Kitabı oku: «Gestalttherapie in der klinischen Praxis», sayfa 2

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dieses Buch hat nicht nur einen imposanten Umfang, es zeichnet sich auch durch gleich vier Vorworte aus, ein Hinweis auf die Besonderheit der deutschsprachigen Ausgabe, die nicht nur eine Übersetzung, sondern Ergebnis eines umfassenden Transfer- und Aneignungsprozesses geworden ist.

Die Entstehung des Buches ist die Bildung einer Figur vor dem Hintergrund der kontemporären europäischen Gestalttherapie, in der Zusammenführung von Menschen und Ideen unterschiedlicher Herkunft, Kontexte und Erfahrungen. Die deutschsprachige Ausgabe entspricht der Differenzierung und Auswertung sowie der Einordnung in den deutschsprachigen Kontext.

Der Prozess der Entwicklung der deutschen Ausgabe war langfristig und kompliziert, immer mal wieder ins Stocken geratend und viele Ressourcen, finanziell, zeitlich und personell bindend. Der Beginn war trotz des erklärten Willens aller Beteiligten ein Kraftakt: Rahmenbedingungen, Handlungsspielräume, Ressourcen und Schnittstellen mussten definiert werden, um den Startschuss geben zu können.

»Passend machen« und »zerkauen statt introjizieren« sind für GestalttherapeutInnen vertraute Prozesse. Und so haben nach der fachkundigen Übersetzung von Anna Jell, GestalttherapeutInnen, die Lektorin Rita Kloosterziel und in einem weiteren Schritt erfahrene GestaltkollegInnen diesen Aneignungsprozess für die deutschsprachige Ausgabe gestaltet. Rosemarie Wulf und Deidre Winter haben mit Unterstützung von Achim Votsmeier-Röhr das Buch mit ergänzenden Literaturverweisen auf deutschsprachige Literatur versehen und geben damit den LeserInnen einen Eindruck des oft nicht sichtbaren Reichtums der deutschsprachigen Gestalttherapieliteratur. Die Literaturliste der Originalausgabe findet sich am Ende des Buches.

Das Erscheinen dieses Werks wurde möglich durch die unkomplizierte Absprache mit den HerausgeberInnen der Originalausgabe, insbesondere mit Gianni Francesetti, und dem erklärten Willen der DVG (Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie), ÖVG (Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie), und der FS IGT im ÖAGG (Fachsektion für Integrative Gestalttherapie im Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik), dieses Projekt zu stemmen. Die Vorstände und Mitglieder der Verbände, insbesondere der DVG, haben durch ihre Zustimmung die Bereitstellung der finanziellen Ressourcen ermöglicht. Ganz herzlichen Dank für diese weichenstellende Unterstützung. Dank und Anerkennung gebührt auch der Übersetzerin Anna Jell, die sich in beeindruckender Geschwindigkeit und Gründlichkeit durch das Werk arbeitete, vielen GestaltkollegInnen, die mit Rat und Tat zur Verfügung standen, insbesondere Christiane Molkenbuhr und Andreas Weichselbraun, der schon einen Vorabdruck im ersten Heft 2013 der Zeitschrift »Gestalttherapie – Forum für Gestaltperspektiven« auf den Weg brachte – und ganz besonders dem Verleger der deutschen Ausgabe Andreas Kohlhage, der kompetent und geduldig diesen Prozess begleitete.

In Hinblick auf eine gendersensible Schreibweise standen wir vor der Herausforderung, einen entsprechenden Ausdruck zu finden, ohne die Lesbarkeit der unterschiedlichen Kapitel zu beeinträchtigen. Auch dazu gab es kontroverse Standpunkte. Nachdem wir durch den bereits erwähnten deutschen Vorabdruck des Kapitels über Depressionen von Francesetti & Roubal Resonanzen von LeserInnen zur verwendeten Genderform berücksichtigen konnten, fiel es leichter, uns auf die nun verwendete Form zu einigen.

Allein im letzten Kapitel des Buches von Dieter Bongers wählen wir die geschlechtsneutrale Formulierung nur dann, wenn es der tatsächlichen Situation entspricht. Weitgehend wird hier die männliche Form verwendet, weil der Autor vorwiegend mit männlichen Straftätern (ge-)arbeitet (hat).

Nun noch einige wenige Worte zum Inhalt des Buches:

Die große Gruppe internationaler AutorInnen hat es geschafft, das schwer Fassbare fassbar zu machen.

Es ist gelungen, Brücken zu schlagen zwischen Sprache und Intuition – wie etwa im dritten Kapitel zum gestalttherapeutischen Ansatz in der Diagnosestellung deutlich wird – sowie eine Verbindung zwischen klinischer Diagnose und Gestaltansatz herzustellen. Mit Akribie und Genauigkeit werden die auf einem phänomenologischen Ansatz beruhenden komplexen Vorgänge einer auf der therapeutischen Beziehung gründenden Psychotherapie versprachlicht.

In seinem Kapitel zur situativen Ethik beschreibt Dan Bloom das Verständnis der Gestalttherapie zur Ästhetik des Kontaktes, und wir hoffen, dass diese Ästhetik auch beim Lesen der deutschen Ausgabe erfahrbar wird. Wie auch schon Leslie Greenberg im Vorwort zur Originalausgabe erwähnt, sind wir der festen Überzeugung, dass dieses Buch ein Meilenstein für die klinische Anerkennung und wissenschaftliche Verankerung der Gestalttherapie ist. Die Gestalttherapie wird mit ihrem reichen Schatz an theoretischen Grundlagen in ihren vielen Facetten und Anwendungsbereichen sichtbar.

Dazu gehört auch die Einordnung dieses Buches in den deutschsprachigen Kontext und die aktuelle Fachdiskussion zur Anerkennung der Gestalttherapie in Deutschland mit dem Geleitwort von Lotte Hartmann Kottek, die als gestalttherapeutische Psychiaterin und Psychotherapeutin seit Jahren die Berücksichtigung der Gestalttherapie in der psychotherapeutischen Versorgung einfordert.

Als GestalttherapeutInnen erachten wir es nicht nur als notwendig und unumgänglich, sondern auch als fruchtbar und förderlich, einen fachlichen Diskurs mit anderen Psychotherapiemethoden und verwandten Professionen zu führen. Dafür bietet dieses Werk einen soliden und sicheren Boden, verwurzelt in unserer eigenen Theoriebildung, um eine fundierte Auseinandersetzung auf dem Parkett der Psychotherapie führen zu können.

Ein Grundlagenwerk, das das Thema der Diagnostik psychischer Störungen im gestalttherapeutischen Verständnis von Beziehung und sozialem Feld verortet, ist von unschätzbarem Wert für die Weiterentwicklung der Gestalttherapie und in ihren Bestrebungen zur wissenschaftlichen Anerkennung.

Es gibt der Identität der Gestalttherapie Form und Figur und ist so im Dialog und Austausch mit anderen von großer Unterstützung.

Wir wünschen diesem Buch viele LeserInnen aus vielen Kontexten. Wir hoffen, dass Sie dieses Buch zerkauen, assimilieren und sowohl in klinisch praktischer Anwendung als auch in der Theoriebildung für sich nutzbar machen, dass es unterstützt, neue Perspektiven zu gewinnen und somit nicht zuletzt jene Menschen, mit denen wir arbeiten, davon profitieren.

Als Vertreterinnen unserer Nationalen Organisationen für Gestalttherapie – DVG und ÖVG – im General Board der EAGT (Europäischen Association for Gestalttherapy) haben wir dieses Projekt initiiert, und nun ist es uns eine große Freude, dass dieses Buch erscheint.

Veronica Klingemann,

Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie, DVG

Beatrix Wimmer,

Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie, ÖVG

Vorwort: Klinische Gestalttherapie und die gesundheitspolitische Situation in Deutschland

Das nun auch in deutscher Sprache erschienene Werk über die weltweite gestalttherapeutische klinische Weiterentwicklung füllt eine gravierende Lücke. Es ist den drei Initiatoren zu verdanken – selbst engagierte und erfahrene gestalttherapeutische Psychiater –, dass das Werk das Erfahrungswissen speziell im Bereich der schwereren psychiatrisch-psychotherapeutischen Störungen erfasst. Dabei wird die vielfältige Behandlungserfahrung bei Patienten aller wesentlichen Problemfelder im Bereich der Psychotherapie, Psychiatrie, Psychosomatik einbezogen. Es beinhaltet auch Gesichtspunkte einer modernen kulturorientierten Soziotherapie mit Migrationsproblematik. Deutlich wird, wie wirksam die Beziehungsdimension gerade bei diesen schweren Krankheitsbildern ist, wenn sie im gestalttherapeutisch-humanistischen Sinn angemessen und im guten Sinne professionell eingesetzt wird. In der Beziehungsgestaltung liegt ein sehr großes Heilungspotenzial verborgen, das die konventionelle Medizin und speziell die Psychiatrie etc. verschenken. Ich kann das aus meiner Erfahrung voll bestätigen. (Ich leitete ab 1978 zehn Jahre lang in Deutschland die erste gestalttherapeutisch geführte Abteilung für Psychiatrie/Psychotherapie/Psychosomatik.)

Der Dank gebührt sowohl dem Idealismus der beteiligten Wissenschaftler und praktizierenden Fachvertreter als auch der EAGT (European Association for Gestalt Therapy), unter deren Schirm die Beiträge in englischer Sprache gesammelt worden sind – sowie schließlich der DVG (Deutsche Vereinigung Gestalttherapie), ÖVG (Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie) und der FS IGT im ÖAGG (Fachsektion für Integrative Gestalttherapie im Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik), die für die deutsche Übersetzung Sorge trugen.

In Verbeugung vor dem dialogischen Prinzip der Gestalttherapie und der Bedeutung seiner Kontaktgestaltung ist das Werk dialogisch konzipiert: Markante Vertreter antworten einander, teils verstärkend, teils kritisierend, teils ergänzend und potenzierend, und setzen so Impulse zur lebendigen Weiterentwicklung. So erweist sich die Gestalttherapie als geistiger Fluss mit bewährten relativierten und innovativen Strängen.

Der Untertitel »Von der Psychopathologie zur Ästhetik des Kontakts« mag manche Kollegin, manchen Kollegen verwundern. Hier taucht ein Gesichtspunkt auf, der im internationalen Mainstream der Fächer Psychiatrie/Psychotherapie/Psychosomatik nicht wahrgenommen wird: Es geht im Kontaktverhalten nach innen und außen auch um Phänomene der Stimmigkeit zwischen den verschiedenen Teil-Kompetenzen, die das Kontaktverhalten modulieren bzw. ihm Dissonanzen oder Konsonanzen verleihen.

Entgegen dem Vorurteil der eigenen ersten Generation konnte – vor allem dank der Forschergruppe um Leslie Greenberg aus Kanada – die gestalt-typische Vorgehensweise der schrittweisen Prozessorientierung schließlich doch für die Forschung zugänglich gemacht werden. Sie entspricht in der Psychotherapieforschung einem Quantensprung. Greenberg sieht durch die Prozess-Forschung für die dritte Generation das Potenzial, Theorie und Praxis der Gestalttherapie auf einem höheren Reflexionsniveau als bisher integrieren zu können.

Die Wirksamkeit von Psychotherapieverfahren wird heute in Effektstärken (ES) angegeben. Nach Cohen gilt 0.5 ES als mittlere, 0.8 ES als gute Wirksamkeit. Der Durchschnitt der amerikanischen Humanistischen Verfahrensgruppe (Gestalttherapie, Gesprächstherapie, Psychodrama, Emotion FocusedTherapy) liegt in der Metaanalyse von R. Elliott1 bei 0.93 ES, punktgleich mit der CBT/Verhaltenstherapie (cognitive behavioral therapy). Die psychodynamische Gruppe, die aus Psychoanalyse und Tiefenpsychologie besteht, liegt jetzt wie früher deutlich darunter.

Gestalttherapie ist heutzutage dasjenige Psychotherapie-Verfahren, das weltweit die höchsten Effektstärken aufweist. Phil Brownell2 berechnete für die Gestalttherapie eine ES zwischen 1.12 und 1.42 ES, je nach Diagnosegruppe.

Ausschließlich in Deutschland herrscht ein beschämender Sonderstatus: Hier wurden 1998 aufgrund einer berufspolitischen Verbandsinitiative der derzeitigen »Richtlinien-Verfahren« die humanistischen und systemischen Verfahren per Gesetz für die staatliche Patientenversorgung nicht zugelassen, obwohl (oder weil!) vor allem die humanistische Gruppe bessere Wirksamkeitsstudien vorlegen konnte als im Durchschnitt die (interessengeleitet) später gesetzlich zugelassenen. Fazit: Deutschen Patienten werden derzeit die wirksamsten Psychotherapien vorenthalten. Die Mehrkosten hat die Versichertengemeinschaft zu zahlen. Korrigierende öffentliche Aufklärungsinitiativen über diesen Missstand sind seit einiger Zeit im Gange.

Wir wünschen uns und unseren Patienten, dass in naher Zukunft auch in Deutschland Wissenschaft, Vernunft und Gerechtigkeit die Oberhand bekommen.

Lotte Hartmann-Kottek

Juli/August 2014

TEIL I

1. Grundlagen und Entwicklung der Gestalttherapie im Kontext der Gegenwart1
Margherita Spagnuolo Lobb

Wenn wir uns ansehen, wie die wichtigsten Prinzipien der Gestalttherapie von ihren Anfängen bis zum heutigen Tag beschrieben wurden, wird deutlich, dass es keine einheitliche Darstellung der Grundwerte unseres Ansatzes gibt.2 Immer, wenn wir versuchen, unsere Theorie zu beschreiben, müssen wir diese Beschreibung in dem historischen Moment verankern, in dem wir leben, und sie den aktuellen Bedürfnissen der Gesellschaft anpassen.

Es mag aussehen, als hätten moderne Darstellungen kaum noch etwas mit den ursprünglichen Prinzipien gemeinsam. Sie sind jedoch das Ergebnis einer natürlichen und nachvollziehbaren Entwicklung, die sich in der Beziehung zwischen der Gesellschaft und der Psychotherapie vollzogen hat – ebenso wie zwischen der Gesellschaft und der Anthropologie, der Gesellschaft und der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Technologie usw. Unser Ansatz braucht Entwicklung, wie jeder andere Ansatz auch. Um sie zu fördern und mit ihr Schritt zu halten, ohne dabei unsere Wurzeln zu verlieren, bedarf es einer hermeneutischen Methode (Spagnuolo Lobb 2001c): Sie ermöglicht es, die ursprünglichen Prinzipien unseres Ansatzes in einen bestimmten sozio-kulturellen Kontext zu stellen, und betrachtet ihre Entwicklung parallel zur Entwicklung der Bedürfnisse von Gesellschaft und Kultur.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist es wichtig, die epistemologischen Prinzipien der Gestalttherapie zu definieren, die es zu respektieren gilt: Sie bestimmen die Grenzen, innerhalb derer Entwicklungen stattfinden können. Ein Beispiel: Bei der Arbeit mit der Technik des Leeren Stuhls, einer grundlegenden und sehr effektiven Technik, die den Kern unseres Ansatzes verkörpert, muss die veränderte Befindlichkeit der Gesellschaft in Betracht gezogen werden. Die Technik des Leeren Stuhls zielt darauf ab, dass sich die KlientIn auf ihr körperliches Erleben konzentriert und dadurch ihre Selbstregulierung unterstützt. Das wesentliche Element der Selbstregulierung entsteht beim Zusammenführen des physiologischen Erlebens (im Gegensatz zum geistigen) mit Systemen vorangegangener Kontakte (die Definition dessen, wer ich bin) und der Fähigkeit zu reflektieren. Diese grundlegende Technik wurde zu einer Zeit entwickelt, in der das Vertrauen in das eigene Potenzial einen wesentlichen Faktor bei dem Bemühen darstellte, Unabhängigkeit vom/von der Anderen zu erlangen. Auf den Leeren Stuhl werde ich an anderer Stelle detailliert eingehen; hier möchte ich jedoch einen Punkt hervorheben: Wenn wir heute mit der Technik des Leeren Stuhls arbeiten, müssen wir berücksichtigen, dass unsere moderne Gesellschaft nicht vorrangig nach Autonomie und der Lösung von Bindungen strebt. Wir haben vielmehr das Bedürfnis, Bindungen zu schaffen, in denen wir die Erfahrung machen können, vom/von der Anderen wahrgenommen und festgehalten zu werden. Die Technik gehört also nach wie vor zu unseren besten Methoden, doch wir müssen sie mit einem anderen Ziel einsetzen (und den Schwerpunkt entsprechend verlagern).

Diese hermeneutische Vorgehensweise ist für unser Modell von entscheidender Bedeutung, wenn es überleben und sich entwickeln soll.3 Gleichzeitig bewahrt sie uns vor einem naiven Einsatz von Konzepten und Techniken. Dies ist besonders wichtig, wenn wir schwere Störungen behandeln und uns im Bereich der Psychopathologie zurechtfinden wollen, die heutzutage überall anzutreffen ist. Das Überleben unseres Modells hängt davon ab, ob es uns gelingt, uns psychopathologischen Themen zuzuwenden (Francesetti 2005).

Uns ist allen bewusst, dass die Gestalttherapie nicht mit der Absicht entwickelt wurde, Psychosen oder schwere Störungen zu heilen. Zur Zeit ihrer Entstehung war jedoch die Psychotherapie im Allgemeinen nicht auf die Behandlung schwerer Störungen ausgerichtet. Die bi-univoke Beziehung zwischen Psychotherapie und Gesellschaft lenkte immer besondere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft durch einen Mangel an Beständigkeit geprägt ist, der zu einem bestimmten Zeitpunkt zutage tritt. In den Anfängen der Gestalttherapie wurde diese fehlende Beständigkeit zum Beispiel in solchen Fragen deutlich: »Wer ist im Besitz der Wahrheit? Die HeilerIn oder die, der geholfen wird? Wohnt menschlichem Beziehungsleiden Würde und eine potenzielle Autonomie inne oder geht es dabei einfach um mangelnde soziale Anpassung? Müssen soziale Minderheiten und ›andersartige‹ Gefühle und Lebensweisen gesteuert und ›normalisiert‹ werden oder sollten sie vielmehr als wichtige Ressource für die Selbstregulierung der Gesellschaft bestärkt werden?«

Damals war die Psychopathologie nicht von großem Interesse für die Psychotherapie: Schwere Störungen betrachtete man als etwas, das sich weitgehend fernab des alltäglichen Lebens abspielte. Verrückte lebten in psychiatrischen Einrichtungen und soziale Probleme hatten nichts damit zu tun.

Als die gesamte Gesellschaft im Lauf der Zeit immer öfter mit psychopathologischem Leiden konfrontiert wurde, war auch die Psychotherapie gezwungen, sich dafür zu interessieren. Seit den 80er-Jahren muss sich jedes Psychotherapiemodell, das überleben will, mit der Tatsache auseinandersetzen, dass schwere Störungen auf dem Vormarsch sind, und nach neuen Ideen und Techniken suchen, um ihnen vorzubeugen und sie zu behandeln. Der Begriff »schwere Störungen« bezieht sich meist auf das Erleben innerhalb menschlicher Beziehungen: unkontrollierbare Angst, das Empfinden, sich selbst zu verlieren, und die gefühlte Unfähigkeit, sein eigenes alltägliches Leben fortzuführen.

In diesem Kapitel schildere ich zunächst, wie sich die Befindlichkeit der Gesellschaft und die Psychotherapie in den letzten sechzig Jahren (seit den Anfängen der Gestalttherapie) entwickelt haben. Anschließend beschreibe ich die Prinzipien und die Grundwerte unseres Ansatzes aus der Perspektive der heutigen Gesellschaft. Dann wird das gestalttherapeutische Konzept von Psychopathologie und kreativer Anpassung erläutert und in der Gesellschaft der Gegenwart verortet. Abschließend möchte ich den notwendigen Wandel in der Gestalttherapie anregen, hin zu einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der »Psychopathologie«, der bis in die 80er-Jahre aus unserem Wortschatz verbannt war.

Ich werde versuchen, alle theoretischen Aussagen durch klinische oder auf Beziehungen bezogene Beispiele zu ergänzen, um dem pragmatischen Geist der Gestalttherapie gerecht zu werden.

1. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Befindlichkeit und der Psychotherapie

Fast alle psychotherapeutischen Ansätze entstanden um die 1950er-Jahre herum und erlangten in den folgenden zwanzig Jahren größere Bekanntheit. Seit damals haben sich unsere PatientInnen stark verändert, und so stehen wir vor der Herausforderung, unsere Formulierungen und unsere Methode zu modifizieren und dabei einerseits im Einklang mit der Epistemologie unseres Ansatzes zu bleiben und andererseits neue Instrumente zu schaffen, die geeignet sind, die heutigen Probleme zu lösen. Lassen Sie uns die klinische Entwicklung dieser sechzig Jahre näher betrachten:

• 1950 bis 1970:

Dies war die Zeit, in der die meisten psychotherapeutischen Methoden ihre weiteste Verbreitung fanden. In diesem Zeitabschnitt, in dem Soziologen von der »narzisstischen Gesellschaft« (Lasch 1978) sprachen, zielten alle neuen psychotherapeutischen Ansätze auf die Lösung eines Problems ab, das aus persönlichen Beziehungen und den sozialen Gegebenheiten erwuchs: Wie sollte man dem Potenzial des wirklichen Lebens mehr Würde verleihen, dem Freud in seinen letzten Formulierungen ein Schattendasein zugewiesen hatte, als er der Macht des Unbewussten größere Bedeutung einräumte? Freuds mehr oder weniger rebellische »Nachkommen« – Otto Rank mit seinem Konzept von Wille und Gegenwille (Rank 1941), Adler (1924) mit dem Konzept des Machtstrebens und Reich (1945) mit seinem absoluten Vertrauen in die Sexualität (siehe Spagnuolo Lobb 1996, 72 ff.) – hatten zu Beginn des Jahrhunderts einer veränderten psychosozialen Sichtweise auf menschliche Beziehungen Ausdruck verliehen: Das »Nein« der Kinder (und der PatientInnen) ist gesund, Machtgefühle sind »normal«, körperliche Energie und Sexualität kann man ganz ausleben, ohne in orgiastischem Chaos zu versinken.

Die philosophische Entsprechung dieses Wandels findet sich in den Gedanken Nietzsches.4 Im Bereich der Kunst spiegelten neue Ausdrucksformen, von Jazz bis zum Surrealismus (man denke nur an die fragmentierten Figuren Mirós), den Wunsch wider, neue subjektive Perspektiven zu manifestieren. Auf politischer Ebene zeugten Gesetze zum Schutz von Minderheiten als Reaktion auf diktatorische Regimes von dem Bestreben, allen erdenklichen menschlichen Lebensformen Würde zuzubilligen.

Allen psychotherapeutischen Strömungen, die in den zwanzig Jahren zwischen 1950 und 1970 aufkamen (wie auch manchen »Revisionen« der Psychoanalyse) war die Absicht gemein, dem individuellen Erleben, das man als fundamental bedeutsam für die Gesellschaft erachtete, mit mehr Respekt und Vertrauen zu begegnen. Das Ich wurde neu bewertet, ihm wurde eine kreative, unabhängige Kraft zugeschrieben: Das Kind musste aus der Unterdrückung durch den Vater und PatientInnen von sozialen Normenbefreit werden. Selbst das Verrückt-Sein wurde nicht länger als unwiederbringlicher Verlust des Realitätssinns betrachtet, als Beherrscht-Sein durch ein zerstörerisches Unbewusstes, sondern als Möglichkeit, einen ansonsten unerreichbaren Anteil zu verstehen, der zwar von der Norm abwich, zugleich aber als eine Quelle der Kreativität gesehen wurde: Ähnlich wie ein Bild der unstrukturierte Ausdruck von Emotionen sein kann, hat der Wortsalat der Schizophrenen eine eigene Wertigkeit, die die kreative, unabhängige Kraft des Menschen fördert, selbst wenn sie sich jenseits jeder Rationalität bewegt. Es kam das Bedürfnis auf, sich als wichtig, wenngleich von der Norm abweichend, aber nicht als dominant zu begreifen.

In diesem Kontext lehnte die Gestalttherapie dieses Bedürfnis ab und begründete eine Theorie des Selbst, mit deren Hilfe sich das Erleben beim Kontaktprozess des Organismus mit seiner Umwelt (im Gegensatz zu einem intrapsychischen Kontakt) erfassen ließ. Dabei tritt die Kreativität des Ich zutage, das zugleich Schöpfer und Erschaffenes ist. Der mittlere Modus, der untrennbar mit der Ästhetik der griechischen Kultur verbunden ist (von den europäischen Sprachen haben nur einige griechische Verben einen »mittleren Modus«5), charakterisiert auch die Definition des Selbst: Es »bildet sich« an der Grenze zwischen Organismus und Umwelt mittels eines ästhetischen Prozesses, eines Gewahrseins, einer Präsenz aller Sinne, die einen guten Kontakt ausmachen. Ein weiteres Konzept, mit dem die Gestalttherapie einen Beitrag zu den aufkommenden Bedürfnissen der Gesellschaft in den 1950er-Jahren leistete, widmet sich den positiven Aspekten von Konflikten in menschlichen Beziehungen: Der unterdrückte Konflikt führt entweder zu Stumpfsinn oder zum Krieg (Perls 1969, 7). Einen Konflikt auszutragen garantiert Lebendigkeit und echtes Wachstum.

Doch wie lauteten die typischen Sätze, was sagten die PatientInnen in den 1950ern? Im Mittelpunkt der Nachfrage nach Psychotherapie in diesen Jahren könnte stehen: »Ich will frei sein«, »Bindungen erdrücken mich: sie hindern mich daran, mein Potenzial zu leben«, »Ich brauche Hilfe, um mich aus den Bindungen zu befreien, die mich erdrücken«, »Ich würde gern von zu Hause ausziehen, aber ich schaffe es nicht«, »Ich ertrage es nicht, wenn mein Vater mir sagt, was ich tun soll«. Die klinische Evidenz der 1950er bis 1970er entstand rund um dieses Erleben. Es herrschte das Bedürfnis, das Ich auszuweiten, ihm größere Würde zu verleihen, ein Bedürfnis nach Unabhängigkeit.

Der Erlebenshintergrund, vor dem sich dieses Bedürfnis herausbildete, war solider, als er es in unseren Tagen ist: Zweierbeziehungen waren von längerer Dauer (wenngleich oft durch gesellschaftliche Normen zusammengehalten), und die Beziehungen innerhalb der Familie waren auf jeden Fall stabiler.

Die Antworten der TherapeutInnen lauteten: »Sie haben das Recht, frei zu sein, das Recht, Ihr Potenzial zu entwickeln«, »Ich bin ich und Sie sind Sie …«. Kurz gesagt, unterstützt wurden Selbstregulierung und das Lösen aus Bindungen, ohne sich darum zu kümmern, was an der Kontaktgrenze mit dem/der Anderen passierte.

• 1970 bis 1990:

Für diese Jahre war die »technologische Gesellschaft« kennzeichnend, wie Galimberti (1999) sie nannte, eben weil sie die Maschine auf einen Sockel hob. Gleichzeitig gab sich die Gesellschaft der Illusion hin, man könne die menschlichen Gefühle und vor allem den Schmerz kontrollieren. Die Beziehungen des oikòs6 betrachtete sie als »groben Fehler«, als Hemmnis für die Produktivität, die dagegen als einzig verlässlicher Wert angesehen wurde. Liebe und Schmerz, zwei Emotionen, die in Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden sind, galten in dieser Zeit als unvereinbar.

Wenn man sie als Produkt der »narzisstischen Gesellschaft« sieht, könnte man die »technologische Gesellschaft« als »borderline« definieren. Diese Generation stand einerseits unter dem großen Druck erfolgreicher Eltern, die wollten, dass ihre Kinder »Götter« waren wie sie selbst. Andererseits litt sie unter einem Mangel an Unterstützung für die eigenen Wünsche und ihre Versuche, in dieser Welt jemand zu sein. Das Kind von Göttern macht keine Fehler! Diese Generation, die einerseits mit der Illusion aufwuchs, etwas Besonderes zu sein, und die andererseits das Gefühl verstecken musste, dass sie nur bluffte, entwickelte eine borderlineartige Beziehungsmodalität: ambivalent, unzufrieden und unfähig, sich selbst abzugrenzen, um die eigenen Werte zu bekräftigen. Die Flucht der Jungen in »künstliche Paradiese«, ihr Ärger über ihre Eltern als Repräsentanten von Werten, die wenig mit ihrem Menschsein zu tun hatten, bereitete den Boden für die Verbreitung von Drogen, ermöglichte jedoch auch wichtige Gruppenerfahrungen. Es war kein Zufall, dass in diesen zwanzig Jahren in der Psychotherapie ein besonderes Interesse an Gruppen bestand: Die Gruppe wurde als ein mögliches (und manchmal als das einzig mögliche) Heilmittel betrachtet.

Die Sätze der Patienten und Patientinnen in den 1970ern und 1980ern könnten zum Beispiel lauten: »Ich habe mich in eine Kollegin verliebt, ich habe eine Affäre mit ihr, meine Frau weiß von nichts und ich bin mir nicht sicher, ob ich es ihr sagen soll oder nicht«, »Meine Eltern nörgeln immer an mir herum. Wenn ich in einer Gruppe bin, fühle ich mich freier. Einen Joint zu rauchen ist eine Befreiung von der täglichen Unterdrückung«, »Drogen (oder mein Beruf oder mein Geliebter/meine Geliebte) sind meine wichtigste Bindung, die Bindung zu meiner PartnerIn ist ein Extra.« Man war auf der Suche nach dem Selbst außerhalb intimer Bindungen – ein Versuch, die Schwierigkeiten des »Mitseins« durch illegale Substanzen oder durch Arbeit zu lösen. In den 1990ern, nur zehn Jahre später, trat das Bedürfnis, sich selbst in der Einsamkeit zu spüren, an die Stelle der Suche nach dem Ich: »Ich möchte mich spüren, mich finden. Es gibt Zeiten, in denen ich fasten muss, um mich selbst durch den Hunger zu spüren. Alle wollen etwas von mir und ich weiß nicht, wie ich herausfinden soll, wer ich bin« oder »Ich habe eine Beziehung mit einem Mann, der 600 Meilen von hier lebt. Ich weiß nicht viel über ihn. Zuerst war es nett, zusammen zu sein, wenn wir uns trafen. Doch jetzt ist es langweilig. Wir wissen einfach nicht, was wir machen sollen. Glauben Sie, das ist normal?«

Die Antworten der TherapeutIn waren: »Haben Sie Vertrauen in sich – kehren Sie zurück an den Ursprung Ihres Seins (phänomenologisch gesprochen) – finden Sie heraus, wer Sie sind, indem Sie sich konzentrieren.« Oder auch: »Sehen wir uns doch an, was zwischen uns beiden passiert.« In der Praxis widmeten sich zu dieser Zeit alle Methoden dem, was wir in der Gestalttherapie »Kontaktgrenze« nennen: eine neue Sichtweise auf Übertragung und Gegenübertragung. »Haben Sie Vertrauen in die Selbstregulierung, sowohl Ihrer Emotionen als auch des Raums zwischen uns beiden.« Perls’ Slogan »Verlier den Verstand und komm zu deinen Sinnen« wurde also zu »Folge deinem dir eigenen Mitgefühl« und »Ich erkenne mich selbst in deinem Blick«.

• 1990 bis 2010:

Was die Befindlichkeit der Gesellschaft anging, so führten das Interesse an Technologie (eine Ressource, die heute als selbstverständlich angesehen wird) und die Ambivalenz der eigenen Wertigkeit gegenüber zu einem »Gefühl der Flüchtigkeit« (sense of liquidity), wie Bauman (2000) es so treffend ausdrückt. Die Kinder der »Borderline-Gesellschaft« erlebten einen Mangel an vertrauten konstituierenden Beziehungen: Die Eltern waren nicht da, teilweise weil sie arbeiteten (schließlich war »Technologie« der von der Gesellschaft verbreitete Wert) und sich Sorgen wegen des drohenden sozialen Abstiegs machten, teilweise aber auch, weil sie auf der Beziehungsebene inkompetent waren (die Borderline-Ambiguität wird mit emotionaler Distanziertheit über dem Nachwuchs ausgeschüttet). Außerdem wuchs die Generation dieser zwanzig Jahre in einer Phase großer Migrationsbewegungen auf. Diese führten dazu, dass sich viele Menschen nicht mehr auf generationenübergreifende Traditionen stützen konnten, die ihnen ein Gefühl des Verwurzelt-Seins vermittelt hätten (Spagnuolo Lobb 2011b).

Viele Traditionen gehen verloren, die Dorfplätze sind durch die virtuellen »Plätze« der sozialen Netzwerke ersetzt worden. Das soziale Erleben der jungen Menschen von heute ist »flüchtig«: Unfähig, die Erregung über die Begegnung mit dem/der anderen für sich zu behalten, sind sie extrem offen gegenüber den Austauschmöglichkeiten, die die Globalisierung der kommunikativen Ströme bietet. Stellen Sie sich ein Kind vor, das Hausaufgaben macht: Wenn es Schwierigkeiten hat, muss es festgehalten werden und braucht Zuspruch, um das Problem mithilfe der Energie zu lösen, die es aufmuntert. Doch da ist kein Ansprechpartner zu Hause, niemand, der dem Kind als begrenzende Mauer helfen könnte zu verstehen, was es fühlt und was es will. Also geht es ins Internet, wo eine Suchmaschine die Lösung liefert.

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1392 s. 21 illüstrasyon
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9783897975903
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