersterhebung (siehe z. B. Brownell 2010a; Joyce / Sills 2006), beim »Kartieren« einer kritischen Situation (z. B. Trauma oder Alkoholabhängigkeit) oder bei der Beobachtung eines Risikos (siehe auch Kapitel 17, Einschätzung des Suizidrisikos).

Die TherapeutIn richtet ihr Augenmerk bewusst auf die Beobachtung von Symptomen.17 Aus der individualistischen Sicht der symptomatischen Perspektive beobachtet die TherapeutIn die individuelle Persönlichkeitsstruktur und die Kausalität in der Funktionsweise der PatientIn: Was hat zur Entstehung eines Symptoms geführt oder dazu beigetragen (Ätiogenese) und wie haben sich die Symptome entwickelt (Pathogenese)? Die TherapeutIn diagnostiziert die Symptome möglichst exakt und sucht kritisch und gründlich nach den Elementen, die für die PatientIn nicht auf gesunde Weise funktionieren. Dabei wendet sie ihr Wissen von der allgemeinen medizinischen Psychopathologie und von theoretischen Modellen des Gestaltansatzes (und möglicherweise von anderen psychotherapeutischen Systemen) an, um die Probleme der PatientIn zu erfassen und zu benennen. Sie formuliert Arbeitshypothesen, wie die Probleme entstanden sind und wie sie aufrechterhalten werden.

Das Risiko liegt hier in der möglichen Annahme der TherapeutIn, sich das einzige und endgültige Bild vom Leiden der PatientIn gemacht zu haben. Sie muss sich der Subjektivität und der Grenzen ihrer »Symptom«-Diagnose bewusst sein und ihre Gedanken auch durch den Dialog mit der PatientIn validieren. Folgende Fragen an die PatientIn könnten den Interventionen der TherapeutIn zugrunde liegen: »Was macht Ihnen am meisten Sorgen?«, »Welche Diagnosen haben Sie in der Vergangenheit erhalten und was denken Sie darüber?«, »Warum, meinen Sie, haben Sie diese Probleme? Wie verstehen Sie die Situation?«

Alice beginnt eine Therapie, weil sie sich Sorgen macht, dass sie möglicherweise alkoholabhängig ist. Im Dialog mit dem Therapeuten wird klar, dass Alice Alkohol trinkt, wenn sie große Anspannung und Angst verspürt. Wenn die Anspannung nicht so groß ist, schafft sie es auch mehrere Wochen ohne Alkohol. Alices Anspannung ist im letzten halben Jahr stetig gestiegen. Sie hat Angst, dass etwas Schlimmes mit ihrer geistigen Gesundheit passiert. Es gibt Momente, in denen sie schreckliche Angst davor hat, verrückt zu werden. Sie fürchtet, es könnte der Anfang einer psychotischen Erkrankung sein.

Der Therapeut akzeptiert die Perspektive, aus der die PatientIn ihr Leiden betrachtet, um ein Arbeitsbündnis mit ihr zu schließen. Er nimmt freiwillig die symptomatische Perspektive ein (es ist ihm bewusst, dass es sich dabei nur um eine von vielen möglichen Perspektiven handelt), weil es die Perspektive ist, die die PatientIn im Moment einnimmt. Durch eine Einschätzung des Leidens bekommt der Therapeut auch die Orientierung, die er braucht, um die spezifische Art von Unterstützung zu ermitteln, die die PatientIn braucht.

Der Therapeut und Alice »kartieren« gemeinsam Alice’ aktuelle Schwierigkeiten. Angst, Anspannung und Sorge scheinen für sie die drängendsten Probleme zu sein. Der Therapeut erklärt Alice, dass in Zeiten extremer Angst oft die Sorge aufkommt, verrückt zu werden, dass dies jedoch nicht zu einer psychotischen Erkrankung führt. Sie finden gemeinsam heraus, dass das Trinken von Alkohol die Anspannung reduziert und für sie überlebbar macht. Alice beruhigt sich sichtlich, sie kann ihre Ängste bezüglich der Psychose beiseitelegen. Gemeinsam mit dem Therapeuten fokussiert sie sich mehr auf ihr Erleben von Anspannung und Angst. Sie erkunden, wann die Anspannung auftaucht, wann sie sich zur Panik auswächst. Gleichzeitig beleuchten sie, unter welchen Umständen sie nachlässt und was Alice dabei hilft, weniger Anspannung zu verspüren.

3.6.2. Kontextuelle Perspektive: Fokus auf Rollen und Interaktionen

Im Dialog mit dem Therapeuten bemerkt Alice, dass ihre Anspannung mit der großen Verantwortung zusammenhängt, die sie für die Dinge übernimmt, die sie nicht beeinflussen kann. Sie sitzt zum Beispiel in einem Bus und verkrampft sich, wenn sie sieht, wie ein Fahrradfahrer das grüne Licht an einer Kreuzung erwischt. Sie stellt sich sofort all die Komplikationen vor, die auf der Kreuzung möglicherweise auftreten könnten. Gleichermaßen übernimmt sie auch Verantwortung für die Mitglieder ihrer Familie (ob ihr Ehemann pünktlich zur Arbeit kommt, welche Noten ihrer Tochter in der Schule bekommt…). Alice ist überzeugt, dass diese Verantwortung Teil ihrer Rolle als Mutter ist. Sie kümmert sich um ihren Ehemann und ihre Tochter und sie helfen ihr nicht im Haushalt. Wenn sie alleine zuhause ist, wird die Anspannung größer und eskaliert in einer Panik. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie mit Freunden in eine Weinbar geht, wird die Anspannung jedoch geringer (der Alkohol hilft auch hier). Wenn sie mit ihren Freunden zusammen ist, schüttelt sie für eine Weile das Bild ab, wie eine Mutter sich benehmen sollte.

Die Diagnose wird zu einem Pfad, auf dem die TherapeutIn die PatientIn begleitet und in dessen Verlauf das Erleben des Leidens erkannt, benannt und (mit-)geteilt wird. Das Erleben wird verortet und erhält eine Bedeutung. Von einer Definition, die mehr oder weniger unpassend und von außen zugewiesen erscheinen mag, z. B. »Panikattacke«, bewegen sich TherapeutIn und PatientIn auf eine gemeinsam erzählte Geschichte zu, durch die sich die Bedeutung und Relationalität eines erlebten Leidens herausbildet. In unserem Beispiel ändert der Therapeut freiwillig und bewusst den Fokus, als er die klinische Situation beobachtet. Er hilft der Patientin herauszufinden, in welchem Kontext ihre Schwierigkeiten auftreten. Der Therapeut verlässt die symptomatische Perspektive und betrachtet die Patientin und ihre Situation aus der kontextuellen Perspektive.18 Mit dieser Perspektive übernimmt der Therapeut eine systemische Sichtweise, die sich mit zirkulärer Kausalität beschäftigt. Die Symptome treten innerhalb von Systemen der Beziehungen auf, die die PatientIn zu anderen Menschen hat, wirken aber auch auf diese Systeme zurück. Eine Diagnose aus der kontextuellen Perspektive macht deutlich, wie die PatientIn in unterschiedlichen Systemen (der Ursprungsfamilie und der aktuellen Familie, dem Beruf usw.) in der Vergangenheit funktioniert hat und immer noch funktioniert. Sie bezeichnet die Rollen, die die Phänomenologie der PatientIn in ihren Beziehungen gespielt hat.

Eine Erörterung der kontextuellen Perspektive mag GestalttherapeutInnen überflüssig vorkommen, da es doch eine Feldtheorie gibt. Es ist jedoch wichtig, die beiden voneinander zu unterscheiden, um von beiden profitieren zu können.19 Zwischen der Beschreibung einer »Interaktion zwischen einem Menschen und der Welt« und eines »interaktionellen Mensch-Welt-Ganzen« (Wollants 2008) gibt es einen Unterschied. Aus der kontextuellen Perspektive kommt PatientIn, TherapeutIn und »Symptomen« eine Rolle in einem System zu. Aus der Feld-Theorie-Perspektive sind sie jedoch Funktionen des Felds. Wenn wir sagen: »Die PatientIn projiziert ihre Angst auf mich«, beschreiben wir die Situation aus der kontextuellen Perspektive, wir konzentrieren uns auf einzelne Elemente, die in einem System interagieren. Solch eine Beschreibung kann hilfreich sein, weil sie dem Erleben der TherapeutIn Bedeutung verleiht. Dennoch muss die TherapeutIn im Hinterkopf behalten, dass es auch eine Feld-Theorie-Perspektive gibt, aus der projizierte Angst eine Funktion des Feldes ist, das im Hier und Jetzt ko-kreiert wird. Das Symptom, die PatientIn und die TherapeutIn sind Teile eines Prozesses, in dessen Verlauf sich diese drei Elemente gegenseitig definieren.

Aus der kontextuellen Perspektive fragt die TherapeutIn: Welche Rolle spielt die Phänomenologie der PatientIn? Er erkundigt sich nach der Funktion, die Symptome in der persönlichen Geschichte der PatientIn erfüllt haben. Wie haben sie ihr gedient? Wovor haben sie sie geschützt? Welche Bedürfnisse haben sie befriedigt? Die TherapeutIn untersucht auch den Zweck, dem sie in den aktuellen Beziehungen der PatientIn dienen. Auf welche Weise stellt ein Symptom eine kreative Lösung für eine schwierige Situation dar und welche Einschränkungen bringt ein Symptom mit sich? Die TherapeutIn konzentriert sich auf die Dynamiken der Rollen und Interaktionen zwischen den Subjekten der Systeme, zu denen die PatientIn gehört.20

Die kontextuelle Perspektive auf die Diagnose betrachtet die inneren und äußeren Unterstützungsquellen der PatientIn. Für die TherapeutIn stellen die Symptome die bestmöglichen Überlebensstrategien dar, die der PatientIn bis jetzt zur Verfügung standen. Die TherapeutIn erkundet die Rolle eines speziellen Symptoms, fragt nach, was es aufrechterhält, und ob die PatientIn noch auf andere mögliche Rollen zurückgreifen kann. Die Kooperation zwischen der diagnostizierenden TherapeutIn und der PatientIn ist dialogisch, wenn sie gemeinsam die diagnostische Beschreibung aus der kontextuellen Perspektive heraus ko-kreieren. Die TherapeutIn könnte ihre Interventionen auf die folgenden Fragen stützen: »Wie hat Ihnen Ihr Leiden oder diese spezielle Art der Beziehungsaufnahme, die Sie beschrieben haben, in Ihrem Leben geholfen? Woher kommt das? Was trägt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt bei? Und um welchen Preis?«

3.6.3. Die Ko-Kreation-Perspektive: Fokus auf die Regularitäten der Feld-Organisation

Aus der ko-kreativen Perspektive diagnostiziert die TherapeutIn die aktuellen Prozesse, die an der Kontaktgrenze ablaufen. Sie sieht nicht das Individuum, sondern vielmehr Ereignisse im »Zwischen«. Sie sieht keine Kausalität (nicht einmal die zirkuläre), sondern das Miteinander-verbunden-Sein aller gegenseitiger Einflüsse (zu denen auch die diagnostizierende TherapeutIn gehört). Die TherapeutIn klassifiziert weder sich noch die PatientIn mit irgendwelchen Bezeichnungen. Sie konzentriert sich auf den fortlaufenden Prozess der Ko-Kreation und erstellt eine Diagnose der Situation (Wollants 2012).

Ein Mensch wird als der sich ständig verändernde Prozess innerhalb von Beziehungen betrachtet. Der Prozess des »Selfing« (Parlett 1991), bei dem man sich durch den Kontakt mit der Umwelt organisiert, weist bestimmte Gesetzmäßigkeiten auf, die bei jedem Individuum anders sind. Diese Gesetzmäßigkeiten der Feldorganisation schaffen individuelle Einzigartigkeit, die an der Kontaktgrenze mit der Umwelt nicht nur in jedem einzelnen Moment inszeniert werden, sondern das ganze Leben hindurch. Die Gesetzmäßigkeiten der Feldorganisation der PatientIn treffen auf die Gesetzmäßigkeiten der Feldorganisation der TherapeutIn. Das gemeinsame Feld organisiert sich als eine Art Tanz, der aus der Interaktion der zwei ursprünglichen Choreografien entsteht und in dem auch ein paar neue, einzigartige Schritte auftauchen können (Jacobs 2008).

Die Diagnose ist ein Prozess, wenn die TherapeutIn durch ihr Erleben in der Lage ist, Muster zu erkennen und dadurch Unterschiede festzustellen (Yontef 1993). Die TherapeutIn nutzt die Erkundung der therapeutischen Beziehung, um eine Karte zu erstellen, auf der die Muster der Feldformation erkennbar werden, die die Beziehungen der PatientIn aufweisen. Die TherapeutIn erkundet und »kartiert«, welche Art von Kontakt PatientIn und TherapeutIn ko-kreieren, wie der Kontakt verläuft und welchen Gesetzmäßigkeiten er folgt. Sie untersucht, welche Muster der Feldorganisation in der Beziehung zwischen PatientIn und TherapeutIn auftauchen, welche Muster aus anderen Beziehungen der PatientIn hier zum Leben erweckt werden, wie die beiden interagieren und welche neuen Möglichkeiten der Feldorganisation entstehen können. Die TherapeutIn fragt: »Wie ko-kreieren diese PatientIn und ich die aktuellen Phänomene der Felder im Hier und Jetzt, in denen wir uns gemeinsam aufhalten?«

Die Phänomene, die aus der symptomatischen Perspektive als »Symptome« und aus der kontextuellen Perspektive als eine Art der Kommunikation betrachtet wurden, werden nun auf eine ganz andere Weise beschrieben. Anstatt z. B. den Patienten als »depressiv« zu bezeichnen oder eine »Depression« als einen Appell an die Familie der PatientIn zu werten, fragt die TherapeutIn jetzt: »Wie sind wir, die PatientIn und ich, im Hier und Jetzt gemeinsam depressiv?« Die TherapeutIn erkundet ihren eigenen Beitrag zu der Situation, in der die »Symptome« auftreten. Sie ist auch neugierig, welches Potenzial die therapeutische Beziehung im Moment bietet und stellt sich die Frage: »Was will sich gerade entwickeln, in dieser Situation und diesem Moment?« (Wollants 2008, 63).

Die TherapeutIn erstellt die diagnostische Hypothese dialogisch, in Kooperation mit der PatientIn. Die therapeutische Intervention könnte sich auf folgende Fragen stützen: »Erkennen Sie die Beziehungsprobleme, die Ihnen in Ihrem Leben Schwierigkeiten machen, auch hier in der Therapie, in unserer Beziehung? Wie, denken Sie, trage ich dazu bei? Was mache ich, dass sich diese Probleme wiederholen? Wie ko-kreieren wir das gemeinsam? Und was brauchen Sie von mir? Was müsste in unserer Beziehung für Sie passieren?«

Während der nächsten Sitzungen achtet Alice immer sehr genau auf die Zeit und darauf, dass die Sitzungen pünktlich enden. Später untersuchen Alice und ihr Therapeut gemeinsam, wie sie hier Verantwortung für den gemeinsamen Raum in der therapeutischen Situation übernimmt. Der Therapeut teilt seine Achtsamkeit mit – er erkennt, dass es teilweise ganz bequem für ihn war, Alice auf die Zeit achten zu lassen. Und gleichzeitig erlebt er eine leichte Irritation, dass Alice manche seiner therapeutischen Kompetenzen übernimmt. Als sie sich gegenseitig von ihrem Erleben berichten, führt dieser Austausch der neuen Bewusstheit zu einem wertvollen Moment der Begegnung. Im Laufe der Therapie wird Alice bewusst, wie ihr üblicher Weg, in Beziehung zu treten, nicht nur zu ihrer Anspannung und Angst beiträgt, sondern auch zu ihrer Einsamkeit und einem allgemeinen Mangel an Bedeutung in ihrem Leben.

Die TherapeutIn ko-kreiert die Diagnose der PatientIn. Alles, was die TherapeutIn erlebt, denkt und macht, ist eine Funktion des Feldes. Während sie eine Diagnose stellt, verändert sie aktiv die therapeutische Beziehung. Dank einer diagnostischen Einschätzung aus der ko-kreativen Perspektive ist die TherapeutIn fähig, aus fixierten Mustern auszusteigen. Sie ist fähig, nicht innerhalb eines sich wiederholenden fixierten Musters der Feldorganisation auf die PatientIn zu reagieren, sondern vielmehr wissentlich einen anderen Weg zu suchen oder die Entstehung eines neuen Weges zu ermöglichen. Dies eröffnet einen Raum für Veränderungen im stereotypen Prozess der Feldorganisation. Tatsächlich besteht eines der Risiken der kontextuellen und der symptomatischen Perspektive, die PatientIn, ihre Geschichte und ihre Umwelt zu definieren, ohne sich bewusst zu sein, dass die TherapeutIn gleichzeitig zu einer Ko-Kreation des Leidens im Hier und Jetzt der Situation beiträgt.

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9783897975903
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