Kitabı oku: «Gestalttherapie in der klinischen Praxis», sayfa 4

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3.4 Die einheitliche Beschaffenheit des Organismus/Umwelt-Felds, Spannung zum Kontakt und das Entstehen der Kontaktgrenze

Laut der gestalttherapeutischen Perspektive sind Individuum und soziale Gruppe, Organismus und Umwelt keine getrennten Einheiten, sondern Teil einer einzigen Einheit in wechselseitiger Interaktion. Folglich sollte man die Spannung, die möglicherweise zwischen ihnen herrscht, nicht als Ausdruck eines unlösbaren Konfliktes, sondern als die notwendige Bewegung innerhalb eines Felds betrachten, das Integration und Wachstum anstrebt.

Unser phänomenologischer Geist hält uns vor Augen, dass wir nicht aus einem Feld (oder einer Situation) aussteigen können, in dem wir uns befinden. Er gibt uns Werkzeuge an die Hand, mit denen wir arbeiten können, während wir innerhalb der Grenzen verharren, die uns die an diese Situation gebundene Erfahrung auferlegt. Die Begründer der Gestalttherapie propagierten von Anfang an die »kontextuelle« Methode (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. I, 43 f.), die, viele Jahre vor Gadamer, von einer hermeneutischen Zirkularität zwischen der LeserIn und dem Buch ausging: »Der Leser steht also scheinbar vor einer unmöglichen Aufgabe: Um das Buch zu verstehen, muß er die ›gestaltorientierte‹ Mentalität schon haben, und um sie zu erwerben, sich diese anzueignen, muß er das Buch verstehen« (ebd., 12).

Die Gestalttherapie entleiht das Konzept der »Intentionalität« (Husserl 1965) aus der Phänomenologie. Bewusstheit existiert nur in ihrer »Bezogenheit auf«, nur in ihrer zielgerichteten Hinwendung zu einem Objekt, in der Transzendierung ihrer selbst. Die Subjektivität bildet sich bei diesem Akt des Transzendierens (Spagnuolo Lobb / Cavaleri 2013). »Wenn ein Mensch im Wesentlichen durch sein Sich-Bilden gebildet wird, durch seine Intentionalität, durch sein In-Kontakt-Treten mit seiner Umgebung, impliziert dies, dass sich Psychopathologie und Psychotherapie mit der Analyse dieser fortlaufenden Transzendierung, der Intentionalität und des In-Kontakt-Tretens auseinandersetzen. Innerhalb dieser Beziehung zur Welt, innerhalb dieser bewussten Hinwendung zu ihr, muss man den Ursprung seelischen Leidens und gleichzeitig den Raum für die Behandlung bestimmen.« (ebd., 348)

In der Gestalttherapie sprechen wir von der »Kontaktintentionalität« und fassen damit sowohl die physiologische »aggressive« Kraft (wie im vorherigen Abschnitt erläutert), die zum Auf-den-anderen/die-andere-Zugehen gehört (vom lateinischen ad-gredi), als auch das tatsächliche Mit-jemandem-Sein, die konstitutiv relationale Physiologie des Menschen.

Hier haben wir eine Möglichkeit, den Kontaktprozess zu beschreiben und dabei das Hauptaugenmerk auf den Rhythmus von Ganzheit und Differenzierung zu richten. Gemäß einer typischen gestalttherapeutischen Epistemologie (siehe u. a. Philippson 2001) ist er kennzeichnend für die Bewegungen des Mit-jemandem-Seins in einer bestimmten Situation.

Aus einem ursprünglichen undifferenzierten einheitlichen Zustand entstehen im Feld Energien und dadurch Differenzierungen, die zum Auftreten differenzierter Wahrnehmungen führen. Sie bilden die Kontaktgrenze, den Ort, an dem Kontaktintentionalitäten im Konkreten des Hier und Jetzt des Kontaktes erfüllt werden.

Der Entstehensprozess des Selbst-in-Kontakt besteht genau in diesem Durchlaufen eines anfänglichen Differenzierungsmangels, der einer Steigerung der Erregung Platz macht. Begleitet wird dieser Prozess von der Wahrnehmung von etwas Neuem im phänomenologischen Feld. Es ist genau diese Erregung der Sinne, die eine Differenzierung ermöglicht (ich merke, dass meine Bewegung sich von der anderer unterscheidet, also bestimme ich mich selbst, ich definiere mich aus just diesem Grund: weil ich anders bin als sie). Die Kontaktgrenze ist definiert durch diese Begegnung in der Verschiedenheit. Daraus entwickelt sich schließlich die Entscheidung, eine Bewegung zum/zur anderen hin zu machen, die von der Solidität der eigenen Unterschiedlichkeit aus (vom Hintergrund des Selbstgewahrseins aus) unternommen wird.

Bezogen auf die Beispiele aus den vorherigen Abschnitten bedeutet das, dass die Mitteilung an die TherapeutIn über die nächtliche Unruhe oder die Beschreibung des Traums als »klein« die ko-kreierten Kontaktgrenzen in einem Feld sind.

3.5 Eine Psychotherapie, die auf ästhetischen Werten basiert

Das Wort »ästhetisch« stammt von dem griechischen Begriff αισθητικός ab, der »mit den Sinnen wahrnehmen« bedeutet. In der Gestalttherapie impliziert der Begriff Kontakt nicht nur, dass wir untereinander verbundene Wesen sind, sondern drückt auch eine Überlegung zur Physiologie des Erlebens aus. Das Interesse an der Mentalisierung des Erlebens wird eindeutig durch das Interesse an dem durch das Konkrete der Sinne entstehenden Erleben ersetzt. Mit dem Begriff Erregung beziehen wir uns auf die Energie, die in der Physiologie der Kontakterfahrung wahrgenommen wird (Frank 2001; Kepner 1993). Das Konzept der Erregung ist für uns das physiologische Äquivalent des phänomenologischen Konzepts der Intentionalität (Cavaleri 2003).

Das Konzept der Bewusstheit, das sich erheblich von dem des Bewusstseins unterscheidet, beinhaltet, dass man beim In-Kontakt-Treten mit der Umwelt der Sinne gewahr ist und sich selbst auf spontane und harmonische Weise mit der Kontaktintentionalität identifiziert. Bewusstheit ist eine Eigenschaft von Kontakt und repräsentiert seine »Normalität« (Spagnuolo Lobb 2005c). Im Gegensatz dazu ist eine Neurose die Aufrechterhaltung von Isolation (im Organismus/Umwelt-Feld) durch eine Trübung der Funktion des Bewusstseins.

Dieses Konzept bereitet den Boden für eine Geisteshaltung, mit der die TherapeutIn an der Kontaktgrenze mit der PatientIn präsent sein kann. Gleichzeitig hilft sie ihr, oberflächliche diagnostische Interpretationen des/der anderen zu vermeiden. Nur durch den Glauben an die inhärente Fähigkeit des Menschen, in einem bestimmten Moment und einer bestimmten Situation das Bestmögliche zu tun, findet die GestalttherapeutIn eine Möglichkeit, im therapeutischen Kontakt und in der therapeutischen Beziehung zu sein, ohne sich auf externe diagnostische Muster zu verlassen. Es ist die Bewusstheit, die sie befähigt, jedes Mal eine neue therapeutische Lösung zu finden.

3.6 Die Figur/Hintergrund-Dynamik

Im klinischen Bereich führt dieser hermeneutische Aspekt des therapeutischen Kontakts dazu, dass die TherapeutIn sich als Teil der Situation begreift. Sie unterstützt das Ad-gredi, das der Differenzierung innewohnt (wobei es sich um das Ad-gredi der PatientIn und das eigene Ad-gredi handeln sollte), findet ihre Rolle in der Behandlung und passt ihr Verhalten an diese Rolle an. Sie bleibt nicht so sehr mit verstandesmäßigen Kategorien, sondern eher mit ihren Sinnen an der Kontaktgrenze. Sie übernimmt die Auffassung von einer einheitlichen Beschaffenheit von Organismus und Umwelt und fragt sich: »Wie trage ich zum Erleben der PatientIn in diesem Moment bei?« Diese Frage wird nicht im Kontext von Aktion/Reaktion gestellt, es geht auch nicht darum, Verantwortung zu übernehmen. Vielmehr birgt sie die Überlegung: »Welchem Erlebenshintergrund des therapeutischen Kontaktes entspringt die Figur, die die PatientIn gerade erschafft?« Es geht nicht um eine moralische Zuschreibung von Verantwortung, sondern darum, neugierig auf die Wahrnehmung zu sein, die eine PatientIn im Jetzt, in dieser bestimmten Situation, hat. Es ist ein »lebendiges« Interesse an den Wahrnehmungen der PatientIn, von denen die TherapeutIn mit ihren Gefühlen und Empfindungen ein wichtiger Teil ist. Ihre Gefühle und Empfindungen tragen auf jeden Fall zum ko-kreierten phänomenologischen Feld bei. Die Definition der therapeutischen Situation selbst (die TherapeutIn bietet eine Behandlung, um die die PatientIn ersucht) »bestimmt« das phänomenologische Feld, in das beide, TherapeutIn und PatientIn, eintauchen.

Ein Beispiel: Die PatientIn erzählt der Therapeutin, dass sie in der Nacht vor der Sitzung von einer unüberwindbaren Mauer geträumt hat. Die TherapeutIn fragt sich: »Wie kommt es, dass ich dieser PatientIn in der letzten Sitzung wie eine unüberwindbare Mauer erschienen bin?«

Hier gilt es, nicht die Übertragungslogik der Projektion, sondern die Figur/Hintergrund-Dynamik näher zu betrachten. Die TherapeutIn fragt sich: »Warum sucht sich die PatientIn aus den vielen möglichen Stimuli, die meine Anwesenheit bietet, einige aus, während sie andere ignoriert?« Die Hypothese besagt, dass es für diesen bestimmten Stimulus einen »Aufhänger« gibt, in Gestalt eines beziehungsbezogenen Bedürfnisses, das die PatientIn erfüllen will. Ihre Projektion (hier wäre es besser, von Wahrnehmung zu sprechen) hat immer mit der TherapeutIn selbst zu tun, deren persönliche Eigenschaften als notwendige Aspekte für die Ko-Kreation der Beziehung betrachtet werden.

In dem klinischen Beispiel sagt die PatientIn zu Beginn der Sitzung: »Letzte Nacht habe ich von einer Mauer geträumt. Sie ragte vor mir auf, unüberwindbar. Ich konnte weder ihren Anfang noch ihr Ende sehen. Ich bin mit dem Gefühl aufgewacht, nicht weitergehen zu können. Ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen sollte.« Welchem Erlebenshintergrund entspringt die Figur der Mauer? Und was noch wichtiger ist: Welche Kontaktintentionalität bestimmt die Entstehung dieser Figur? Wenn der Hintergrund der Erfahrung zu dem phänomenologischen Feld gehört, das durch die Anwesenheit von PatientIn und TherapeutIn ko-kreiert wird, muss die Entstehung der Figur mit diesem Kontakt zu tun haben.

Der folgende Dialog entwickelt sich:

Die TherapeutIn fragt: »Wie kommt es, dass ich Ihnen in der letzten Sitzung wie eine unüberwindbare Mauer erschienen bin?«

Die PatientIn ist ein wenig aufgebracht. Sie sagt: »Sie … die Mauer …?«

TherapeutIn: »Konzentrieren Sie sich auf die Erfahrung mit der Mauer in Ihrem Traum und denken Sie an unsere letzte Sitzung. Denken Sie, dass da eine Übereinstimmung besteht?«

Die PatientIn denkt konzentriert nach, dann sagt sie: »Es war, als ich vor Ihnen die Fassung verloren habe. In diesem Moment hätte ich Sie gern umarmt. Sie zeigten keine Regung. Ich habe mich so gefühlt wie mit meinem Vater, als ich klein war. Ich konnte ihm nie sagen, wenn ich ein Problem hatte oder wenn ich glücklich war. All meine Versuche, ihn zu erreichen, wurden von seiner Strenge abgeschmettert. Sein ernster Blick war wie ein Blitz, der mich erstarren ließ. Bei Ihnen hatte ich das Gefühl, aus dem Gleichgewicht zu sein: Ich wusste nicht, wo ich in diesem Moment hin sollte. Vielleicht ist es sinnlos, spontan sein zu wollen.«

Die TherapeutIn: »Also war ich eine Mauer für Sie, als ich ihr Gefühl nicht akzeptiert habe. Danke, dass Sie mir die Gelegenheit geben, jetzt nicht so zu sein. Versuchen Sie, mir zu sagen, was Sie mir über ihr Gefühl in der letzten Sitzung nicht erzählt haben. Ich höre Ihnen zu.«

PatientIn: »Ich schäme mich ein bisschen.«

TherapeutIn: »Sie sind so daran gewöhnt, unüberwindbare Mauern vor sich zu haben, dass es Ihnen peinlich ist, wenn keine Mauer da ist.«

PatientIn: »Stimmt, das ist etwas Neues für mich.«

TherapeutIn: »Atmen Sie ein, sehen Sie mich an und erzählen Sie mir, wenn Sie bereit sind – beim Ausatmen – von Ihrem Gefühl. Ich höre Ihnen zu.«

Die PatientIn holt tief Luft, sieht die TherapeutIn an und sagt langsam: »Sie sind wichtig für mich. Ich mag Ihre Geduld, die Wärme, die ich intuitiv bei Ihnen spüre, wenn ich Sie ansehe. Danke, dass Sie hier bei mir sind.«

TherapeutIn: »Wie geht es Ihnen jetzt?«

PatientIn: »Gut, ich habe das Gefühl, das getan zu haben, was ich tun wollte. Ich fühle mich leicht und ich weiß, wo ich hin will. Es war wichtig für mich, Ihnen das zu sagen.«

Die TherapeutIn definiert die von der PatientIn eingebrachte Figur (die unüberwindbare Mauer) als eine sich herausbildende Eigenschaft der Figur/Hintergrund-Dynamik, die den therapeutischen Kontakt belebt. Dadurch kann sie die Kontaktintentionalität der PatientIn nachvollziehen und unterstützen, sodass sie sich im Kontakt zwischen ihnen entwickeln konnte. Man könnte fragen, wie wichtig es in diesem Fall gewesen wäre, mit einer tatsächlichen Umarmung den »Übergang« zu fördern. Meiner Meinung nach musste in diesem Fall die Unterstützung eher darauf gerichtet sein, den Wunsch nach einer Umarmung offenzulegen, sich selbst als jemand zu definieren, der eine Umarmung will, statt die physische Bewegung zu vollziehen: eine Unterstützung der Persönlichkeits-Funktion und nicht so sehr der Es-Funktion des Selbst (siehe Kapitel 2). Die konkrete Umarmung wird durch diese auf der Definition des Selbst basierende Unterstützung des Kontaktes mit dem/der anderen möglich. Es ist wichtig, dass die GestalttherapeutIn den Übergang nicht als Allheilmittel für die PatientIn betrachtet, sondern die Sensibilität entwickelt zu entscheiden, was tatsächlich nützlich für die PatientIn ist. Das Risiko besteht in der Retroflexion unausgesprochener Gefühle seitens der TherapeutIn selbst und seitens der PatientIn. Dieser Zustand würde Abhängigkeit und eine Desensibilisierung an der Kontaktgrenze zwischen ihnen schaffen. Angesichts der Verführung einer Umarmung von der TherapeutIn sagt die PatientIn dann nichts und bleibt mit einem verwirrten Nachgeschmack zurück (das war nicht wirklich das, was sie wollte), der möglicherweise außerhalb der Sitzung als Kritik an der TherapeutIn oder der Psychotherapie verbalisiert wird. Um nicht unkritisch in überholten, verallgemeinernden humanistischen Mustern stecken zu bleiben, muss eine GestalttherapeutIn in der Lage sein, die Kontaktintentionalität nachzuvollziehen, die eine Figur aus einem spezifischen Hintergrund des beziehungsorientierten Erlebens der PatientIn heraus entstehen lässt.

3.7 Das Selbst als Prozess, Funktion und Kontaktereignis

Eine Schwäche in der psychoanalytischen Theorie des Ich brachte die Begründer der Gestalttherapie dazu, eine neue Theorie des Selbst aufzustellen:

In der psychoanalytischen Literatur ist die Theorie des Selbst oder des Ich jeweils das notorisch schwächste Kapitel. In diesem Buch wagen wir es, eine neue Theorie des Selbst oder Ich zu entwickeln, indem wir die große Wirkung der schöpferischen Anpassung nicht weiterhin auslöschen, sondern bestärken. (Perls / Hefferline / Goodman, 2006, Bd. I, 49 f.)

Das Selbst, der Dreh- und Angelpunkt, auf dem alle psychotherapeutischen Ansätze basieren, wird in der Gestalt-Therapie als die Fähigkeit des Organismus betrachtet, spontan, absichtlich und kreativ in Kontakt mit seiner Umwelt zu treten. Das Selbst hat die Funktion, in Kontakt mit seiner Umwelt zu treten (in unserem Sprachgebrauch ist dies das »Wie« der menschlichen Natur).

Das Verständnis vom »Selbst als Funktion« ist unter den psychotherapeutischen und den Persönlichkeitstheorien nach wie vor eine einzigartige Sichtweise. Die Theorie der Gestalttherapie erforscht das Selbst als Funktion des Organismus/Umwelt-Felds im Kontakt, nicht als Struktur oder Instanz. Dieser Ansatz gründet sich nicht so sehr auf der Ablehnung von Inhalten und Strukturen. Vielmehr basiert er auf der Überzeugung, dass jeder, der sich eingehend mit der menschlichen Natur befasst, die Kriterien untersuchen muss, die Spontaneität hervorrufen, und nicht die Kriterien, die eine Schematisierung menschlichen Verhaltens begünstigen.

Was bedeutet die Aussage, dass das Selbst als Funktion eine Fähigkeit oder einen Prozess ausdrückt? Nehmen wir das Beispiel eines neugeborenes Babys, das Milch trinkt: Es weiß, wie man trinkt. Die Fähigkeit des Kindes zu trinken (und später zu beißen, zu kauen, zu sitzen, zu stehen, zu gehen usw.) bringt das Kind in Kontakt mit der Welt und fördert seine Spontaneität. Wenn man dem Kind das Trinken verbietet (das Beißen, Kauen, Stehen, Gehen usw.), muss es kompensieren, indem es den Kontakt auf andere Weise herstellt. Es sucht also nach einer kreativen Anpassung an die Situation.

Wenn ein Kind zum Beispiel schlechte Milch zu trinken bekommt oder für seine Krabbel-, Steh- oder Gehversuche bestraft wird, wird es von dieser Erfahrung nachhaltig beeinflusst. Die Gestalttherapie ist jedoch nicht daran interessiert, die Qualität der Milch oder das Verhalten der Eltern zu beurteilen: Sie richtet ihr Augenmerk vielmehr auf die Reaktion des Kindes. Dadurch können wir beobachten, wie man den Organismus unterstützen kann, damit er sein spontanes Funktionieren wiedererlangt. Nach unserer Auffassung lebt der Organismus für und durch dieses spontane Funktionieren: Kontakt, der durch mehrere Fähigkeiten zustande kommt. PatientInnen entdecken ihre Spontaneität nicht nur dadurch wieder, dass sie herausfinden, was nicht gut für sie war, sondern auch dadurch, dass sie neue Möglichkeiten erleben, in Kontakt zu treten, oder neue Fähigkeiten erschließen, spontan neue kreative Anpassungen vorzunehmen. Kurz gesagt dadurch, dass sie das Erleben des Organismus/Umwelt-Felds neu organisieren.

3.7.1. Die drei Funktionen des Selbst

Nachdem sie das Selbst als komplexes System von Kontakten definiert hatten, die für die Anpassung in einem schwierigen Feld notwendig sind, beschrieben die Autoren des Standardwerkes zur Gestalttherapie bestimmte »besondere Strukturen«, die das Selbst für »spezielle Zwecke« hervorbringt (ebd., 218). Diese Strukturen sind Gruppen von Erfahrungen, um die herum bestimmte Aspekte des Selbst organisiert sind. Die drei Autoren benutzen in ihrem Buch zwar psychoanalytische Begriffe (vor allem das Es und das Ich), die sie von dem damals gebräuchlichen psychologischen Vokabular »entliehen« haben, wie sie selbst sagen. Allerdings beschreiben sie sie in erlebnisorientiertem und phänomenologischem Sinn als Fähigkeiten der integrierten Funktionsweise in dem ganzheitlichen Kontext der Erfahrung, aus dem das Selbst besteht.

Dieser epistemologische Widerspruch sorgt für Verwirrung. Anstatt diese Begriffe durch andere, erlebnisorientierte zu ersetzen, versucht man in der aktuellen Entwicklung der gestalttherapeutischen Theorie, diese Teilstrukturen des Selbsterlebens zugunsten anderer Prozesse wie der Ko-Kreation der Kontaktgrenze in den Hintergrund zu stellen. Es, Ich und Persönlichkeit sind nur drei von vielen möglichen Erfahrungsstrukturen: Sie werden als Beispiele für die Fähigkeit eines Menschen verstanden, mit der Welt in Verbindung zu treten: das Es als sensomotorischer, wie »unter der Haut« wahrgenommener Hintergrund der Erfahrung, die Persönlichkeit als Assimilation früherer Kontakte und das Ich als »Motor«, der sich auf der Grundlage der beiden anderen Funktionen bewegt und auswählt, womit er sich identifizieren will und was ihm fremd ist. Wir werden uns diese drei Teilstrukturen des Selbst nun genauer ansehen.

Die Es-Funktion des Selbst

Die Es-Funktion wird als die Fähigkeit des Organismus definiert, mit der Umwelt in Kontakt zu treten: a) mithilfe des sensomotorischen Hintergrunds assimilierter Kontakte, b) durch physiologische Bedürfnisse und c) durch körperliche Erfahrungen und Empfindungen, die wahrgenommen werden, als geschähen sie »innerhalb der eigenen Haut« (inklusive unerledigter vergangener Situationen) (Lichtenberg/Lobb 2005, 28; vgl. Perls / Hefferline / Goodman 2006, 247).

a) Der Hintergrund der sensomotorischen Erfahrung von assimilierten Kontakten. Im Standardwerk von Perls, Hefferline und Goodman, Gestalttherapie, finden sich unterschiedliche Definitionen von »Kontakt«, die sich bisweilen zu widersprechen scheinen. So wird Kontakt einerseits als fortwährende Aktivität des Selbst beschrieben (das Selbst, das in fortwährendem Kontakt ist), andererseits aber auch als signifikante Erfahrung, die die vorangegangene Anpassung des Selbst verändern kann. Was ist Kontakt also? Ist es Kontakt (physischer Kontakt zwischen Teilen des Körpers und dem Stuhl), wenn man auf einem Stuhl sitzt? Oder ist es Kontakt, wenn man zum ersten Mal mit Leib und Seele mit jemandem Sex hat, den man sehr liebt? Gestalttherapie nennt zwei Arten von Kontakt: assimilierten Kontakt und den Kontakt, der etwas Neues bringt und zu Wachstum führt.

Normalerweise müssen wir nicht bei jedem Hinsetzen überprüfen, ob der Stuhl stabil genug ist, uns zu tragen, oder alle propriozeptiven und motorischen Abläufe Schritt für Schritt nachvollziehen, die uns das Sitzenbleiben ermöglichen. Nur ein dekonstruierendes Ereignis wie ein wackelnder Stuhl oder einer, der unter uns zusammenbricht, würde das Selbst an der Kontaktgrenze zwischen unserem Körper und dem Stuhl reaktivieren. Auf einem Stuhl zu sitzen schließt die Erfahrung des Hintergrundes mit ein (die wir uns nicht als Figur ins Gedächtnis rufen müssen), die wir uns in früheren Kontakten angeeignet haben. Auf einem Stuhl zu sitzen wird selbstverständlich.

Zu Beginn seines Lebens muss der Mensch alles lernen. Alles ist neu und muss ausprobiert, dekonstruiert und assimiliert werden. Das neugeborene Kind erlebt eine Verbindung zwischen seinem Weinen und dem Auftauchen der Mutter (oder ihrem Wegbleiben) und lernt, sein inneres Zeitgefühl zu steuern. Wenn die Mutter nicht reagiert, erlebt es möglicherweise Angst vor dem Verlassen-Werden. Der sensomotorische Hintergrund assimilierter Kontakte gehört dann zu dieser spezifischen Lernerfahrung, in der sich die Komplexität der psycho-physischen Entwicklung (Piaget 1950) und der körperlichen Erfahrung (Kepner 1993) spiegelt.

b) Physiologische Bedürfnisse. Im Kontext der gestalttherapeutischen Theorie, bei der das Selbst eine Funktion des Feldes ist, verursachen physiologische Bedürfnisse die vom Organismus ausgehende Erregung des Selbst. Das Selbst kann durch innere Erregung (ausgelöst durch das Auftreten eines physiologischen Bedürfnisses oder Ereignisses) oder durch einen äußeren Einfluss (durch ein Ereignis in der Umwelt) aktiviert werden. Diese Unterscheidung existiert jedoch nur in unserer Vorstellung, da das Selbst eine Funktion des Feldes ist. Es ist ein integrierter Prozess, bei dem ein Element in der Umwelt ein physiologisches Bedürfnis ebenso hervorrufen kann wie ein physiologisches Bedürfnis die Wahrnehmung eines Teils des Feldes anregen kann, der zuvor nicht wahrgenommen wurde. So kann uns bei einem Spaziergang in der sengenden Sonne der Anblick eines Brunnens an Durst erinnern, so wie der Durst uns animiert, in unserer Umwelt nach Wasser zu suchen. Diese wahrnehmungs- und beziehungsorientierten Dynamiken wurden ursprünglich von gestaltpsychologischen Theoretikern dargestellt (Köhler 1940; Koffka 1935).

c) Körperliche Erfahrung und was erlebt wird, als sei es »innerhalb der eigenen Haut«. Dieser dritte Aspekt der Es-Funktion führt die beiden bereits erläuterten Aspekte zusammen, indem er einer Erfahrung grundlegenden Vertrauens (oder Mangels an Vertrauen) beim In-Kontakt-Treten mit der Umwelt das Gefühl der Integration hinzufügt. Er spiegelt die zarte Beziehung zwischen Selbstunterstützung und der Unterstützung durch die Umwelt, zwischen einem Gefühl der inneren Fülle und dem Gefühl, dass man der Umwelt vertrauen kann.

Diese beiden Erfahrungen sind miteinander verbunden: Je mehr man erlebt, dass man der Umwelt vertrauen kann, desto mehr erlebt man innere Fülle als ein Nachlassen von Angst oder von physiologischen Wünschen. Umgekehrt ist es leichter möglich und auch zweckmäßig, sich der Welt anzuvertrauen, je stärker das innere Gefühl der Sicherheit ist. Laura Perls widmete dieser Verbindung in ihrer klinischen Arbeit große Aufmerksamkeit. Sie beobachtete Haltung und Gang ihrer PatientInnen genau und leitete daraus Anpassungen in ihren Interventionen ab. Dabei legte sie vor allem Wert auf das Gefühl der Selbstunterstützung, das aus der Beziehung mit der Unterstützung der Umwelt entstand (L. Perls 1990). Isadore From wiederum stellte eine Verbindung zwischen psychotischem Erleben und einer starken Angst her, die das In-Kontakt-Treten durch dieses Erleben des Selbst charakterisiert. Psychotiker erleben das, was sie als »innerhalb der eigenen Haut« wahrnehmen, nicht nur als äußerst beängstigend, sondern vor allem als etwas, das ununterscheidbar ist oder vermischt mit dem, was »außerhalb der eigenen Haut« ist. Bei einer psychotischen Störung sehen wir also den Mangel an Wahrnehmung der Grenze zwischen Innen und Außen (siehe Spagnuolo Lobb 2003a).

Die Persönlichkeits-Funktion

Die Persönlichkeits-Funktion drückt die Fähigkeit des Selbst aus, auf Basis dessen, was man geworden ist, mit der Umwelt in Kontakt zu treten. »Die Persönlichkeit ist das System der Haltungen, die man in zwischenmenschlichen Beziehungen einnimmt. […] Aber die Persönlichkeit ist im Wesentlichen nur ein verbaler Ausdruck des Selbst.« (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. I, 223 f.) Die Persönlichkeits-Funktion wird also durch die Antwort des Subjektes auf die Frage »Wer bin ich?« ausgedrückt. Es ist der Bezugsrahmen für die Grundeinstellungen des Individuums (Bloom 1997).

Im Widerspruch zu dem, was man aus Parallelen mit psychodynamischen Theorien schließen könnte, ist die Persönlichkeits-Funktion kein normativer Aspekt der psychischen Struktur. Die Persönlichkeits-Funktion drückt die Fähigkeit aus, auf der Grundlage einer bestimmten Definition des Selbst mit der Umwelt in Kontakt zu treten. Wenn ich mich zum Beispiel für schüchtern und verklemmt halte, gehe ich ganz anders in Kontakt mit meiner Umwelt als jemand, der sich selbst als draufgängerisch und extrovertiert definiert. Dieses Konzept erinnert an G. H. Meads (1934) empirisches »Mich«, dessen Theorie Paul Goodman beeinflusst hat (siehe Kitzler 2007). Die Persönlichkeits-Funktion beeinflusst, wie wir unsere sozialen Rollen gestalten (zum Beispiel Student, Eltern usw. werden), wie wir vorhergehende Kontakte assimilieren und uns kreativ an die durch Wachstum auferlegten Veränderungen anpassen.

Einer der grundlegenden Aspekte, auf die eine TherapeutIn achten muss, ist also die Funktionsweise des Selbst auf der Ebene der Persönlichkeits-Funktion. Zum Beispiel verwendet ein achtjähriger Junge spontan eine seinem Alter angemessene Sprache. Wenn er sich in der Sprache der Erwachsenen ausdrückt, kann dies als Merkmal einer gestörten Persönlichkeits-Funktion interpretiert werden (da es eine Modalität ist, mit der Umwelt in Kontakt zu treten). Dasselbe kann man von einer Vierzigjährigen sagen, die wie eine Sechzehnjährige spricht, von einer Mutter, die sich ihren Kindern gegenüber wie eine Freundin oder Schwester verhält, von einer StudentIn, die sich wie eine ProfessorIn benimmt oder von einer PatientIn, die sich selbst als jemand definiert, der keine Hilfe braucht.

Die Ich-Funktion

Die Ich-Funktion drückt eine andere Fähigkeit des Selbst-in-Kontakt aus: die Fähigkeit, sich mit Teilen des Felds zu identifizieren oder sich von ihnen zu entfremden (Das bin ich, das bin ich nicht). Die Macht zu wünschen und zu entscheiden charakterisiert die Einzigartigkeit individueller Entscheidungen. Es ist der Wille als Kraft, im Sinne von Otto Ranks Denken (1941, 50), die autonom organisiert ist. Sie ist weder ein biologischer Impuls noch ein sozialer Trieb, sondern stellt vielmehr den kreativen Ausdruck der ganzen Person dar (Müller 1991, 45).

Die Ich-Funktion greift also dadurch in den Prozess der kreativen Anpassung ein, dass sie Entscheidungen trifft, sich mit manchen Teilen des Felds identifiziert und sich von anderen Teilen entfremdet. Das Ich ist die Funktion des Selbst, die dem Individuum das Gefühl vermittelt, aktiv und absichtsvoll zu sein. Diese Intentionalität wird vom Selbst spontan ausgeübt, das sie mit Stärke, Bewusstheit, Erregung und der Fähigkeit entwickelt, neue Gestalten zu schaffen. »Es ist absichtsvoll, im aktiven Modus, sensorisch wach und motorisch aggressiv und sich seiner Selbst unabhängig von der Situation bewusst« (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. I, 220). Gemäß dem Werk Gestalttherapie sind es genau diese charakteristischen Merkmale der Ich-Funktion, die uns dazu bringen, dass wir das Ich als Agens des Erlebens betrachten. Haben wir diese Abstraktion erst einmal vorgenommen, denken wir uns die Umwelt nicht länger als einen Pol von Erfahrung, sondern als eine weit entfernte Außenwelt, sodass wir Ich und Umwelt leider nicht als Teile ein und desselben Ereignisses sehen. Die Ich-Funktion arbeitet auf der Grundlage der Information, die von allen anderen Strukturen des Selbst geliefert wird. Die Fähigkeit, spontan zu entscheiden, wird in Übereinstimmung mit der Fähigkeit ausgeübt, mit der Umwelt in Kontakt zu treten, und zwar durch das, was als »innerhalb der Haut« wahrgenommen wird (Es-Funktion), und was durch die Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« definiert wird (Persönlichkeits-Funktion). Es ist die Fähigkeit zu introjizieren, zu projizieren, zu retroflektieren und vollständig in Kontakt zu treten.

An dieser Stelle ist ein didaktisches Beispiel hilfreich. Ein Gefühl, normalerweise als einheitliches Phänomen wahrgenommen, lässt sich gemäß den verschiedenen Funktionen des Selbst beschreiben. Der Es-Funktion entsprechend werden die Muskeln beim Erleben eines Gefühls als entspannt oder angespannt, die Atmung als frei und offen oder eingeschränkt wahrgenommen. Die Persönlichkeits-Funktion definiert das Gefühl als Teil des Selbst (»Ich gehöre zu den Menschen, die solche Gefühle haben«). Die Ich-Funktion ermöglicht das Entstehen von Erregung im Zusammenhang mit dem Gefühl, zum Beispiel durch Introjektion (das Erleben wird als »Ich bin bewegt, das ist in Ordnung für mich« definiert), durch Projektion (man bemerkt, dass auch in der Umwelt Erregung existiert, indem man z. B. sagt »Ich kann sehen, dass auch andere Menschen bewegt sind«), oder durch Retroflexion (man vermeidet vollständigen Kontakt mit der Umwelt, indem man sich zurückzieht oder die Energie auf das Selbst richtet und z. B. sagt: »Ich möchte alleine damit fertig werden«).

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