Kitabı oku: «Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen», sayfa 3
2.4 Gordon Wheeler: Das Entwicklungsfeld
Wheeler (2002c) betont den Feldansatz der Gestalttherapie als grundlegend verschieden zur Mehrzahl der individuumszentrierten klinisch-psychologischen Ansätze. Er unterstreicht die bahnbrechende Leistung Goodmans, das Selbst nicht wie in der individuumsorientierten Perspektive als in der Person befindlich zu begreifen, sondern an der Außengrenze zu lokalisieren, im Kontakt- und Austauschprozess der Person mit ihrer Umwelt (S. 46). Das Selbst ist in diesem Sinne kein privates, inneres Selbst, sondern ein Ganzfeld-Selbst, etwas, das im Austausch und Kontakt zwischen der privaten und der geteilten Sphäre entsteht, etwas, das im Kontakt, in der »Erfahrung, bereits vorgegeben« ist (PHG, S. 58). Für Wheeler ist der Mensch von Anbeginn an beziehungsorientiert und entwickelt sich in engem Austausch mit anderen Menschen in einem Entwicklungsfeld, welches diese Austauschmöglichkeiten und Interaktionsprozesse bietet. Selbst und Beziehung werden als Erfahrungspole eines Figur-Grund-Verhältnisses angesehen, wobei jeweils die andere Seite den Grund für die jeweilige Figurbildung darstellt. Diese Verwobenheit wird von uns, wie Lewin dies bereits beobachtete, in bedeutungsvolle Einheiten organisiert. Entwicklung ist für Wheeler immer die Entwicklung des ganzen Feldes, nicht nur einzelner Teile oder einer Person im Feld. Die Bedürfnisse eines Neugeborenen oder die Anforderungen, die an das Baby gestellt werden, sind andere als die eines Schulkindes oder eines Jugendlichen. Die Eltern, Freunde, die soziale Umgebung entwickeln sich daher im Laufe der Zeit mit. Wheeler fokussiert in seinem Entwicklungs-Feld-Modell vier Entwicklungsbereiche, die im Folgenden vorgestellt werden.
1. Intersubjektivität und Intimität werden als erster Entwicklungsbereich gesehen. Menschen versuchen, das Feld, in dem sie sich befinden, zu erfassen, und eine Bedeutungsstruktur in ihm zu erkennen. Dieses Feld ist in erster Linie ein soziales Feld mit vielfältigen Beziehungen zu anderen Menschen. Wir versuchen in ständigen Figurbildungsprozessen eine Art Landkarte unseres Feldes zu konstruieren, die vor allem auch Zukunftsvorstellungen auf der Grundlage gemachter Erfahrungen mit einschließt. Unsere Mitakteure im Feld tun dies genauso, auch sie versuchen das Geschehen im Feld einzuschätzen, vorherzusagen und Risiken zu bewerten. Diese inneren Erfassungsprozesse sind dadurch entscheidender Bestandteil auch unseres Feldes. Es ist für uns wichtig, die Beweggründe des Anderen zu verstehen. Nach Wheeler lernen Kinder lernen dieses Verstehen durch intersubjektive Erfahrung. Als Beispiel für das Erlernen einer intersubjektiven Perspektive nennt Wheeler die frühe Ammensprache (Babytalk), bei welcher die Pflegeperson wechselseitig ihre eigene Position und dann wieder die des Babys übernimmt und für dieses spricht. Dabei versucht die Pflegeperson, das Baby auf der Grundlage von Mimik, Gestik, Körpersprache und Stimme zu verstehen. Dieses Verstandene wird benannt und dann eingesetzt. Der Erwachsene versucht, die innere Welt des Babys zu erfassen und auszudrücken. Durch diesen Austauschprozess wird eine erste intersubjektive Kompetenz vermittelt. Den Austausch über die eigene innere Welt, also meine innere Welt dem Anderen zu vermitteln und von der inneren Welt des Anderen zu erfahren, nennt Wheeler Intimität. Nur wenn das Beziehungsfeld Intimität beinhaltet, wenn Beziehungserfahrungen von Subjekt zu Subjekt stattfinden, kann sich auch Subjektivität entwickeln.
2. Support und Scham stellen den zweiten Entwicklungsbereich dar. In Entwicklungsmodellen, die auf eine betont autonome Entwicklung hin ausgerichtet sind von kindlicher Abhängigkeit zur erwachsenen Unabhängigkeit, ist Unterstützung mit Schwäche und Scham verbunden. Im Feldmodell, wo das Selbst als Organisator des ganzen Feldes gesehen wird, wird Unterstützung innerhalb und außerhalb der Selbstgrenze lokalisiert. Sie ist dann kein ›starker‹ Selbst- oder ›schwacher‹ Fremdsupport, sondern eine angemessene innere und äußere Elemente umfassende Unterstützung und Herausforderung zugleich. Auch hier entwickeln sich idealerweise das Feld und die Supportformen mit. Scham kann in diesem Fall als eine Abhängigkeit von und Verbundenheit mit dem Feld gesehen werden, wenn gleichzeitig die benötigte Wertschätzung oder eine andere Form von Support nicht erfolgt. Wenn eine wichtige Bezugsperson bestimmte Ausdrucksformen ablehnt und wenn das Kind, um die Beziehung zu erhalten, dann bei sich selbst diese Anteile auch ausblendet oder sogar ein anderes, nicht mit den eigenen Bedürfnissen verbundenes Verhalten aufbaut, entsteht nach Wheeler das, was Winnicott als »falsches Selbst« bezeichnete. In der Gestalttherapie wird das Selbst als dynamisches Geschehen an der Kontaktgrenze verstanden, also dem Kontakt zwischen einem inneren und äußeren Feldanteil. Feldtheoretisch wird dabei der innere Person-Pol vom äußeren Feld-Pol überwältigt. Dadurch wird Scham zum Schlüssel-Affekt und macht deutlich, wann die zentralen Selbstprozesse bedroht sind und nicht genügend Unterstützung erhalten. In einem Feldmodell erhält Scham die Rolle, welche die Signal-Angst in Freuds individualistischem Modell innehatte. Wheeler spricht in seinem Feld-Modell von der Signal-Scham4.
3. Gender und Identität stellen den dritten Entwicklungsbereich dar. Gender ist eines der stärksten Organisationsmuster, das in verschiedenen kulturellen Ausprägungen die jeweiligen Feldausrichtungen beeinflusst. Das sich entwickelnde Kind wird dadurch deutlich bestimmt: Welches Verhalten ist aufgrund der jeweiligen Geschlechtsrollenerwartungen erlaubt? Die Reaktionen des Feldes, der Bezugspersonen, sind sehr unterschiedlich gegenüber Jungen oder Mädchen. Das Feld, in das wir geboren werden, ist daher auch ein Gender-Feld. Auch die Gendergrenzen werden durch Schamprozesse ›bewacht‹, sind durch Schamgrenzen befestigt. Identität nach dem Motto, »Wer bin ich in mir und in der Welt«, wird stark durch Gender bestimmt.
4. Den vierten Bereich bildet die Entwicklung von Stimme und Narrativen. Das Selbst kann als eine bestimmte Perspektive innerhalb des Feldes angesehen werden. Durch das Erheben der eigenen Stimme wird dieser spezifische Gesichtspunkt innerhalb des Feldes deutlich. Damit die eigene Position Bedeutung und Wirkung entwickeln kann, bedarf es auch einer Person, die sie wahrnimmt, die zuhört. Die Wechselwirkung von Stimme erheben und gehört werden beginnt in der Kindheit, wo eine vorherrschende Abwesenheit eines bedeutsamen Zuhörers zu Verkümmerung und Schwächung des Selbst führt. Durch unser angeborenes Interesse für andere Menschen und unsere Einschätzungen des Verhaltens anderer, erhalten wir Wissen über das Feld, über unsere Position im Feld und über die Zeitpunkte, zu denen wir unsere Stimme am besten erheben. Die Bedeutung des Verhaltens anderer im Feld und die Bedeutung unseres eigenen Verhaltens zu erfassen und zu äußern bedeutet, Geschichten über uns und andere zu erzählen. Entwicklung bedeutete gemäß Wheeler daher auch ein kohärentes Narrativ, eine gute Gestalt des eigenen Lebens finden zu können.
3. Elemente einer Entwicklungstheorie der Gestalttherapie
Innerhalb der Gestalttherapie gibt es gegensätzliche – Kenhofer (2010) schreibt paradoxe – Positionen hinsichtlich einer eigenen Entwicklungstheorie. Laut Morss (2002) ist eine Entwicklungstheorie innerhalb der GT per se unmöglich aufgrund der phänomenologischen und prozessorientierten Haltung, die eine festschreibende Theorie verunmögliche bzw. umgekehrt eine festlegende Theorie würde dadurch die zentralen Positionen der Gestalttherapie verraten.
Neben der Ablehnung einer Entwicklungstheorie durch manche Gestalttherapeuten haben andere Vertreter der Gestalttherapie das Fehlen einer konsistenten gestalttherapeutischen Entwicklungslehre beklagt (Caroll 1999, Wheeler, 2002c, S. 39, Baulig 2002) und dies z. T. mit bestimmten fatalistischen Auffassungen über die Kindheit durch F. Perls erklärt (Wheeler 2002a, S. 12). Andere angeführten Argumente für das Fehlen einer gestalttherapeutischen Entwicklungslehre sind die höhere Wertschätzung von Spontaneität und offener Kreativität im Gegensatz zu rigider Reife sowie die Ablehnung eines kodifizierten, formalen oder schematisierten Modell durch Perls und Goodman zur damaligen Zeit (Wheeler 2002a, S. 13). Wichtig ist hierbei sicher auch, dass zu Beginn der Gestalttherapie nicht mit Kindern, sondern nur mit Erwachsenen gearbeitet wurde – Psychotherapie mit Kindern war zum damaligen Zeitpunkt eher noch selten. Die Gründer der Gestalttherapie, die ihre Therapie von einem reichhaltigen Hintergrund aus entwickelt hatten, ließen viele ihrer Voraussetzungen und Wurzeln in die Therapie einfließen, ohne dabei explizit auf entwicklungspsychologische Theoriebildung zu achten oder diese deutlich zu machen. Viele ihrer Erkenntnisse wurden vielmehr auf die therapeutische Praxis mit Erwachsenen hin gestaltet. Die Gestalttherapie erlaubte sich bisher nicht ausreichend, entwicklungspsychologische Vorstellungen, die dem gleichen fruchtbaren Boden erwuchsen, aus dem auch die Gestalttherapie selbst stammt, als die ihrigen zu erkennen, zu besetzen und zu integrieren.
Neurobiologische Faktoren
Was ist Entwicklung? Die Fassung des Entwicklungsbegriffes stellt immer auch eine wissenschaftstheoretische Positionierung dar. Es macht einen Unterschied, ob sich ein Pädagoge, ein Neurologe, ein Sportler oder Eltern Entwicklung vorstellen. Entwicklung ist stets eine Entwicklung zu etwas. Es gibt keine Notwendigkeit einer kontextfreien Entwicklung. Daher ist Entwicklung immer in den Kontext des sich zu Entwickelnden eingewoben. Wenn ein Mensch entsteht, ist einer der ersten wichtigsten und entscheidenden Überlebensschritte die biochemische Kommunikation zwischen der befruchteten Eizelle und der aufnehmenden, umgebenden Gebärmutter. Sehr früh beginnen sich verschiedene Bereiche zu spezialisieren, zu differenzieren und gleichzeitig miteinander in Verbindung zu treten. Zielgebiete für die Entwicklung und Verortung von Nervenzellen werden ausgegeben und die Nervenentwicklung bewegt sich in diese Richtung, während gleichzeitig in dem Zielgebiet verschiedene chemische Substanzen die ankommenden Neurone lenken und ihnen den richtigen Platz zuweisen. Menschliche Entwicklung ist als von Beginn auf Bewegung und Kommunikation mit der Umwelt, auf Differenzierung und Spezialisierung hin ausgerichtet.
Zeitfenster und sensible Phasen neurologischer Entwicklung
Entwicklung scheint von Anbeginn an zum einen die Bereithaltung genetisch vorskizzierter Möglichkeiten zu sein, die innerhalb eines zeitlichen Fensters im engen Wechselspiel zwischen Außenerfahrung und innerer Strukturierung jeweils höchst individuell, jedoch zugleich untrennbar verwoben mit dem umgebenden Feld konstruiert werden. Dieses umgebende Feld bestimmt die Entwicklung in einem so hohen Maße mit, dass Stern uns nicht als Besitzer unserer eigenen Seele (»mind«) beschreibt. Vielmehr vollzieht sich psychische Entwicklung in fortlaufenden Interaktionen und Dialogen mit anderen Seelen (Stern 2006 S. 30). Der Austausch und das sich Bedingen von Innen und Außen ist so absolut und tiefgreifend, dass Kinder ohne ausreichende äußere Bedingungen und Außenerfahrungen nicht Leben und Überleben können. Dies zeigen eine Reihe von unmenschlichen Beispielen, wie die schrecklichen Versuche Friedrich des Großen5, aber auch die Waisenhausstudien von René Spitz, bei der Babys, welche ihre Mutter verloren hatten und in Heimen ohne ausreichenden Ersatz aufwuchsen, wesentlich höhere Krankheits- und Sterblichkeitsraten aufwiesen. In diesem Bereich kann ein Kontinuum möglicher Entwicklung gedacht werden, bei dem auf der einen Seite eine gute feinfühlige Pflegeperson-Kind Beziehung mit ausreichend Liebe und Fürsorge eine gute Entwicklung ermöglicht. Auf der anderen Seite des Pols stehen Kinder, wie die erwähnten Waisenhauskinder, die eine völlig unzureichende Versorgung mit den wichtigsten zwischenmenschlichen Grunderfahrungen erleben mussten. Zwischen diesen beiden Extremen sind verschiedene Ausprägungen möglich, die sich auch in den verschiedenen Bindungsklassen widerspiegeln. Bei der neurologischen Entwicklung des Gehirns werden Möglichkeiten bereitgestellt, die in enger Abstimmung mit dem umgebenden Feld ausgebaut, vertieft und differenziert werden, oder die zurückgestellt oder gar aufgegeben werden. In den ersten Monaten und Jahren werden, wie mit einem reichhaltigen Füllhorn, weitaus mehr Neurone angelegt als benötigt. Wenn diese Nervenzellen Verwendung finden, kommt es zu einer immer dichteren Ausbildung synaptischer Verknüpfungen und dendritischer Verästelung. Verknüpft werden Gehirnregionen, die in funktionaler Einheit zueinander stehen und Verwendungsdurchläufe erfahren. Wenn bestimmte Gehirnregionen allerdings nach einer bestimmten Zeit nicht verwendet werden, werden ihre Neurone wieder abgebaut oder anderen Aufgaben zugeführt. Das heißt, durch erfahrungs- und umweltbestimmte Selektion differenzieren sich bestimmte Strukturen heraus. Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren mit Entwicklungsfragen hörgeschädigter Kinder. Bei der Hörentwicklung ist inzwischen klar, dass Kinder bereits im Mutterleib erstaunlich viele Merkmale und Qualitäten gesprochener Sprache wahrnehmen und sich sogar merken können. Neugeborene und nur einige Tage alte Babys bevorzugen die Mutterstimme (DeCasper & Fifer 1980) und können sogar Veränderungen von Texten, die ihnen ihre Mutter in den letzten Schwangerschaftswochen vorgelesen hat, unterscheiden. Bei den pränatal vorgelesenen Texten wurden postnatal einige Wörter ausgetauscht. Die Babys bevorzugten über eine raffinierte Steuerung mittels spezieller Schnuller, die bekannten Texte zu hören (DeCasper & Spence 1986). Klinke (1999) konnte in Tierversuchen zeigen, dass bei genetisch tauben jungen Kätzchen durch eine künstliche Innenohrprothese (eine Art Cochlea-Implantat) die entsprechenden kortikalen Areale, die fürs Hören zuständig sind, im Vergleich zu nicht implantierten Katzen enorm anwachsen und viele synaptische Verbindungen ausbilden. Bei gehörlosen Erwachsenen wurde mittels computertomografischer Untersuchungen festgestellt, dass die Regionen des akustischen Kortex andere Funktionen übernommen hatten. Es gab in den letzten 20 Jahren zahlreiche Versuche, auch erwachsenen Gehörlosen mittels Cochleaimplantaten wieder eine Hörfähigkeit zur Lautspracheerkennung zu vermitteln. Diese Bemühungen sind allesamt gescheitert. Es wurde erkannt, dass es zeitliche Fenster und sensible Phasen für die Entwicklung bestimmter Funktionen gibt. Wenn in diesen Phasen z.B. kein hörrelevanter äußerer Input stattfindet, wird kein Hören entwickelt. Die nicht für das Hören benötigten Gehirnregionen werden für andere Zwecke verwendet. Das Gehirn Gehörloser ist, unabhängig von der ohnehin bei jedem Menschen bestehenden Unterschiedlichkeit, völlig anders aufgebaut und eingeteilt als das von Hörenden. Der bei Hörenden für die akustische Verarbeitung verwendete Kortex wird bei Gehörlosen für völlig andere Aufgaben verwendet. Bei einem Input nach diesen sensiblen Phasen ist keine ausreichende Entwicklung der entsprechenden Gehirnregionen mehr möglich. Es können bei einer späteren Cochlea-Implantation zwar noch einzelne Töne gehört werden, aber die Erkennung von gesprochener Sprache bleibt unmöglich. Wenn die Erkenntnisse aus der Sinnesentwicklung auf die sozialemotionale Entwicklung übertragen werden, kann angenommen werden, dass es auch hier zeitliche Fenster gibt, in welchen bestimmte Funktionen ihren Entwicklungsprozess vollziehen müssen, um wirklich gut zu funktionieren. Dies scheinen auch die Ergebnisse langfristiger Entwicklungsverlaufsstudien zu bestätigen, bzw. die gravierenden Auswirkungen des Fehlens ausreichender sozial-emotionaler Entwicklungsbedingungen. Auch bei Kindern, die unter sozial-emotional deprivierten Bedingungen aufwachsen, kommt es trotzdem nie zu einem völligen Ausbleiben sozial-emotionaler Außenwirkungen, also sozialer Umweltreize. Dadurch ist vermutlich (und für uns Therapeuten hoffentlich) die Entwicklung des Gehirns nicht so absolut und unwiderruflich andersartig wie beim Fehlen von Höreindrücken bei völliger Taubheit. Die Bindungsforschung zeigt, dass stabile Repräsentationen negativer Außenbedingungen, nämlich unzureichende Bindungserfahrungen und Bindungsüberzeugungen, durch erneute längerfristige Erfahrungen, wie sie in beständigen Freundschaften, Partnerschaften oder therapeutischen Beziehungen gegeben sind, zumindest teilweise ›umgeschrieben‹ werden können. Umgekehrt können sich sichere Bindungen unter dem massiven Druck äußerst negativer Beziehungserfahrungen nachträglich wieder verschlechtern.
Beziehung und Fürsorge statt Veränderung
Doch machen die schlimmen Folgen fehlender Fürsorglichkeit deutlich, dass manche früh und extrem deprivierten Kinder möglicherweise nicht mehr ein vollständiges, sondern nur noch ein begrenzte Repertoire sozialer Kompetenzen nach innen und außen entwickeln können. Ihre neurologische Ausstattung, die Ausbildung und Vernetzung besonders präfrontaler Strukturen bleiben begrenzt. Philippson (2012) weist vor dem Hintergrund seiner jahrelangen Arbeit mit vernachlässigten Kindern darauf hin, dass solche Kinder vor allem eine fürsorgende Beziehung benötigen, um erstmals Beziehungsfähigkeit und Erfahrungen von Beziehung zum Therapeuten und zu anderen zu entwickeln. Solche Kinder erleben diese Beziehungserfahrungen auf der Grundlage ihrer deprivierten, andersartigen neurologischen Struktur zunächst als emotional falsch, unnatürlich und unnütz. Philippson (2012) weist darauf hin, dass die paradoxe Theorie der Veränderung bei solchen zutiefst beziehungsgestörten Kindern einer Modifikation bedarf, da die paradoxe Theorie der Veränderung von einer funktionierenden neurologischen Fähigkeit ausgeht, bei der auf der Grundlage einer flexiblen organismischen Selbstregulation neue Wahrnehmungen und Beziehungen zur Umwelt aufgenommen werden können, der Klient also in der Lage ist, sich anders zu verhalten. (vgl. ebd. 2012)
Spiegelneurone
Bereits Wolfgang Köhler postulierte einen physiologischen Mechanismus, der Wahrgenommenes gleichzeitig in eigene neuronale Muster übersetzt bzw. vermittelt. Durch die Entdeckung der Spiegelneurone konnte diese gestaltpsychologische Annahme bestätigt werden.
Spiegelneurone sind Gehirnzellen, die bei beobachteten Tätigkeiten, Handlungen, Ereignissen, Mimiken, aktiv werden. Sie aktivieren gleichzeitig die entsprechenden eigenen motorischen Areale, sodass eine genaue körperliche Simulation des Gesehenen, Gehörten etc. im Körper abgespielt wird. Auf der Grundlage dieser Kopie des Zustandes des Anderen ist ein genaues Einfühlen möglich. Dies steht in Widerspruch zu einer bestimmten Akzentuierung der Gestalttherapie des späten Fritz Perls. Philippson (2012) führt aus, dass die besonders durch Fritz Perls betonte gestalttherapeutische Position, »ich kann nichts über dich wissen. Ich kann nur raten und projizieren. Nur du kannst über dich wissen«, ein Verbot von Interpretation darstellt, dass aber die neuropsychologische Forschung Belege bringt, dass wir mittels der Spiegelneurone doch einiges über den Anderen wissen können. Philippson weist des Weiteren darauf hin, dass es aufgrund der starken Bestimmung eines menschlichen Wesens durch das Feld, in dem er sich befindet, eigentlich erstaunlich ist, dass es überhaupt zu einem Erleben von Individualität kommt, wo ein Mensch sagen kann, »ich will dieses und nicht jenes« oder »ich glaube dieses und nicht jenes«. Dies sind nach Philippson Momente, in denen das Individuum definiert und bestimmt wird. Philippson zitiert Lewin mit »… das Selbst wird als Region innerhalb des ganzen Feldes erfahren.« Ernst Cassirer, ein wichtiger philosophischer Lehrer Lewins, meinte in diesem Zusammenhang, dass es eigentlich erstaunlich ist, dass wir überhaupt voneinander unterscheidbare Einzelheiten wahrnehmen können:
»Was uns im Gebiet des Bewusstseins empirisch wahrhaft bekannt und gegeben ist, sind niemals Einzelbestandteile, die sich sodann zu verschiedenen beobachtbaren Wirkungen zusammensetzen, sondern es ist stets bereits eine vielfältig gegliederte und durch Relationen aller Art geordnete Mannigfaltigkeit, die sich lediglich Kraft der Abstraktion in einzelne Teilbestände sondern lässt. Die Frage kann hier niemals lauten, wie wir von den Teilen zum Ganzen, sondern wie wir von dem Ganzen zu den Teilen gelangen.« (Cassirer 1954, S. 445, zit. nach Philippson 2012).