Kitabı oku: «Gestalttherapie in der klinischen Praxis», sayfa 8
5. Schlussfolgerung
Die Gestalttherapie bietet einen reichen Hintergrund und wertvolle Werkzeuge zum Verständnis menschlichen Leidens: Wir denken, dass es auf dieser Basis möglich ist, eine gestalttherapeutische Psychopathologie zu begründen, die mit unserer Epistemologie übereinstimmt und in der klinischen Praxis nützlich ist. Man kann menschliches Leiden als sich herausbildende Figur betrachten, die vom Individuum ausgedrückt und vom Beziehungsfeld fortgesetzt wird.
Unser Leben und unsere Beziehungen bescheren jedem von uns eine ganz individuelle Hinterlassenschaft voller Schmerz und Freude, Begrenzungen und Ressourcen. Wir haben die Chance, sie in Schönheit und volle Präsenz zu verwandeln. Dies kann als das künstlerische oeuvre eines jeden Lebens betrachtet werden. Als TherapeutInnen setzen wir uns tagtäglich für diesen Transformationsprozess ein: Wir unterstützen Menschen in ihren Anstrengungen, Schmerz in Schönheit zu verwandeln, »Freude aus dem Leid zu destillieren«, wie ein Patient zu einem der Autoren sagte. Von diesem Standpunkt aus betrachtet wird die tiefe und große Bedeutung unserer Arbeit deutlich. Um diese Unterstützung bieten zu können, müssen wir jedoch mitfühlend sein und verstehen, welchen Kontakt und welche Beziehung der leidende Mensch braucht. Und wir müssen bereit sein, diese Aufgabe mit unserem Leben anzugehen.
Wie Alda Merini, eine Schriftstellerin, die an psychotischem Erleben litt, einst sagte: »Schmerz ist nichts als die Überraschung, einander nicht zu kennen.« (2003)
Kommentar
Peter Philippson
Ich möchte den Autoren dazu gratulieren, dass sie ein so wichtiges und aktuelles Thema aufgegriffen haben: die Bedeutung der Psychopathologie in einem beziehungsgebundenen Bezugsrahmen. Wir dürfen nicht in die Falle tappen und das, was die PatientIn uns bringt, als gegeben betrachten, das die TherapeutIn oder PsychiaterIn nur beobachtet oder diagnostiziert und behandelt. Zwei Überzeugungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Gestalttherapie: Ein Mensch passt sich nicht an Situationen an, in die er hineingeht, und die Psychotherapie ist nicht allein dazu da, ihm zu einer besseren Anpassung zu verhelfen. Die Art und Weise, wie ein Mensch in die Situation hineingeht (voller Selbstbewusstsein, Angst, Aggressivität, Erotik) beeinflusst nicht nur sein Erleben der Situation, sondern auch die Wirklichkeit, die er vorfindet. Dies trifft natürlich auch auf alle anderen Menschen zu, die Teil der Situation sind. Es ist dieses Eintreten in das »Ereignis des Anderen« (Robine 2012), das in der Therapie untersucht wird.
Und doch denke ich, dass es falsch ist, von einem »Leiden des Feldes (oder der Beziehung, der Kontaktgrenze)« zu sprechen, wie es in diesem Kapitel der Fall ist. Mit dem »Leiden« wird das Erleben bewertet und dieses Werturteil bezieht sich auf Menschen und nicht auf das Feld oder die Beziehung. Es ist gut möglich, dass sich ein Mensch in einer Beziehung wohlfühlt und ganz verblüfft ist, wenn er erfährt, dass es dem/der Anderen nicht so geht. Und es ist auch möglich, dass ein Mensch eine Beziehung, in der beide glücklich sind, gar nicht zulässt. Ich möchte dies anhand eines Vergleiches verdeutlichen: Fabrikabgase verursachen »sauren Regen«, der schädlich für die Bäume ist. In dieser Hinsicht sind sie also schlecht für die Umwelt. Andererseits entzieht der saure Regen der Atmosphäre mehr Treibhausgase als normaler Regen und vermindert dadurch die Erderwärmung. Was einem Teil des Systems schadet, kann gleichzeitig einen anderen Teil stärken: Das ergibt sich aus der Evolution. Die Aussage, dass eine Situation, in der jemand leidet, das ganze Feld betrifft, heißt nicht zwangsläufig, dass das Leiden zum gesamten Feld gehört. Es ist nicht der Hintergrund, der der »Figur Bedeutung verleiht«: Die Bedeutung entsteht in der Interaktion zwischen Figur und Hintergrund, wenn ihnen beiden von einem Menschen Energie und Emotion zugeführt wird. Weder Figur noch Hintergrund haben jenseits der Wahrnehmung durch einen Menschen eine Bedeutung.
Außerdem gehen die Autoren davon aus, dass Beziehungen eine Gegebenheit sind. Manche Menschen arbeiten jedoch an einer Beziehung und andere beenden sie. Wenn sich jemand bei seinen Freunden über seine PartnerIn beschwert, bekommt er womöglich zu hören: »Verlasse sie und dann wirst du glücklich«, und in manchen Fällen würde das tatsächlich zutreffen. Bei den Situationen, mit denen eine TherapeutIn zu tun hat, ist das zugrunde liegende Problem, dass die Menschen früher oder später wieder eine ähnliche Beziehung eingehen. Die PartnerIn ist in diesen Prozess involviert, doch ist es das, womit wir arbeiten? Aus gestalttherapeutischer Perspektive würden wir uns ansehen, auf welche Weise die TherapeutIn/KlientIn-Beziehung schwierig wird und was passiert, wenn wir nicht den Pfaden folgen, die die KlientIn in ihren Beziehungen normalerweise einschlägt. Ich würde das nicht als leidende Beziehung zwischen TherapeutIn und KlientIn betrachten, sondern als eine Komplikation, die ein Schlaglicht auf die fixierten Prozesse wirft, für die sich die Klientin anbietet, an denen sie beteiligt ist und die ihr Leiden verursachen. Tatsächlich wäre es problematisch, wenn sich die KlientIn bei der TherapeutIn »gut benehmen« und nur von ihren Beziehungsschwierigkeiten berichten würde.
Dies führt uns zu einem weiteren Problem bei der Betrachtung von Leiden als beziehungsgebundenes Element. TherapeutInnen arbeiten normalerweise nicht mit beiden PartnerInnen. Der andere Teil einer Beziehung ist in der Therapie also nur durch die Berichte der Klientin anwesend. Die signifikanteste Dynamik in der Therapiesituation ist die Beziehung mit der TherapeutIn und diese Berichte gehören eher zu dieser Beziehung als zu der mit der Partnerin. Möglicherweise will die KlientIn die TherapeutIn davon überzeugen, dass sie keine Schuld hat oder dass sie an allem Schuld ist. Ich sage meinen SupervisandInnen immer, sie sollen sich vorstellen, dass ihre KlientIn sie ihrer Partnerin beschreibt: Würden sie sich in der Beschreibung wiedererkennen? Und wenn nicht, warum gehen sie dann davon aus, dass sich die Partnerin in der Beschreibung wiederfinden würde, die die KlientIn ihnen von ihr gegeben hat? Diejenigen von uns, die mit Paaren arbeiten, wissen, dass ein und dieselbe Beziehung von zwei Menschen sehr unterschiedlich beschrieben werden kann.
Wie lässt sich ein feldorientierter Ansatz zur Psychopathologie aber nun konzeptualisieren? Glücklicherweise bin ich der Meinung, dass uns die Theorie der Gestalttherapie die Antwort auf diese Frage liefert. Die Pathologie ist wahrhaftig eine Pathologie der Psyche oder des Selbst, also von unbewussten Mustern bei der Neurose oder von einer Abwesenheit einer funktionierenden Selbst-/Andere(r)-Grenze bei der Psychose. Doch da sich das Selbst durch das In-Kontakt-Treten und bereits erlebte Kontakte bildet -auch wenn es sich um Muster handelt, die Teil des Selbstprozesses des Individuums sind – , entsteht Veränderung durch neue Kontakte und Beziehungsmöglichkeiten in der Therapie in Verbindung mit der Weigerung der TherapeutIn, den gewohnten Mustern zu folgen. Selbst das Konzept der »Unterstützung« muss man eher als beziehungsorientierten Vorgang betrachten und nicht als etwas, das ein Mensch dem anderen gibt. Zu Unterstützung gehört gleichermaßen das, was gegeben und das was empfangen wird, und kann durchaus passieren, dass sich jemand einfach »ununterstützbar« macht. Umgekehrt kann die KlientIn fixierte Muster nur dann aufrechterhalten, wenn die TherapeutIn diese Haltung durch ihr eigenes Verhalten zu untermauern scheint. Das könnte passieren, wenn sich die KlientIn von der TherapeutIn darin bestätigt sieht, dass sie schlecht und falsch ist, oder wenn sie den Eindruck hat, dass die Erwartung der TherapeutIn an ihre Anpassungsbereitschaft die elterlichen Ansprüche spiegelt, denen sie sich problemlos widersetzen kann.
3. Diagnose: Ein gestalttherapeutischer Ansatz
Jan Roubal, Michela Gecele und Gianni Francesetti
1. Einleitung
Ist das Stellen einer Diagnose zwangsläufig eine objektivierende Handlung? Verhindert eine Diagnose den Kontakt oder unterstützt sie den therapeutischen Prozess? Diese Fragen haben uns angeregt, dieses Kapitel zu schreiben. Wir, die Autoren, sind zwei Psychiater und eine Psychiaterin und bringen unsere Kompetenz und unsere Art zu denken in diese Arbeit ein. Wir können und wollen weder das eine noch das andere vergessen. Vielmehr versuchen wir, diese beiden Aspekte zu formulieren und sie anzuwenden, um einen präziseren Beitrag zu leisten und mögliche Brücken zwischen der psychiatrischen Praxis und der Gestalttherapie zu bauen.1
Eine Diagnose kann als ein Zeichen verstanden werden, das der klinischen Situation Bedeutung verleiht. Die GestalttherapeutIn ist im Hier und Jetzt der Begegnung mit der KlientIn verwurzelt, sie versteht die Situation auf eine bestimmte Art und Weise, orientiert sich in ihr und richtet ihre Interventionen danach aus. An diesem Punkt scheint eine Reisemetapher nützlich. In einer Psychotherapie begeben sich TherapeutIn und KlientIn gemeinsam auf eine Entdeckungsreise. Die TherapeutIn übernimmt eine bestimmte Rolle und Verantwortung, manchmal führt sie, manchmal lässt sie sich führen. Gemeinsam entdecken sie die interessanten, nützlichen und riskanten Eigenarten des Geländes. Ihre Reise kann ein klares Ziel haben oder auch nicht.
Sie können sich verirren. Dann muss die TherapeutIn innehalten und sich mithilfe von Landkarten orientieren. Wenn das in einer klinischen Situation der Fall ist, muss sich die TherapeutIn vorübergehend zurückziehen und sich Zeit nehmen, damit sich ihr die Bedeutung der therapeutischen Situation erschließt.2 Nun kann sie dieser Bedeutung einen Namen geben, d. h. sie stellt eine Diagnose. Die TherapeutIn verändert vorübergehend und bewusst den Fokus.
In diesem Moment konzentriert sie sich nicht auf die KlientIn und die Beziehung. Vielmehr richtet sie ihr Augenmerk darauf, die Bedeutung der Situation zu beschreiben, die hier einen »Dritten« darstellt. Durch die vorübergehende Verlagerung des Fokus flieht die TherapeutIn nicht aus dem Kontakt mit der KlientIn, sondern fördert ihn, wie jemand, der auf einen Punkt auf einer Landkarte zeigt und sich Informationen für die Weiterreise beschafft. So gehen Interventionen in verschiedene Richtungen, je nachdem, ob KlientIn und TherapeutIn z. B. Teil eines Borderline-Feldes oder Teil eines psychotischen Feldes sind. In einer klinischen Situation dient eine Diagnose als Landkarte. Dabei muss die Landkarte komplexe Sachverhalte vereinfachen, um von Nutzen zu sein. Aus diesem Grund sollten wir es einer Diagnose nicht ankreiden, wenn sie das Leiden eines Menschen nicht in seiner ganzen Komplexität erfasst.
Bei der Ausrichtung einer therapeutischen Beziehung gibt es zwei Arten von Diagnosen (Francesetti / Gecele 2009). Die erste, die wir oben kurz beschrieben haben, können wir die extrinsische (also von außen kommende) oder Landkartendiagnose nennen. Sie ergibt sich aus einem Vergleich zwischen einem Modell des Phänomens und dem Phänomen selbst und entsteht, wenn sich die TherapeutIn bewusst darauf konzentriert, die Bedeutung der Situation zu beschreiben. In der Begegnung mit der KlientIn kann die TherapeutIn jedoch nicht immer wieder einen Moment lang innehalten und überlegen, wie sie die Situation versteht. In der Praxis kann sie das nur von Zeit zu Zeit und wahrscheinlich meist erst nach der Sitzung tun. Im Dialog antwortet die TherapeutIn sofort. Sie reagiert unmittelbar mit einem Wort, einer Geste oder einem bestimmten Tonfall. Hier hat sie auch Orientierungshilfen für ihre Reaktionen. Diese Orientierungshilfen entstehen nicht aus einer vorübergehenden Verlagerung des Fokus (vom Gelände auf die Landkarte), sondern vielmehr dadurch, dass sie sich ganz auf den Fluss der Beziehung einlässt. Die TherapeutIn fühlt sich vollkommen in den Kontaktprozess eingebunden und unterstützt die Beziehung in ihrer Gesamtheit.
Die zweite Art der Diagnose, die spezifische Diagnose der Gestalttherapie, können wir intrinsische (also inhärente) oder ästhetische Diagnose nennen. Sie entsteht aus dem ästhetischen Kriterium (Joe Lay, in Bloom 2003) und ergibt sich aus der Wahrnehmung des Flusses und der Anmut dessen, was passiert oder eben nicht passiert. Nach dieser Wahrnehmung richtet die TherapeutIn ihr Mit-der-KlientIn-Sein aus. Wir können die extrinsische Diagnose mit einer Landkarte des Geländes der therapeutischen Gegebenheiten vergleichen. Die intrinsische Diagnose können wir als Gespür für die Richtung betrachten, dem die TherapeutIn auf ihrer Reise durch das Gelände folgt. Beide Arten der Diagnose dienen der TherapeutIn zur besseren Orientierung, doch jede auf andere Weise. Eine Landkarte bietet Überblick und Verstehen, das Gespür für die Richtung ist wichtig für unmittelbare Entscheidungen und Schritte auf unbekanntem Terrain.
2. Intrinsische oder ästhetische Diagnose
Es gibt zwei Arten der Evaluation: die intrinsische und die vergleichende. Intrinsische Evaluation geschieht im Verlauf jedes Geschehens; es ist die Gerichtetheit des Prozesses, die unerledigte Situation, die sich zu einem Abschluß hin, die Spannung, die sich auf den Orgasmus zubewegt usw. Bei dieser Evaluation ergibt sich der Standard aus dem Geschehen und ist letztlich das Geschehen selbst als Ganzes. (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 101)
In jedem Augenblick finden auf chaotische und unvorhersagbare Weise Interaktionen zwischen TherapeutIn und PatientIn statt, die in Sekundenbruchteilen Tausende Elemente ins Spiel bringen. Die Interaktion ist unglaublich komplex: Sie ist visuell, auditiv, taktil, muskulär, glandulär, neurologisch, gustatorisch und olfaktorisch und reaktiviert Erinnerungsschichten, die abwartend fluktuieren, bereit, zur Bildung einer Figur beizutragen. Außerdem umfasst sie Erwartungen und Vergleiche mit Tausenden von Kontakten und Gesichtern. Wie sollen wir uns in dieser Komplexität zurechtfinden?
Wir können die Situation beobachten, beschreiben und eine Landkarte erstellen, die als Werkzeug zur Orientierung dienen kann. Wie man diese Landkarte, eine extrinsische Diagnose, erstellt und verwendet, wird später in diesem Kapitel beschrieben.
Wir können aber auch in diesem Beziehungschaos bleiben, navigieren und auf den Wellen dieses Meeres schwimmen, »das niemals stillsteht«. Die Orientierung wird dann durch eine Diagnose ermöglicht, wie sie traditionellerweise in der Gestalttherapie kultiviert wird. Sie basiert auf einer gefühlten ästhetischen Bewertung und entsteht Moment für Moment an der Kontaktgrenze. Die Bezeichnung »Diagnose« trifft auch deshalb zu, weil sie der TherapeutIn Orientierung bietet. Außerdem stellt sie Wissen (gnosis) um das Hier und Jetzt in der Beziehung durch (dia) die Sinne dar. Bei dieser Diagnose wird kein Vergleich zwischen einem Modell und einem Phänomen angestellt. Wir nennen diese zweite Art von Diagnose die »intrinsische oder ästhetische Diagnose«, weil sie prozessinhärent ist und auf der Wahrnehmung durch die Sinne basiert (auf Griechisch bedeutet aisthesis »durch die Sinne wahrnehmbar«).
Diese Art der Orientierung basiert auf einer intuitiven Evaluation einer Kontaktsituation: Es handelt sich um eine bestimmte Art von Wissen, die an der Kontaktgrenze in einem Moment entsteht, in dem Organismus und Umwelt noch nicht voneinander getrennt sind. Aus diesem Grund ist das ästhetische Wissen implizit (prä-verbal) und bereits auf die intersubjektive Dimension abgestimmt (D’Angelo 2011; Desideri 2011; Francesetti 2012). Orientierungshilfen für die nächste Intervention werden anhand von ästhetischen Kriterien unmittelbar bewertet. Erst später kann die TherapeutIn ihren Entscheidungsprozess (meist ziemlich vage) benennen: »Es schien in diesem Moment das Richtige zu sein«, »ich hätte in dieser Situation nicht gewagt, das zu sagen« usw. Es wird keine Zeit auf kognitive Prozesse verwandt, denn diese Art der Evaluation ist prä-kognitiv und prä-verbal und impliziert nicht nur einen passiven Vorgang sondern auch Aktivität, die die TherapeutIn direkt in die Intervention führt. Wenn wir mit intrinsischen Diagnosen arbeiten, benutzen wir die Intuition3 als Quelle der Unterstützung für die TherapeutIn. Die unmittelbarsten Interventionen werden nicht aufgrund bewusster kognitiver Überlegungen umgesetzt. Vielmehr gibt die Achtsamkeit der TherapeutIn mithilfe der ästhetischen Kriterien die Richtung vor. Oft kann die TherapeutIn erst nach der Sitzung verbal beschreiben und kognitiv verstehen, was sie getan hat und was die Gründe für eine Intervention waren.
Dies bedeutet nicht, dass die TherapeutIn chaotisch arbeitet. Ihr Verstehen der klinischen Situation und ihre Interventionen basieren auf ihrer Intuition, die durch Erfahrung und Ausbildung stetig vervollkommnet wird. Eine gut entwickelte Intuition ermöglicht es der TherapeutIn, die zarten Nuancen der therapeutischen Situation sensibler wahrzunehmen, sodass sie auch ohne kognitiven Prozess unmittelbar und angemessen intervenieren kann. Die Intuition führt sie durch ein Geflecht minimaler Signale in den Raum »dazwischen«, für den Worte und Gedanken zu grobe Instrumente sind.
Was bedeutet es wirklich, eine intrinsische Diagnose zu stellen? Achtsam, wach, mit allen Sinnen aktiv und gleichzeitig entspannt zu sein und sich von dem berühren zu lassen, was passiert (Spagnuolo Lobb 2004b; Francesetti 2012). Zuversichtlich zu bleiben, dass das Chaos tatsächlich »Sinn« macht und dass sich mit der nötigen Unterstützung eine Bedeutung zeigt. Die TherapeutIn ist nicht desorientiert, sondern anwesend. Sie ist nicht untätig, sondern bereit, den Tanz mitzutanzen, der sich an der Grenze entwickelt, wo PatientIn und TherapeutIn in Kontakt treten. Die TherapeutIn ist bereit, Intentionalität zu erfassen und die Entfaltung des Atems zu unterstützen. Die auf Kontakt gerichtete Intentionalität bringt Ordnung in das intersubjektive Chaos. Wenn der Pfeil der Intentionalität seinen Schwung verliert und zu Boden fällt, wird er von der TherapeutIn wieder aufgehoben, die ihm neue Energie verleiht. Momente vollständigen Kontakts lassen sich nicht vorhersagen: Wir wissen nicht, wann sie auftauchen, in welcher Minute oder Sekunde des Kontaktes. Sie tauchen jedoch nicht zufällig auf: Die TherapeutIn hilft beim Zustandekommen dieser Momente, indem sie die Intentionalität der PatientIn unterstützt, die sich Sekunde um Sekunde entfaltet und auf die Intentionalität der TherapeutIn trifft (Bloom 2009, 2011a).
Der therapeutische Prozess orientiert sich an der Intentionalität. Ein Verlust des Schwungs, ein Abfallen oder eine Störung in der Intentionalität veranlassen die TherapeutIn zu intervenieren: Auch Ruhe, Reglosigkeit oder eine kaum wahrnehmbare Bewegung können Interventionen darstellen. Die Intervention ist auf die »Fertigstellung« einer Gestalt ausgerichtet und unterstützt das Potenzial, das bereit ist, in Erscheinung zu treten. Wie bemerkt die TherapeutIn eine Bewegung oder Unterbrechung der Intentionalität? Sie muss an der Kontaktgrenze anwesend sein, mit wachen Sinnen und achtsam den körperlichen, gefühlsmäßigen und kognitiven Resonanzen gegenüber. Diese Resonanzen tauchen nur verschwommen auf. Sie zeigen sich nicht durch einen kognitiven Prozess, sondern brauchen Zeit um sich zu entfalten und können nur durch eine spätere Reflexion erkannt werden.
Ein entscheidendes Kriterium leitet diese Achtsamkeit: das ästhetische Kriterium (Joe Lay, in Bloom 2003), das TherapeutIn und PatientIn zur Ko-Kreation einer guten Kontakt-Gestalt führt.
An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass bei diesem diagnostischen Ansatz kein Vergleich zwischen dem Modell eines Phänomens und dem Phänomen selbst gezogen wird, wie es bei diagnostischen Landkarten der Fall ist. Hier haben wir die Wahrnehmung der Fluidität und Anmut, dessen, was passiert oder eben nicht passiert. Daran orientiert sich die TherapeutIn, wenn sie ihr Mit-der-PatienIn-Sein anpasst. Es ist ein falscher Ton, ein Pinselstrich an der falschen Stelle, eine Berührung zu viel oder zu wenig, ein bisschen zu früh oder ein bisschen zu spät. Es ist kein von vornherein feststehendes Modell, das uns leitet, sondern die einzigartigen, speziellen ästhetischen Qualitäten einer menschlichen Beziehung in dieser bestimmten Situation. Genauso wie wir einen falschen Ton erkennen, spüren wir, dass sich in wechselseitigen Antworten etwas nicht am richtigen Ort oder zur richtigen Zeit befindet oder so undefinierbar seltsam oder erschöpft ist.
Die Dreh- und Angelpunkte dieses diagnostischen »Sekunde für Sekunde«-Ansatzes liegen im Hier (dem Erleben des Raums) und Jetzt (dem Erleben der Zeit) der gelebten Erfahrung, wie sie an der Kontaktgrenze stattfindet. Die TherapeutIn ist die feine Nadel in diesen Seismographen, die (durch individuelle Resonanzen) die Veränderungen der ästhetischen Werte einer Beziehung im Hier und Jetzt aufzeichnen, und keine individuellen Parameter. Die TherapeutIn prüft diese Veränderungen und positioniert sich laufend in Beziehung zu ihnen, in sensorieller und körperlicher Einheit. Auf diese Weise vollzieht die TherapeutIn nicht nur die intrinsische diagnostische Handlung, sondern auch die therapeutische Handlung selbst: Dies bildet die Einheit der diagnostischtherapeutischen Handlung (Perls / Hefferline / Goodman 1985; Bloom 2003). Wenn sie die Unterbrechung der Intentionalität wahrnimmt, positioniert sich die TherapeutIn in der Beziehung neu, leitet und heilt sie, Moment für Moment.