Kitabı oku: «Gestalttherapie in der klinischen Praxis», sayfa 9

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3. Extrinsische oder Landkartendiagnose4
3.1 Müssen wir eine Diagnose stellen?

Der Therapeut braucht seine Konzeption, um Kurs zu halten und um zu wissen, in welche Richtung er schauen soll. Der erworbene Habitus bildet hier den Hintergrund für diese Kunst, wie bei jeder anderen Kunst auch: Wie nutzt man diese Abstraktion (und daher diese Fixierung), damit man die gegenwärtige Situation – und vor allem den gegenwärtigen Prozess – nicht aus den Augen verliert? Und wie – und dies ist ein besonderes Problem, das die Therapie mit der Pädagogik und der Politik gemein hat – vermeidet man es, eine Norm durchzusetzen, statt dem anderen zu helfen, sein Potenzial zu entwickeln? (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 310)

In ihrer theoretischen Grundlage und historischen und klinischen Entwicklung betrachtet die Gestalttherapie die therapeutische Beziehung als einen Kontaktraum. Durch Kontakt lassen Subjekte eine authentische, einzigartige und ko-kreierte Beziehung entstehen, die sie wiederum formt und ausmacht. Das Ziel der therapeutischen Beziehung ist es, in diesem Modell, die Kontaktintentionalität5 zu unterstützen, um gemeinsam eine neue nährende Erfahrung zu schaffen, an der die PatientIn wachsen kann. Sie wird auf keine Weise objektiviert. Objektivierung würde zum irreparablen Verlust der Anwesenheit des/der anderen führen und wäre der Richtung, in die sich die Gestalttherapie bewegt, diametral entgegengesetzt. Vor diesem beziehungsorientierten Horizont wird die Diagnose zum Problem.

Das Misstrauen, das GestalttherapeutInnen Diagnosen gegenüber hegen, ist ein deutlicher Hinweis auf das Risiko, Experten und Expertinnen für das Leben unserer PatientInnen zu werden. Die Diagnostik birgt das Risiko, unser Bild der PatientIn zu behandeln und der PatientIn nicht zu begegnen. Dennoch ist es wichtig, uns klarzumachen, dass wir gar nicht umhinkönnen, eine Art von Diagnose zu stellen. Jede Erfahrung ist im Moment ihrer Geburt willkürlich, austauschbar, amorph und chaotisch (Melnick / Nevis 1998). Es ist eine grundlegende menschliche Neigung, jede Erfahrung in eine bedeutsame Struktur zu organisieren. Wir organisieren unsere Erfahrung der Anwesenheit anderer Menschen, wir geben dieser Erfahrung einen Namen, wir geben ihr eine Struktur.6 Wir benennen unsere Umgebung ständig. Als TherapeutIn müssen wir dabei jedoch den Nutzen für die PatientIn im Auge behalten und den Prozess der Diagnosestellung fortlaufend reflektieren.

Wenn eine TherapeutIn auf eine PatientIn trifft, begegnet sie einer Unmenge komplexer Informationen. Diese Informationen stammen aus unterschiedlichen Quellen: die Sinne der TherapeutIn, ihre eigenen emotionalen und körperlichen Erfahrungen, an die sie sich in der Sitzung erinnert, und theoretische Konzepte und Annahmen, die sie im Laufe ihrer Ausbildung integriert hat. Um all diese Information zu verarbeiten braucht eine TherapeutIn Filter und Konzepte, die ihr helfen, sie so zu ordnen, dass sie eine Bedeutung vermitteln. Dies ist notwendig für eine gute Therapie, für einen Kontakt, der heilend und nicht retraumatisierend ist, für die Bestimmung realistischer Behandlungsziele und -methoden und auch als Grundlage für eine verantwortungsvolle Kreativität seitens der TherapeutIn.

Es ist unvermeidlich, dass GestalttherapeutInnen, die in einem klinischen Setting arbeiten (z. B. in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses, in der Psychiatrie in der ambulanten psychiatrischen Versorgung) lernen, sich dem Leiden ihrer PatientInnen aus mindestens zwei Richtungen zu nähern. Einerseits ist es für GestalttherapeutInnen selbstverständlich, von der beziehungsorientierten, dialogischen Feldperspektive aus zu arbeiten. Wenn sie jedoch ausschließlich von diesem Standpunkt aus ansetzen, werden sie schwerlich eine gemeinsame Sprache mit ihren Kollegen finden, die ihre Ausbildung in einem medizinischen System absolviert haben. Es wird ihnen vielleicht auch nicht gelingen, ein Arbeitsbündnis mit ihren Patienten und PatientInnen zu entwickeln, da sie mit Erwartungen zu ihnen kommen, die vom medizinischen Paradigma beeinflusst sind. GestalttherapeutInnen in der klinischen Praxis müssen daher auch mit der Perspektive der aktuellen psychiatrischen Diagnosesysteme und psychopathologischen Theorien vertraut sein. Die medizinische und die gestalttherapeutische Perspektive repräsentieren Polaritäten in der täglichen Arbeit von GestalttherapeutInnen in der klinischen Praxis, die in der Spannung zwischen diesen beiden Polen ihren Platz finden müssen. Wenn sich eine der Perspektiven als Figur herausbilden, die andere in den Hintergrund treten und sie ihre Positionen je nach Situation tauschen können, bereichern sie sich gegenseitig.

Die Diagnose hilft der TherapeutIn, sich zu orientieren und bewusst zwischen therapeutischen Arbeitsweisen mit unterschiedlichen Patienten zu unterscheiden. GestalttherapeutInnen sollten nicht stagnieren und sich nur auf die Beobachtung der gegenwärtigen Interaktionen konzentrieren, sondern auch fähig sind, Arbeitshypothesen für Langzeit- und Kurzzeittherapien aufzustellen (Mackewn 1999).

3.2. Geschichte und Kontext der psychiatrischen Diagnose

Diagnose kommt vom Griechischen dia-gnosi, was »wissen durch« bedeutet (Cortelazzo / Zolli 1983). Der Begriff selbst deutet also schon an, dass es nicht möglich ist, auf Diagnosen zu verzichten, zumindest im weitesten Sinne. Im letzten Jahrhundert haben uns die Philosophie der Wissenschaft und die Hermeneutik gelehrt, dass es kein Wissen geben kann, das frei von allen Filtern und allem Vorwissen ist. Wenn wir nur durch wissen können und es keine gnosis ohne dia gibt, stellt sich die Frage, auf welche dia (auf welche Vorurteile, auf welche Annahmen) wir uns stützen sollten (Salonia 1992). In unserer Gesellschaft ist das medizinische Modell die einflussreichste dia für die Diagnose.

Die moderne Psychiatrie wurde aus dem Versuch heraus geboren, psychopathologische Phänomene zu benennen und zu klassifizieren. Durch seine klinische Unterscheidung zwischen Dementia Praecox und manisch-depressiver Psychose (Kraepelin 1903) hat Kraepelin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen großen Fortschritt für die Psychiatrie seiner Zeit erzielt. Er glaubte, »natürliche Krankheitseinheiten« bestimmen zu können, wie etwa eine Lungenentzündung oder einen Herzinfarkt. Dadurch löste er psychische Leiden aus den Wirren moralischer Schuld und platzierte sie voll und ganz im Feld der Medizin. Auf diese Weise wurde eine Landkarte geschaffen, die klinischen Praktikern und PraktikerInnen bei der Orientierung auf ihrem Weg durch die chaotische Welt des Wahnsinns helfen sollte.7

Die psychiatrischen Diagnosesysteme, die in der Folge entstanden, folgten dem Beispiel der somatischen Medizin. Sie versuchten, Geisteskrankheiten als diagnostische Einheiten abzugrenzen, die eine erkennbare Ursache und einen vorhersehbaren Verlauf und Prognose hatten. In der psychiatrischen Diagnose benutzte man einen inferentiellen Ansatz, der über die beobachtbaren Phänomene hinausgeht und von ihnen auf mögliche Ursachen und Verläufe schließt (z. B. die Unterscheidung zwischen »endogener« und »reaktiver« Depression). Dieser Ansatz basierte jedoch auf Wunschdenken und erwies sich als Illusion. Wir kennen die Ätiopathologie (Ursachen und Mechanismen, die zum Entstehen einer Krankheit führen) einer absoluten Mehrheit der geistigen Störungen nicht (Smolik 2002).

Ab den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts verwendete man bei psychiatrischen Diagnosen einen empirischeren Ansatz, der rein auf beobachtbaren Phänomenen basierte (z. B. einfach depressive Symptome zu diagnostizieren, ohne über ihre Ursachen zu spekulieren). Zusätzlich begannen die Diagnosesysteme, nicht nur die psychopathologischen Symptome zu beschreiben. Weitere diagnostische Achsen wurden eingeschlossen, die auch die Persönlichkeit, den Lebensstil, den Grad der Einschränkung und das Umfeld einer PatientIn abdeckten. Heute haben wir überwiegend zwei psychiatrische Diagnosesysteme (DSM IV, ICD 10). Diese präsentieren sorgfältige, doch willkürliche Entwürfe, deren Aufgabe es ist, den Weg zu vereinfachen, indem man durch die Verwendung einer Landkarte kommuniziert, die von allen in der klinischen Praxis Arbeitenden geteilt wird.

3.3 Die Diagnose in der Psychotherapie

PsychotherapeutInnen räumen ein, dass Landkarten die unvermeidbare Realität der psychotherapeutischen Arbeit in unserem kulturellen Kontext sind. Die Beziehung zwischen Psychotherapie und Diagnose ist jedoch komplex (Bartuska et al. 2008). Im Bereich der Psychotherapie bilden sich bis heute sehr unterschiedliche Positionen heraus. Es gibt deutliche Bemühungen der verschiedenen psychotherapeutischen Ansätze, Methoden zu erarbeiten, die die Einschätzung von individuellen PatientInnen ermöglichen und dadurch die klinische psychotherapeutische Behandlung dieser PatientInnen vereinfachen soll. Der Versuch, ein psychotherapeutisches Diagnosesystem zu erstellen (siehe z. B. Bartuska et al. 2008) basiert auf folgenden Grundfragen (Pritz 2008): Wie können wir diagnostische Prozesse in der Psychotherapie beschreiben und ist es möglich, verschiedene Diagnosemethoden, die von unterschiedlichen psychotherapeutischen Systemen verwendet werden, zu beschreiben und so den Boden für eine gemeinsame diagnostische Praxis zu bereiten?8

Es gibt unterschiedliche Arten von psychotherapeutischen Diagnosesystemen. Der gestalttherapeutische Ansatz als Teil von humanistischen und erlebnisorientierten Traditionen sieht psychotherapeutische Diagnosen nicht als fixes System von Schubladen, in die PatientInnen einsortiert werden sollen, sondern vielmehr als ein System aus Hinweisen, das der TherapeutIn hilft, sich im therapeutischen Prozess ständig neu zu orientieren und eine hilfreiche Landkarte der therapeutischen Situation zu entwerfen. Die TherapeutIn erstellt diese Landkarte in dem vollen Bewusstsein, dass sie nur eine Vereinfachung der Realität darstellt und dass sie selbst Teil dieser Landkarte ist. Die TherapeutIn befindet sich in der Beziehung mit der PatientIn, beobachtet gleichzeitig die unablässigen Veränderungen eines einzigartigen therapeutischen Prozesses und passt in der Folge ihre Beschreibung einer Situation in Kooperation mit der PatientIn an.

3.4. Der gestalttherapeutische Ansatz und Diagnose

Der reflektierte, kritische und integrierte Einsatz aktueller Nosologien kann ein Beitrag zur Therapie sein. Es ist Sache der GestalttherapeutIn, diese Welt und Tradition geschickt in die Beziehung einfließen zu lassen und nicht einfach objektivierende Raster »auszuleihen«, die der Gestalttherapie fremd sind. Hier sehen wir uns dem Paradox des hermeneutischen Zirkels gegenüber: ein Kreis, in dem das Wissen über Diagnosen und Psychopathologie gleichzeitig eine notwendige Voraussetzung und ein unüberwindbares Hindernis für das Verständnis des Leidens darstellen (Gadamer 1960, 312; Spagnuolo Lobb 2001c). Durch die Bewusstheit dieser Zirkularität wird aus dem diagnostischen Prozess ein beziehungsorientierter Prozess.

Aus gestalttherapeutischer Sicht ist eine Diagnose der Prozess, die sich herausbildende Bedeutung der komplexen und veränderlichen klinischen Situation zu benennen. Eine gestalttherapeutische Diagnose zielt nicht auf feste Schlussfolgerungen ab (Brownell 2010a), sondern dient als flexible und momentane Arbeitshypothese (Höll 2008), die es der TherapeutIn ermöglicht, sich in einer klinischen Situation zu orientieren und zu überlegen, welche therapeutischen Wege angemessen und passend sind. Eine Diagnose ist dann am nützlichsten, wenn sie deskriptiv, phänomenologisch und flexibel gehalten wird (Joyce / Sills 2006). Durch den Dialog mit der PatientIn ko-kreiert und korrigiert die GestalttherapeutIn die Diagnose immer wieder. Die TherapeutIn, die eine Diagnose formuliert, repräsentiert ein Element, das untrennbar mit dem gegenwärtigen Beziehungsnetz verbunden ist. Daher sind die Phänomene der Interaktion zwischen TherapeutIn und PatientIn wichtige Objekte des explorativen Interesses der TherapeutIn.

Im Laufe der Geschichte haben GestalttherapeutInnen Diagnosen entweder umgangen9 oder versucht, eine spezifisch gestalttherapeutische Version des Diagnosesystems zu schaffen (Brownell 2010a). Der gestalttherapeutische Ansatz stand traditionellerweise gegen die objektivierende, pathologisierende und depersonalisierende Etikettierung von Menschen (Perls / Hefferline / Goodman 2006), wie sie in der Medizin und der frühen Psychoanalyse weit verbreitet war. Auf der Grundlage der Verbindung der Feldphänomene und der Einzigartigkeit der Lebensgeschichte jedes Menschen wurden unterschiedliche theoretische Schlussfolgerungen hervorgehoben.10

Andererseits ergab sich im gestalttherapeutischen Ansatz immer auch die Notwendigkeit, sich mit Typologien zu befassen, um der TherapeutIn eine Orientierungshilfe zu geben und um die Art der Intervention zu bestimmen (Perls / Hefferline / Goodman 1951, 2006). Diagnosen lassen sich nicht vermeiden, und so steht man vor der Wahl, sie unachtsam und nachlässig oder durchdacht und achtsam zu stellen (Yontef 1993). GestalttherapeutInnen sind sich des Risikos bewusst, dass sie statt der PatientIn möglicherweise die Diagnose behandeln und dass sich ihr Ansatz depersonalisierend und anti-therapeutisch auswirken kann. Sie sind sich auch darüber im Klaren, dass eine Ablehnung von Diagnosen und Differenzen zwischen Menschen einen ähnlichen Effekt haben können (Delisle 1991).

Obwohl klinische und diagnostische Modelle mit einem gemeinsamen gestalttherapeutischen Unterbau erst noch entwickelt werden müssen, gab es bereits zahlreiche Versuche, ein Diagnosesystem zu erstellen (z. B. Tobin 1982; Delisle 1991; Swanson / Lichtenberg 1998; Melnick / Nevis 1998; Baalen 1999; Fuhr / Sreckovic / Gremmler-Fuhr 2000; Dreitzel 2004; Siegel 2007; Francesetti / Gecele 2009; Dreitzel 2010, Schübel 2011; Roubal 2012). Diese Autoren geben sich große Mühe, sowohl Begriffe aus der allgemeinen Psychopathologie als auch der Gestalttherapie zu verwenden. Dies ist keine leichte Aufgabe, da die psychopathologische und die gestalttherapeutische Terminologie unterschiedlichen Paradigmen entspringen. Viele Autoren konzentrieren sich auf die Verbindung zwischen Leiden und der Art, in der der Kontakt unterbrochen wird, wie sie im letzten Teil von Perls / Hefferline / Goodman (1951, 2006) kurz angesprochen wird. Solche Analysen bieten einen Leitfaden für den therapeutischen Prozess und verschiedene Interpretationsmöglichkeiten (Salonia 1989b, 1989c; Müller et al. 1989; Spagnuolo Lobb 2003a).

Die gestalttherapeutische Diagnose konzentriert sich auf die Art des In-Kontakt-Tretens zwischen der PatientIn und ihrer Umwelt und beschreibt die Prozesse, die an der Kontaktgrenze11 ablaufen. Bei einem gesunden Kontakt gibt es eine flüssige Kontaktsequenz, eine Abfolge von Kontaktnahme und Rückzug aus dem Kontakt. Wenn diese Prozesse blockiert sind, wird der Kontakt als ungesund angesehen (Korb / Gorrel / Van de Riet 1989). Die Kontaktsequenz kann ein Abfallen der Intentionalität oder Verluste von Spontanität aufweisen, die ursprünglich als Kontaktunterbrechungen oder Kontaktstörungen bezeichnet wurden (Perls / Hefferline / Goodman 1951, 2006) und die man heute oft als Kontaktmodifikationen darstellt (siehe Kapitel 23 über Angst). Die Gestalttherapie untersucht, wie und wann sie auftreten können. Sie lehrt uns, diese Kontaktmodifikationen wahrzunehmen, wenn sie rigide angewandt werden und eine breite Palette von Kontaktmöglichkeiten anzubieten, um die Beziehung zu unterstützen (Perls / Hefferline / Goodman 1951, 2006; Salonia 1989c; Spagnuolo Lobb 1990; Robine 2006a).

Eine gestalttherapeutische Auslegung eines Beziehungsleidens hat verschiedene theoretische Instrumente an der Hand:

1. Figur/Hintergrund-Dynamik,

2. das Selbst und seine Funktionen: Ich-, Es- und Persönlichkeitsfunktion,

3. Intentionalität und die Unterbrechung des Kontakts (Kontaktstile und Kontaktsequenz),

4. Abschnitte im Lebenszyklus,

5. existenzielle und spirituelle Fragen,

6. Hintergrund und Geschichte der Beziehung (Familie, Paar, Gesellschaft),

7. der nächste Schritt im Kontakt und in der Beziehung: Auf welches beziehungsorientierte Erleben bewegt sich das Subjekt zu?

Hier ist jedoch Vorsicht angesagt. Wenn partielle Modelle aus der Gestalttherapie für die Diagnosestellung verwendet werden (z. B. die Kontaktsequenz und die Kontaktstile), besteht das Risiko, dass der Versuch, die klinische Situation zu erfassen, den theoretischen Grundlagen der Gestalttherapie zuwiderläuft. Es macht z. B. kaum einen Unterschied, ob man eine PatientIn als »depressiv« oder als »Introjektor« bezeichnet. In beiden Fällen gibt man ihr die Bezeichnung »dort« und ignoriert den wesentlichen Beitrag des gestalttherapeutischen Ansatzes, nämlich die Offenheit gegenüber Begegnungen und das Vertrauen auf den Prozess. Brownell (2010a, 190) stellt die Frage: »Wie sprechen wir über die PatientIn, ohne der PatientIn zu schaden?«

Es ist die phänomenologische Realität des Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung, des Kontakts zwischen TherapeutIn und PatientIn, die die Grundlage der gestalttherapeutischen diagnostischen Methodologie darstellt. Diese Realität ist der Bezugsrahmen, auf den die TherapeutIn bei der Diagnosestellung zurückgreifen sollte. Modelle müssen auf dieser Realität aufbauen, um eindeutig zum gestalttherapeutischen Ansatz zu gehören und keine Mischung aus anderen Theorien zu sein, die, so stichhaltig sie auch sein mögen, auf anderen epistemologischen Prinzipien basieren (Spagnuolo Lobb 2001a, 90). In der Gestalttherapie ist eine Diagnose ein Versuch, Beziehungsleiden zu erfassen, ohne es als Charakteristikum eines Individuums zu betrachten.

Konzeptuelle gestalttherapeutische Werkzeuge ermöglichen es uns, das Erleben hervorzuheben, zu benennen und zu kommunizieren. Auf diese Weise wird das Erleben der PatientIn übersetzt – wenngleich es unweigerlich auch verraten wird. Dieses Paradoxon ist dennoch hilfreich: Die Wahrheit unserer Worte – und Diagnosen – beruht auf der Tatsache, dass sie durch das Kontakterleben ko-konstruiert werden. Das wird in der Gestalttherapie betont. Durch die Diagnose, die sich daraus ergibt, wird nichts über den Menschen ausgesagt; sie betrifft die Beziehungsphänomene, die ko-kreiert wurden, und repräsentiert den Ausdruck und die Bewertung der Beziehung, nicht des Individuums. Obwohl es schwierig sein mag, sich im Rahmen innerhalb eines beziehungsorientierten Paradigmas zu bewegen, ist dies der Horizont, auf den wir uns entschieden zubewegen sollten.

3.5. Wie eine extrinsische Diagnose entsteht

Die TherapeutIn hat die Fähigkeit, im Laufe des therapeutischen Prozesses ihren Fokus zu verlagern. In einem Moment konzentriert sie sich auf die Beziehung mit der PatientIn und arbeitet auf einen vollständigen Kontakt hin. Dann kann sie den Fokus auf den »Dritten« verlagern (in diesem Fall eine Beschreibung der Bedeutung der Situation) und zielt nun auf Orientierung und Verstehen ab. Selbst bei der Diagnosestellung kann die TherapeutIn nicht außerhalb der Beziehung zu der PatientIn sein. Wenn sie jedoch eine extrinsische Diagnose stellt, ist es ihre Intention, sich vorübergehend zurückzuziehen, um sich zu orientieren.12 Die TherapeutIn nimmt sich vorübergehend und bewusst Zeit, damit sich ihre Achtsamkeit organisieren kann und sie deren Bedeutung benennen kann.13 Auf diese Weise stellt sie eine extrinsische Diagnose: Sie zeichnet eine Landkarte vom Gebiet der klinischen Situation.14

Die PatientIn und die TherapeutIn durchwandern das komplexe Gebiet der klinischen Situation nicht alleine. Da ist auch noch ein drittes Element: die Landkarte, die verfügbar ist, wenn sie zur Orientierung gebraucht wird, und die dafür sorgt, dass sich TherapeutIn und PatientIn nicht im Kreis drehen. Die Landkarte entsteht unterwegs. Die TherapeutIn markiert viele verschiedene Zeichen und Symbole auf der Landkarte. Sie stammen aus zwei Quellen: aus der Beobachtung der PatientIn und ihrem Kontext und aus der Achtsamkeit der TherapeutIn.

Phänomenologische Beobachtung liefert Informationen über die PatientIn: ihr Aussehen, ihre körperliche Struktur, ihr Ausdruck, wie sie sich kleidet, wie sie spricht usw. Weitere Informationen liefern die Anamnesedaten, entweder von der PatientIn selbst oder aus anderen Quellen (medizinische Berichte von der HausärztIn, von der PsychiaterIn oder von Verwandten der PatientIn). Die TherapeutIn erfährt vieles über die Familie der PatientIn, über die Geschichte ähnlicher Probleme bei ihren Verwandten, über die Qualität der Beziehungen innerhalb der Familie, über die frühere und aktuelle soziale Situation der PatientIn, über bestehende Beziehungen, über die Entwicklung ihres Leidens, über Behandlungen, denen sie sich bereits unterzogen hat usw. All diese Daten stellen eine der Quellen dar, mit deren Hilfe eine Diagnose als eine Arbeitshypothese formuliert wird. GestalttherapeutInnen sollten über genügend klinische Erfahrung verfügen, um die phänomenologische Beobachtung bewerten und Anzeichen eines schweren Leidens bei der PatientIn erkennen zu können (depressiv, psychotisch, abhängig usw.).

TherapeutIn und PatientIn tauschen mehr aus als nur Informationen. Sie reagieren aufeinander und wiederholen weitgehend ihre gewohnten Muster des In-Beziehung-Tretens. Dabei handelt es sich um eine notwendige Phase im therapeutischen Prozess, für die sich die TherapeutIn nicht zu kritisieren braucht. Im Gegenteil: Sie erlebt persönlich, wie das Beziehungsfeld der PatientIn üblicherweise organisiert ist und wie es in ihrer Anwesenheit erneut durchgespielt wird. Alles, was die TherapeutIn erfährt und was sie tut, ist eine Funktion des Feldes und kann als diagnostische Information verwertet werden. Die TherapeutIn beobachtet interessiert, was ihr im Kontakt mit der Patientin passiert, und nutzt ihre Achtsamkeit (eigene Gefühle, Gedanken, körperliche Wahrnehmungen und Impulse im Beisein der PatientIn) als Informationsquelle.

Die TherapeutIn befindet sich ununterbrochen in Beziehung mit der PatientIn, doch der Fokus ihrer Arbeit verändert sich. Sie konzentriert sich entweder auf das In-Beziehung-Sein und lässt sich vom intrinsischen Diagnoseprozess leiten (siehe unten in diesem Kapitel). Oder sie fokussiert sich auf den/die Dritte(n), eine extrinsische Diagnose, einen Supervisor usw. (siehe auch das Kapitel über Psychopathologie).15 Wenn sie sich auf den/die Dritte(n) konzentriert, nutzt die TherapeutIn all die Informationen, die sie einerseits aus der Beobachtung der PatientIn und ihres Kontextes und andererseits aus ihrer eigenen Achtsamkeit abgeleitet hat. Sie wartet ab, bis sich die Informationen zu einem bedeutungsvollen großen Ganzen organisieren und gibt ihm einen Namen. Auf diese Weise stellt sie eine extrinsische Diagnose, die ihr hilft, aus den sich wiederholenden fixen Mustern der Feldorganisation auszusteigen und Wege zu finden, einen gesunden Kontakt zu unterstützen. Auf diese Weise wird die Diagnose zu einer therapeutischen Chance (Baalen 1999).

Paul ist ein 50-jähriger Mann mit einer langen Geschichte psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung. Er befindet sich in einer Langzeittherapie und nimmt Antidepressiva und Anxiolytika. Er kommt nun zu einer Sitzung und berichtet, dass sich sein Zustand deutlich verschlechtert habe, es gehe ihm sehr schlecht. Er hat das Gefühl, dass ihm alles unwichtig ist, er fühlt nur eine große Leere, und auch Suizidgedanken tauchen auf. Mit ihm erlebt der Therapeut Schwere, Hilflosigkeit und eine Art von Irritation, ein Gefühl wie »Oh nein, es ist wieder da!« Als der Therapeut sich seines Erlebens bewusst wird, sieht er, dass es ihm wertvolle Informationen liefert. Ja, er hat diesen Zustand mit dem Patienten schon einige Male erlebt. Das letzte Mal war vor ungefähr einem Jahr. In diesem Moment sammelt der Therapeut die Information, die ihm seine gegenwärtige Achtsamkeit, seine lange Erfahrung mit dem Patienten und seine aktuelle Beobachtung des Patienten liefern. Eine psychiatrische Kategorie einer rezidivierenden, saisonal bedingten Depression kommt ihm in den Sinn. Er überlegt, was er darüber weiß, und wägt ab, wie relevant dieses Wissen für die aktuelle Situation mit dem Patienten ist. Er erinnert sich, was ihm in ähnlichen Situationen in der Vergangenheit geholfen hat: Ansprüche und Erwartungen an sich selbst und den Patienten auf ein Minimum herunterzuschrauben, die Situation mit einem Psychiaterkollegen zu diskutieren; und vor allem dranzubleiben, weiter in Kontakt mit dem Patienten zu sein. Eine depressive Phase hört auch irgendwann wieder auf!

Eine extrinsische Diagnose hat ihm hier als Anker gedient, als »Dritter« in seiner Beziehung zu dem Patienten. Sie hat dem Therapeuten geholfen, ruhig zu werden und geerdet und konzentriert zu bleiben. Er kann wieder voll anwesend und für einen guten Kontakt mit dem Patienten verfügbar sein.

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