Kitabı oku: «Gestalttherapie in der klinischen Praxis», sayfa 14
6. Schlussfolgerung
Wenn GestalttherapeutInnen mit psychopathologischem Leiden konfrontiert sind, müssen sie das, was sie bei der KlientIn sehen, hören und fühlen in eine Landkarte umsetzen, die ihr Verständnis erleichtert, wie die KlientIn ihr Erleben im aktuellen Phänomen entwickelt hat. Wir brauchen eine Theorie, um die Entwicklung der vorherigen Kontakte im Hier-und-Jetzt zu verstehen. Um dies zu erreichen, müssen wir die Idee der Entwicklungsphasen ablegen und über die Entwicklung von Bereichen nachdenken, Kontaktfähigkeiten, die sich während des gesamten Lebens autonom entwickeln und als momentane Gestalt in der therapeutischen Situation auftauchen. Ich habe hier eine Landkarte der polyphonen Entwicklung von Bereichen gezeichnet, die es GestalttherapeutInnen ermöglicht, sich zu orientieren, indem sie die verschiedenen Verflechtungen der unterschiedlichen Bereiche im Hier-und-Jetzt des therapeutischen Kontakts erkennen. Auf diese Weise können sie die Kontaktintentionalität, das Motiv des Hilfegesuchs der PatientIn, besser unterstützen.
Beim körperlichen Ansatz in der Gestalttherapie ersetzt das Konzept der Beziehungsmuster der Bewegung (Frank 2005) in gewisser Weise das, was das Konzept des Unbewussten für die Psychoanalyse ist. Die Suche nach dem unbewussten Impuls, der das Leben für soziale Beziehungen konditioniert, wird durch die phänomenologische Beobachtung ersetzt, wie die PatientIn ihre eigenen Muster konstruiert, nach denen sie sich Anderen annähert oder sich von ihnen entfernt. Auf diese Art wird das anatomische Wissen in die Bewusstheit einer Erfahrung in fieri10 integriert: Kurz gesagt geht es dabei um phänomenologischen Realismus, es geht nicht darum, den Konflikt zwischen den Ansprüchen einer erwachsenen Zivilisation und der urtümlich-wilden Spontaneität eines Kindes zu übersetzen.
Widerstände [werden] in der üblichen Charakteranalyse »angegriffen«, die »Abwehrmechanismen« werden aufgelöst usw. Wenn die Bewußtheit dagegen schöpferisch ist, dann werden eben diese Widerstände und Abwehrmechanismen … als aktive Ausdrucksformen der Vitalität angesehen … (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 51)
Das ist der Schlüssel zur Arbeit mit der Tiefe der Oberfläche, mit den körperlichen Prozessen, die im Hier-und-Jetzt den therapeutischen Kontakt bedingen: Es hat einen Grund, dass die körperliche Empfindung der PatientIn in der Beziehung besteht. Und das Gefühl, in diesem gutgemeinten Prozess unterstützt zu werden, macht es der PatientIn im Kontakt mit der TherapeutIn möglich, die körperliche Anspannung zu lösen und das Auftauchen von Bewusstheit, der Unmittelbarkeit der Sinne, der spontanen Gefühle zuzulassen. Das alte Konzept von Übertragung und Gegenübertragung kann auch durch die TherapeutIn als »an der Grenze sein« neu definiert werden: Die dichotome Mentalität, nach der die TherapeutIn den Erfahrungen der PatientIn gegenüber »neutral« bleiben muss, kann so völlig überwunden werden. Die TherapeutIn-/PatientIn-Dyade reguliert sich in dem Setting selbst und die TherapeutIn hat gelernt, dass ihre Gefühle zu diesem Feld gehören und dass sie sie für therapeutische Zwecke nutzen kann, anstatt sie als Hindernisse für die Behandlung zu betrachten.
Wenn wir dieser Perspektive in der Psychotherapie einnehmen, können wir sogar den schwersten psychischen Störungen begegnen, die heutzutage immer weiter verbreitet sind und bei denen die primäre Beziehung zwischen Körper, Geist und Umwelt eine grundlegende Rolle spielt.
Kommentar
Ruella Frank
In ihrem Kapitel stellt Margherita Spagnuolo Lobb einen wichtigen Bereich zur Diskussion, der vor der Mitte der 1980er für GestalttherapeutInnen mehr oder weniger »verboten« war. Die Zeiten – und die Gestalttherapie – haben sich verändert und Spagnuolo Lobb ist eine der EntdeckerInnen in diesem neu eröffneten Territorium. Die Abhandlung, die sie hier präsentiert, stellt einige ihrer Forschungsergebnisse vor. Lassen Sie mich kurz die wichtigsten Punkte in diesem Kapitel zusammenfassen und als in diesem Kapitel erwähnte Forscherkollegin kommentieren, um hoffentlich noch mehr Relevantes zu diesem Thema beizutragen.
Das Herzstück von Spagnuolo Lobbs Theorie ist ihr Konzept der polyphonen Entwicklung von Bereichen. »… das Konzept der Bereiche [geht] von klar differenzierten Kompetenzen aus. Sie entwickeln sich im Laufe des gesamten Lebens kontinuierlich weiter und interagieren, was die Harmonie (wir könnten auch sagen: die Gestalt) der aktuellen Kompetenzen eines Menschen fördert.« Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass die Art zu Sein von Kleinkindern und Kindern nicht primär auf die Befriedigung von Bedürfnissen abzielt (was einer individualistischen Perspektive entspräche), sondern vielmehr darauf, Bedeutung mit dem/der Anderen zu schaffen (eine beziehungsorientierte Perspektive). Und ich teile die Ansicht, dass die Entwicklung keine Frage von sequentiell-phasisch ablaufenden Erfahrungen ist, sondern eher ein Phänomen von Fähigkeiten, die mit der Zeit – nicht unabhängig voneinander, sondern als eine Gesamterfahrung – eine größere Komplexität entwickeln. Als Beziehungsfähigkeit bleibt jeder Bereich im Hintergrund, bis er auf unterschiedliche Weise und mit verschiedenen Fähigkeiten, alles in Interaktion mit dem/der Anderen, abgerufen wird. Die Bereiche im Rahmen einer klinischen Behandlung zu beobachten, bedeutet nicht, sie einer bestimmten zeitlichen Entwicklungsphase zuzuordnen, was nicht unserer gegenwartszentrierten, phänomenologischen Theorie entspräche, sondern vielmehr zu verstehen, »wie die aktuellen Fähigkeiten der PatientIn zu projizieren, zu retroflektieren usw. (die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben) sich zu einer Gestalt kombinieren, die jetzt von dem »In-Therapie-Sein« der PatientIn repräsentiert wird.« Spagnuolo Lobb integriert hier mühelos ihre Idee der sich entwickelnden Bereiche in unseren theoretischen gestalttherapeutischen Bezugsrahmen und zeigt, wie die Nachwirkungen von früheren Kontakterfahrungen – die historischen und verkörperten Beziehungsthemen – in der Gegenwart existieren und an der Kontaktgrenze klinisch erforscht werden können.
Doch ich würde gerne genauer wissen, wie sich diese Bereiche als neu entstehende Fähigkeiten des Organismus-Umwelt-Feldes innerhalb dieses Felds formen. Welche spezifischen Elemente von Organismus und Umwelt interagieren zu einer bestimmten Zeit in der Entwicklung, sodass diese Bereiche entweder mühelos entstehen oder »entgleisen«? Und wenn sie entstehen, wie unterstützt der vorhergehende Bereich den nachfolgenden (feed-forward) und auf welche Weise unterstützt der nachfolgende den vorhergehenden (feed-back)? Antworten auf diese Fragen würden mir helfen zu verstehen, wie wir uns in einer Spirale der Entwicklung, die sich im Wachstumsprozess ausdehnt, auf Autonomie und Beziehungsreife zubewegen.
Zusätzlich dazu leistet Spagnuolo Lobb hervorragende Arbeit, indem sie das ganze Kapitel hindurch die untrennbare Verbindung zwischen geistigen und körperlichen Prozessen betont. Ich würde mir eine detailliertere Beschreibung davon wünschen, wie dies in das Beziehungsfeld eingebettet ist, in dem die Bereiche ko-kreiert werden. Die phänomenologische Beschreibung der Bereiche in den ersten drei Jahren ihrer Entstehung auszuarbeiten, würde die hier präsentierten Konzepte verdeutlichen und noch mehr wichtige Daten liefern, die auf Aspekte der klinischen Bezugnahme angewendet werden können, z. B. der Bereich der Konfluenz; die Fähigkeit, zu sein, ohne Grenzen wahrzunehmen; die Fähigkeit des Kindes: die Fähigkeit des Kindes, den/die signifikante(n) Andere(n) intersubjektiv und intuitiv zu erkennen.
Lassen Sie mich diesen Bereich in einem kurzen Einschub noch genauer umreißen.
Die Mutter öffnet die Tür zum Zimmer des Babys. Das Baby hört, dass sich die Mutter nähert. Es streckt die Wirbelsäule, weitet den Brustkorb und lächelt voller Vorfreude. Die Mutter nähert sich der Wiege, blickt sanft auf das Baby herab und sagt mit heller und wohltönender Stimme: »Oh, wie hübsch du heute Morgen aussiehst.« Das Baby sieht ihr Gesicht, hört ihre Stimme und streckt sofort beide Arme nach ihr aus. Die Mutter lächelt und greift nach ihm.
Daraus können wir ableiten, dass das Baby »die Intentionen der Erwachsenen intuitiv erkennt und sie zum Abschluss bringt.« Mit anderen Worten: Wir können daraus schließen, dass das Baby in den sich nähernden Schritten der Mutter einen Teil von sich selbst gehört und im Gesicht der Mutter einen Teil von sich selbst gesehen hat, von dem es bis zu diesem Moment nicht gewusst hatte, dass er da war. Erst, als die Mutter auf seinen Ausdruck reagiert, weiß das Baby, dass »das meins ist«. Wir könnten vielleicht sagen, dass das, was es als meins wahrnimmt, auch ein Teil von ihr ist. Wir können daraus auch schließen, dass in der Mutter etwas Ähnliches vorgeht. Daniel Stern nennt dies ein »implizites Beziehungswissen«. In diesen Momenten der kreativen Anpassung gibt es nicht nur Gegenseitigkeit, sondern auch Gemeinsamkeit, mit deren Hilfe die Intentionalität (mit-)geteilt wird. »Ich sehe dich mich sehen«, »Ich fühle dich mich fühlen«.
Ich denke, dass eine vollständigere phänomenologische Beschreibung jedes Bereiches die Bi-Direktionalität von Entwicklungsprozessen in den ersten drei Lebensjahren und im fortlaufenden In-Kontakt-Treten untermauern könnte.
Wir PsychotherapeutInnen könnten uns dann fragen: »Was sagt uns das, was meine PatientIn von sich in mir sieht/fühlt, und dem, was ich von mir in meiner PatientIn sehe/fühle, über die Situation, die wir gerade leben? Wie sieht sich meine PatientIn selbst in der Art, wie ich auf dem Stuhl sitze, wie ich mich auf sie zu – oder mich von ihr wegbewege, wie ich gestikuliere und atme?« In der Beobachtung an der Kontaktgrenze, die uns im Laufe dieses Kapitels ganz richtig und überzeugend ans Herz gelegt wird, sind die Errungenschaften des In-Kontakt-Tretens – die durch Entwicklung gewonnen Fähigkeiten – lebendig und präsent, um mit ihnen und durch sie zu arbeiten.
Margherita Spagnuolo Lobb präsentiert hier eine weitere wichtige Idee für unser Verstehen, nämlich dass die KlientIn in der PsychotherapeutIn ihren Widerhall findet. Man kann diesen Aspekt gar nicht genug betonen. Es ist schließlich eine unserer wesentlichen Methoden, eine Diagnose des Beziehungsfeldes zu stellen – durch das, was wir sehen, hören und fühlen. Aus meiner Sicht entsteht das, was wir hören und sehen, aus dem, wie wir fühlen und uns bewegen. Ich denke, dass es grundlegend wichtig ist, immer wieder darauf zurückzukommen, wie wir PsychotherapeutInnen das Gewicht unseres Körpers auf dem Stuhl wahrnehmen, bevor wir eine Intervention angehen oder vorschnell eine Idee entwickeln, die möglicherweise entkörpert ist. Wie ich meinen Supervisanden immer sage: »Beginnen Sie keine Intervention, bevor Sie sich selbst in Ihrem Stuhl spüren.« Mein Erleben des Körpergewichts ist eine geteilte Erfahrung, das heißt, dass ich durch das Spüren meines Körpers das »Es der Situation« (Robine 2010) wahrnehme, oder das, was zwischen uns passiert und was ich durch mein körperliches Erleben erfahre.
Wenn wir uns selbst nicht deutlich wahrnehmen können – wissen, dass wir hier sind und wie wir hier sind, wie können wir wissen, wie wir den/die Andere(n) wahrnehmen und was zwischen uns passiert – wir können nur raten. Doch wenn wir uns unserer körperlichen Einstimmung widmen, von der Spagnuolo Lobb sagt, dass sie die Erfahrung von PsychotherapeutIn und PatientIn »vereint«, begleiten wir den fortlaufenden non-verbalen Dialog innerhalb des Beziehungsfelds. Ich würde dem hinzufügen, dass wir, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf unser körperliches Erleben richten, nicht nur wissen, wie wir auf die KlientIn reagieren, sondern auch, welche Signale wir ihr geben. Dies ermöglicht uns eine deutlichere Konzeptualisierung dessen, was in der Situation der Therapie vor sich geht, und lässt uns spüren, wenn unser eigenes Verhalten den fortlaufenden non-verbalen Dialog während der Sitzung behindert oder erleichtert. Es ist wichtig, eine gefühlte Grundlage für das Wissen zu haben, wie wir was tun, um die in der Situation gegebenen Phänomene zu beeinflussen. Mit anderen Worten: Genauso wie die KlientIn uns durch ihren körperlichen Ausdruck Signale gibt, so geben auch wir Signale. Und wir müssen uns fragen: »Was ist mein Anteil an dem ›Symptom‹ dieses Menschen, wie es sich in genau diesem Moment zeigt? Wie trage ich dazu bei, dass dieser Ausdruck entsteht? Von hier aus kann die PsychotherapeutIn »der eigenen Erfahrung und der der PatientIn innerhalb des ko-konstruierten kinetischen Dialogs nahe bleiben« (Frank / La Barre 2010).
Dieses Konzept der Bi-Direktionalität muss in diesem Kapitel hervorgehoben und in der Fallstudie wieder aufgegriffen werden, sodass deutlicher wird, wie wir an der Kontaktgrenze arbeiten, d. h. wie wir innerhalb eines von zwei Personen verkörperten Beziehungsmodells anstelle eines individualistischen Ein-Personen-Modells arbeiten. In ihrer Fallstudie Der verdinglichte Tod bleibt Spagnuolo Lobb nahe an dem, was sie sieht und fühlt, um die Feldstruktur aus der Perspektive der Erfahrungsbereiche zu diagnostizieren. Der Fall ist gut geschrieben, die Therapie wohl durchdacht. Gleichzeitig frage ich mich jedoch, inwiefern die PsychotherapeutIn Teil des Bereichs der Projektion gewesen ist. Mit anderen Worten: Wie die PsychotherapeutIn zur steifen Haltung der PatientIn und deren An-der-Tasche-Festhalten beiträgt. Es tauchen Fragen auf wie: Was sieht sie, die PatientIn, in der PsychotherapeutIn, dass sie die Tasche so fest halten lässt? Warum ist diese PatientIn so entschlossen, sich an sich selbst festzuhalten, anstatt nach der TherapeutIn zu greifen und sich an ihr festzuklammern? Und es stellt sich wieder die Frage, wie Worte und Körper der PsychotherapeutIn in der PatientIn widerhallen und das Beziehungsfeld kontinuierlich formen? Wenn wir mithilfe dieser Erfahrensbereiche diagnostizieren, muss uns klar sein, auf welche Art und Weise dieses Feld der Phänomene eine Reflexion der Ko-Kreation des Erlebens in jedem Moment darstellt – eine entstehende ko-kreierte Erfahrung beeinflusst das Feld der Phänomene, aus dem weitere ko-kreierte Erfahrung entsteht. Die TherapeutIn kann sich nicht aus dem Prozess der Diagnosestellung herausnehmen, der sich fortlaufend innerhalb des Ko-Kreierens der Erfahrung entwickelt.
Abschließend möchte ich Margherita Spagnuolo Lobb zu diesem bedeutenden Beitrag zu unserem Feld gratulieren, der in diesem Kapitel gezeigt wird. Die Entstehung von Erfahrungsbereichen – Kontaktmodalitäten – ist ein wichtiges Konzept und nützlich für uns GestalttherapeutInnen, um Damals-und-Dort-Erfahrungen, die im Hier-und-Jetzt auftauchen, besser zu verstehen. Die Art von somatischer und entwicklungsbezogener Linse, die sie beschreibt, gibt uns einen festeren Boden, auf dem wir stehen können. Sie trägt dazu bei, uns alle auf dem einst verbotenen Gebiet der Entwicklungstheorie des Menschen willkommen zu heißen, was die Gestalttherapie auch weiterhin zu einer relevanten und signifikanten psychotherapeutischen Modalität macht.
5. Situative Ethik und die ethische Welt der Gestalttherapie
Dan Bloom
Das Konzept der situativen Ethik als ethische Architektur der Erfahrungswelt der Psychotherapie bestimmt den Aufbau des vorliegenden Kapitels. Dieses Ethikkonzept ist der Grund, weshalb wir uns überhaupt mit Ethik befassen. Ich werde die situative Ethik beschreiben und ganz allgemein zeigen, auf welche Weise sich die Ethik unserer klinischen Praxis zu deren Bezugsrahmen verhält. Dabei stelle ich die intrinsische, die extrinsische und die grundlegende Ethik als wichtige praktische ethische Kategorien vor, die uns in unserer täglichen Arbeit als PsychotherapeutInnen leiten.
Das folgende Beispiel illustriert das ethische Gleichgewicht, das in einem Moment intensiven Kontakts in einer Gestalttherapiesitzung entsteht.
Ein Mann beugt sich mit gesenktem Blick vor und sagt: »Wissen Sie, ich wollte heute nicht herkommen. All diese Therapien funktionieren nicht. Nichts hat bisher geholfen und nichts wird jemals helfen. Ich fühle mich wie ein Klumpen Blei.«
Der Therapeut merkt, dass er sich ebenfalls vorbeugt. »Jim, ich fühle mich Ihnen nahe, während Sie sprechen. Sie sind hier und Sie scheinen sich auf mich zuzubewegen. Würden Sie den Kopf heben?«
Der Mann hebt den Kopf. Sein Blick begegnet dem des Therapeuten. Er lächelt.
Der Therapeut lächelt … sie hören sich ausatmen, als sei es ein einziger gemeinsamer Atemzug.
Diese Situation sieht so einfach aus, doch wir GestalttherapeutInnen wissen, dass sie komplexer ist, als sie erscheint. Wie können wir beschreiben, was in diesen Momenten geschieht? Es liegt in der Natur des In-Kontakt-Tretens, dass es sich nicht verbalisieren lässt. Beachten Sie das behutsame Vor und Zurück von Klient und Therapeut und die Offenheit und Verfügbarkeit des Therapeuten als eine gleichzeitig entstehende Präsenz. Der Klient befindet sich dabei an der Kontaktgrenze. Das Eingehen des zugegebenermaßen überschaubaren Risikos, das Therapeut und Klient hier wagen, wird möglich durch den sicheren Rahmen, den der Therapeut schafft, und der Teil der gemeinsamen Grundlage der Sitzung ist.
Der Therapeut bringt seine klinische Erfahrung, seine Fertigkeiten, sein Fachwissen, sein Verständnis der Standards der beruflichen Praxis und assimilierter ethischer Kodizes in die Situation ein. Diese Faktoren bilden das Gerüst, das die Arbeit im Hintergrund stützt, ohne dass sich Therapeut und Klient dessen bewusst sind. Wenn nötig, wird der Therapeut bewusst und gezielt auf dieses Gerüst zurückgreifen, das für mich die grundlegende und die intrinsische Ethik der Psychotherapie darstellt.
Doch da ist noch etwas. Der anmutige Rhythmus des gemeinsamen Erlebens von KlientIn und TherapeutIn an der Kontaktgrenze wird durch etwas Grundlegenderes geformt, nämlich durch die menschliche Eigenschaft, einander »ethisch« zu sehen – also als Menschen, die andere als Menschen erkennen und einander mit einer gewissen Erwartung, mit einer gewissen ethischen Sensibilität begegnen. Das kann man nicht lernen. Es liegt der menschlichen Struktur zugrunde. Ich werde dieses »noch etwas« fortan als situative Ethik bezeichnen, als die Ethik der menschlichen Situation, ein strukturelles Element der subjektiv wahrgenommenen Lebenswelt, in der wir alle Menschen sein können.
Dieses Kapitel gliedert sich folgendermaßen: Im ersten Teil definiere ich die situative Ethik im Rahmen der Gestalttherapie, im zweiten Teil beschreibe ich die Gefahr der Verwechslung von extrinsischer und intrinsischer Ethik in der Gestalttherapie sowie die praktischen Auswirkungen dieser Verwechslung auf die phänomenologische Methode unserer psychotherapeutischen Praxis. Ich werde ausführen, wie schwierig es gerade für GestalttherapeutInnen sein kann, diese ethischen Kategorien auseinanderzuhalten. Dabei werde ich Probleme ansprechen, die diese Verwechslung in unserer klinischen Praxis verursacht. Und ich werde versuchen, klinisch tätigen TherapeutInnen Hilfestellung bei den schwierigen ethischen Konflikten zu geben, die unsere Arbeit aufwirft.
Kurz gesagt: Dies ist ein in der Phänomenologie verwurzelter praktischer Leitfaden für eine Ethik der Gestalttherapie (vgl. Boeckh 2012; Gremmler-Fuhr 1999; Hutterer-Krisch 1996, 2001, 2007; Krisch 1992a; Robine 1988; Stoffl-Höll 1992).
1. Situative Ethik
Wie sollen wir uns zueinander verhalten? Auf diese Frage gibt es unzählige Antworten, allerdings keine Antworten, die für jeden Zeitpunkt und jeden Ort gleichermaßen gelten. Für die Zwecke dieses Kapitels sind die Antworten, so bedeutend sie auch sein mögen, weniger wichtig als die Tatsache, dass es uns immer wieder treibt, diese Fragen zu stellen. Dass wir uns solche Fragen immer wieder stellen, ist das Wasserzeichen, mit dem die situative Ethik uns Menschen versieht. Der Ethik gegenüber offen zu sein, liegt im Kern unseres Menschseins und ist daher untrennbar mit der psychotherapeutischen Praxis verbunden. Diese Fragen zu stellen und zu beantworten hat den gestalttherapeutischen Blick auf die Welt besonders geschärft.
GestalttherapeutInnen haben immer hervorgehoben, wie wichtig es für uns ist, als Gestalter in der Gemeinschaft, als Sozialkritiker und politische Aktivisten tätig zu sein, die die Gesellschaft in Übereinstimmung mit unserer Auffassung der menschlichen Natur und der Gesellschaft reformieren (Perls / Hefferline / Goodman 2006). Neben diesem reformistischen Anspruch steht die Aufforderung, als PsychotherapeutInnen nach den der Gestalttherapie eigenen humanistischen, egalitären und nicht-autoritären klinischen Werten zu arbeiten. Die GestalttherapeutInnen von heute sprechen das Thema der gestalttherapeutischen Ethik explizit an (Joyce / Sills 2006; Wheeler 1992; Lee 2004b). Sie richten – endlich – ihr Augenmerk auf die Ethik der Psychotherapie. Sie rufen zu einem Wandel auf, von einer modernistischen »Ethik des Individualismus« zu einer »beziehungsbezogenen« »Feld-«, »Gemeinschafts-« oder »umweltbezogenen« Ethik (Wheeler 2000a; Lee 2004b; Staemmler 2009) und zu einer intersubjektiven »Ethik der Achtsamkeit« (Jacobs 2011). Sie mahnen eine Konzentration auf die therapeutische Beziehung an. Sie fordern uns auf, dem Einfluss der GestalttherapeutIn auf die PatientIn besondere Aufmerksamkeit zu widmen, da TherapeutIn und PatientIn gemeinsam an der Therapie teilnehmen (Hycner / Jacobs 1995).
Dies ist jedoch nicht die Ethik, mit der ich mich hier vorrangig befassen will. Mir geht es um jene Ethik, die den Therapieprozess selbst aufrecht hält, ja, eine Voraussetzung für ihn ist – und die auch unserer menschlichen Existenz im »Mitsein« implizit ist (Heidegger 1953). Diese Ethik ist die Ethik unseres gemeinsamen phänomenalen Hintergrundes, der Lebenswelt. Sie orientiert unser Bewusstsein dahingehend, dass in der therapeutischen Beziehung zu jeder Zeit ethische Fragen auftauchen – zum Beispiel, wie wir unsere Honorare handhaben und wie wir uns unseren KollegInnen und SupervisorInnen gegenüber verhalten. Sie steht auch hinter unseren ethischen Kodizes und unserem Standard in der therapeutischen Praxis – und in Momenten beruflicher Isolation verankert sie unseren Glauben, dass wir in unserer Arbeit nie alleine sind. Dies ist keine Ethik, die uns sagt, was zu tun ist, was richtig oder falsch ist, sondern eine Ethik, die uns dafür öffnet, dass es da ein Richtig, ein Falsch oder eine Kontroverse darüber geben könnte, ob es richtig und falsch überhaupt gibt. Dies ist »situative Ethik« – eine Ethik einer anderen Ordnung.
Mein Gebrauch des Begriffs »Ethik« als »situative Ethik« wird von der europäischen Philosophie beeinflusst. Nicht nur in Emmanuel Lévinas’ komplexer Philosophie bezeichnet »Ethik« oder »das Ethische« unsere grundlegende praktische konkrete Beziehung zueinander (Critchley 2002). Die Ethik ist ein Weg, »mit dem/der Anderen als Akt oder Praxis in Beziehung zu sein«, den Lévinas als »ethisch« beschreibt (Lévinas 1969, 12). Das »Ethische« ist eine »untrennbare interpersonelle« Struktur, auf der alle anderen Strukturen beruhen. Lévinas Ethik bietet keine der Regeln herkömmlicher Ethik; sie ist die »Voraussetzung meiner Existenz« und »definiert genau den Bereich, den ich bewohne« (Davis 1996 [Übers. a. J.]).
»Die Ethik ist eine Optik« (Lévinas 2002). So wie uns die Struktur unserer Augen befähigt, Farben zu sehen und zu wählen, so sensibilisiert uns die situative Ethik und öffnet uns für die ethische Situation, in deren Rahmen wir einer Ethik des Inhalts und der Wahl fähig sind.
Die situative Ethik kann in das gestalttherapeutische Paradigma des Organismus/ Umwelt-Feldes transferiert werden, das durch verschiedene Interpretationen der »Situation« ergänzt wird, wie ich später ausführen werde. Ich bezeichne auch diese Ethik als situativ, um zu betonen, dass sie ein verkörperter und sozialer Aspekt des Organismus/Umwelt-Feldes ist. Das In-Kontakt-Treten und die Kontaktgrenze, der Kern der Gestalttherapie, sind in einer ethisch organisierten Welt verortet. Die klinische Implikation von situativer Ethik als Plattform für die Praxis der Gestalttherapie zieht sich durch dieses Kapitel.
Meine Abhandlung umfasst auch eine phänomenologische Dimension. Ich behandle die situative Ethik als eine Struktur der Lebenswelt und nicht so sehr als eine Ethik des Organismus/Umwelt-Feldes, um die erfahrungsbezogenen oder phänomenologischen Merkmale dieser Ethik hervorzuheben. Die Bedeutung, die dem Begriff der Lebenswelt in der Phänomenologie zugeschrieben wird, hat sich im Laufe der Geschichte der Philosophie verändert. Es herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass es sich bei der Lebenswelt um eine Erfahrungswelt handelt. Folgender Aspekt der Lebenswelt ist aus den späteren Schriften von Edmund Husserl (1954, 145) entnommen: »Die Lebenswelt ist […] immer schon da, im Voraus für uns seiend, ist ›Boden‹ für alle […]. Die Welt ist uns […] vorgegeben«. Die Lebenswelt geht der Erfahrung voran. Ergänzend sei Martin Heideggers ähnliches Konzept der »Welt« (Heidegger 1962) angeführt, wonach die historische, kulturelle und soziale Welt, in die wir »hineingeworfen« werden, die Architektur ist, die dann das Fundament unserer Erfahrungswelt bildet. Ich würde sagen, dass unsere grundlegende ethische Perspektive zur Architektur der Lebenswelt gehört. Die situative Ethik ist Teil dieser Architektur innerhalb der Struktur der Welt.