Kitabı oku: «Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen», sayfa 5
Das supportive Feld als Entwicklungspromotor
Entwicklung findet einerseits statt, wenn die Abstimmung des Organismus auf äußere Veränderungen dieses erfordert. Sie ist ein Anpassungsprozess an sich verändernde Feldbedingungen. Andererseits findet Entwicklung statt, wenn innere Veränderungen und Reifungsprozesse des Organismus einen anderen Umgang mit dem Umfeld ermöglichen. Die entscheidende Brücke für diesen Übergang bildet die angemessene Unterstützung für den Entwicklungsschritt. Wenn keine ausreichende Unterstützung gegeben ist, wird der Entwicklungsschritt nicht vollzogen, es kann zu Entwicklungsverzögerungen kommen. Die Unterstützung muss der Entwicklungsanforderung angemessen sein. Dies bedeutet, dass ausreichend Sicherheit gegeben sein muss, aber auch genügend Freiheit und Selbstbestimmung, damit der Patient den Entwicklungsschritt auch um seinetwillen, für sich und nicht für den Therapeuten, macht. Es ist daher wichtig, die Bedürfnisse und Entwicklungsziele vom Patienten immer wieder zu klären und ausdrücken zu lassen. Dieser Ausdruck kann bei Jugendlichen bewusst verbal geschehen. Bei Kindern weisen aber besonders nonverbale, körperliche Bewegungs- und Ausdrucksimpulse in die Richtung der Weiterentwicklung. Diese Impulse sind sozusagen Ausdruck und Kommunikation auf einer sehr basalen Ebene. Durch ein ausreichend unterstützendes Feld können die Entwicklungsschritte des Patienten ausreichend ausbalanciert verlaufen. Support bedeutet, dass der Patient einerseits Sicherheit, Zustimmung und menschliche Wärme vermittelt bekommt, andererseits auch Ermutigung, Aufmunterung und Herausforderung durch den Therapeuten eingebracht werden, um den Entwicklungsprozess voranzubringen. Die psychische Struktur einer Person ist daher durch die vorangegangenen Erlebnisse und Erfahrungen mit verschiedenen Feldformationen bestimmt. Sie ist allerdings auch eine Art Repräsentation und Gedächtnis der Vergangenheit. Gleichzeitig ist die psychische Struktur bestimmt und determiniert durch die aktuelle Feldkonstellation.
Nicolai Gruninger
Wachstum, Reifung und Entwicklung
Auf den Spuren einer gestalttherapeutischen Entwicklungstheorie
Einleitung
Johann Wolfgang von Goethe lässt Mephisto seinen Schüler in der Studierstube belehren: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum.« Dem widerspricht Kurt Lewin zwei Jahrhunderte später, wenn er sagt, dass nichts so praktisch sei, wie eine gute Theorie (vgl. Lewin 1951).
Ein aktueller Diskurs über die gestalttherapeutische Entwicklungstheorie zwischen John Morss und Bruce Kenofer zeigt auf, wie wenig integriert die Pole Theorie und Praxis in der Gestalttherapie sein können. Morss spricht sich klar gegen eine Entwicklungstheorie der Gestalttherapie aus (vgl. Morss 2002). Jeder Fokus in Richtung Vergangenheit oder Zukunft lenke von der Gegenwartserfahrung des Klienten und des Therapeuten ab. Gestalttherapeuten1 müssten auf das Hier und Jetzt fokussieren. Morss bezieht sich in seiner Argumentation auf die paradoxe Theorie der Veränderung von Arnold R. Beisser (1970), der zufolge man erst der werden muss, der man ist. Erst dann gibt es Möglichkeit zur Veränderung. Kenofer widerspricht ihm vehement (vgl. Kenofer 2010). Ein Gestaltprinzip sei es, dass offene Gestalten aus der Vergangenheit nach Schließung in der Gegenwart drängen. Die Patienten sind eingebettet in die Vergangenheit, die ihr Verhalten in der Gegenwart beeinflusst. Um die Figur der Gegenwart zu verstehen, müsse man den Hintergrund der Vergangenheit berücksichtigen, auch wenn wir auf die Figur fokussieren. Damit sei eine Entwicklungstheorie in der Gestalttherapie implizit enthalten. Die vorhandenen Konzepte sind jedoch so vage, dass es eine explizit ausformulierte Theorie der Entwicklung brauche (vgl. Kenofer 2010, Wheeler 2010). Wheeler verortet die Ursache für das Fehlen einer konsistenten Entwicklungstheorie in der Gestalttherapie in dem Fokus der Begründer auf Spontaneität und Kreativität:
»Und vielleicht war es diese hohe Wertschätzung von Spontaneität und offener Kreativität, die Goodman wie auch die Perls’ mit einer grundsätzlichen Abneigung gegen eine Kodifizierung dieser allgemeinen philosophischen Ideen erfüllte, gegen etwas, das nur entfernt an ein formales System erinnerte oder an ein schematisiertes lineares Modell von verschiedenen Stadien, wie so viele andere es uns durch das ganze Jahrhundert hindurch an Entwicklungsmodellen seit Freud angeboten haben.« (Wheeler 2010, S. 13)
Es stellt sich die Frage, welche impliziten und expliziten Motive und Theorien von der Entwicklung des Menschen im Gestaltansatz enthalten sind. Welche Ansätze von Entwicklungstheorien lassen sich bei den Begründern der Gestalttherapie entdecken? Um den Kontrast zu schärfen, werde ich diese in einem zweiten Schritt mit der modernen allgemeinen Entwicklungspsychologie vergleichen. Die durchgängige Frage dieser Untersuchung wird also sein, welche entwicklungstheoretischen Motive und Theorien der Gestaltansatz enthält, wie diese weiterentwickelt wurden und wie sie im Vergleich zu aktuellen allgemeinen Entwicklungspsychologie positioniert sind.
Zu Beginn werden fünf Leitsätze der modernen Entwicklungspsychologie formuliert. Es folgt eine Standortbestimmung der gestalttherapeutischen Entwicklungstheorie. Im dritten Teil werden dann die entwicklungstheoretischen Motive des Gestaltansatzes den Leitsätzen der modernen Entwicklungspsychologie gegenübergestellt.
Leitsätze der modernen Entwicklungspsychologie
Die Frage nach der Entwicklung des Menschen ist nicht neu. Schon Ovid beschäftigte sich in seinen Metamorphosen mit der Frage, wie sich der Mensch im Laufe seines Lebens entwickelt. In seinen Erzählungen formt die Natur mit ihren Künstlerhänden rastlos die Veränderungen am Menschen. »Siehst du nicht auch, wie das Jahr seine vier Gestalten einander folgen lässt, wie es im Abbild den Lauf unseres Lebens uns vorführt?« (Ovid 2007, S. 384)
In der noch jungen Geschichte der empirischen Entwicklungspsychologie hat es viele unterschiedliche Fragen und Konzeptionen von Entwicklung gegeben. Mit Leo Montada lassen sich diese Forschungstraditionen in zwei Phasen einteilen, eine traditionelle und eine moderne Konzeption von Veränderungen im Lebenslauf (vgl. Montada 2008).
Entwicklungsphasen und Entwicklungsstufen stehen bei den traditionellen Theorien im Vordergrund. Der theoretische Fokus liegt auf den Besonderheiten dieser Phasen und Stufen, die es davor oder danach nicht gibt. Eine heute noch häufig zitierte Konzeption des Lebenslaufs in Phasen hat Erik Erikson mit seiner Theorie der psychosozialen Entwicklung beschrieben (vgl. Erikson 1980). Bei den Stufenmodellen kommen weitere wesentliche Grundannahmen hinzu. Hier wird eine Entwicklungslogik durch die Notwendigkeit einer Stufenfolge und ein End- oder Reifestadium argumentiert. Entwicklung wird als eine Veränderungsreihe mit mehreren Schritten in Richtung eines höherwertigen End- oder Reifezustandes beschrieben (vgl. Montada 2008). Es wird postuliert, dass diese Schritte irreversible qualitative Wachstumsschritte sind. Die Veränderungen korrelieren mit dem Lebensalter und die Stufen sind universell (ebd.). Am besten lassen sich diese Grundannahmen am Beispiel der Entwicklung der Motorik beschreiben. Hier wird ein innerer Bauplan angenommen, der sich in einer normalen Umgebung universell entfaltet. Die motorischen Entwicklungsschritte sind irreversibel, sie korrelieren mit dem Lebensalter und unterscheiden sich jeweils in ihrer Qualität von vorangegangenen Bewegungen. So können die meisten Kleinkinder im Alter von 30-34 Wochen ohne Stütze sitzen und zwischen 34-40 Wochen mit Hilfe stehen (vgl. Montada 2008).
Löst man sich von der primär biologischen Perspektive von Entwicklung und erweitert den theoretischen Horizont auf andere Entwicklungsbereiche, wie die Entwicklung der Persönlichkeit oder Intelligenz, stoßen traditionelle Entwicklungskonzepte schnell an ihre Grenzen. Demnach lassen sich nicht alle Entwicklungsschritte aus vorangegangenen ableiten. Oftmals gibt es keinen direkten Zusammenhang mit vorherigen Entwicklungsstufen. Soziale Probleme im Kindergarten und später können einen starken Zusammenhang mit der frühen Bindung im ersten Lebensjahr aufweisen (vgl. Zimmermann et al. 2000). Auch die Entwicklung in Richtung eines höheren Niveaus ist einschränkend. Eine solche Konzeption schließt Entwicklungsprozesse im Alter aus, die durch Abbau gekennzeichnet sind (Lindenberger & Schaefer 2008). Ebenso schließt die Konzeption eines universellen Reifezustandes als Endpunkt von Entwicklung lebenslanges Lernen aus. Und die Einschränkung auf qualitative Entwicklungsschritte verhindert einen differenzierten Blick auf Veränderungen über die Lebensspanne. Intelligenzentwicklung zum Beispiel lässt sich in qualitative und quantitative Dimensionen unterscheiden (vgl. Montada 2008). Zum einen hängt die Intelligenzentwicklung mit der Zunahme des Wortschatzes und der Anzahl lösbarer Aufgaben zusammen, zum anderen kommt es zu Veränderungen der Strukturen des Denkens und der Problemlösestrategien. Die Annahme von Universalität in der Entwicklung vernachlässigt zum einen kulturelle und umweltbedingte Einflussgrößen (Oerter 2008). Zum anderen werden differenzielle und individuelle Einflüsse ignoriert und übersehen (Montada 2008). Dabei fällt die individuelle Anlage ebenso aus dem forschenden Blickfeld wie individuelle Erfahrungen und pathologische Entwicklungen.
Um diesen engen Entwicklungsbegriff zu überwinden, hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend eine neuere Sichtweise von Veränderungen über den Lebenslauf durchgesetzt. Die Hauptrichtung geht in die Erforschung der Entwicklung über die gesamte Lebensspanne und die Untersuchung differenzieller Entwicklungsverläufe. In Anlehnung an Baltes (1990), Brandstädter (2007) und Montada (2008) lassen sich fünf grobe Leitsätze formulieren, die der modernen Entwicklungspsychologie zugrundeliegen. Auff allend daran ist eine metatheoretische Orientierung. »Die Bedeutung der einzelnen Leitsätze ist hierbei weniger wichtig als die Gestalt, die sie zusammen herstellen.« (Baltes 1990, S. 3) Entwicklung über die Lebensspanne wird als so komplex angenommen, dass einzelne Theorien zu kurz greifen, um dieses Phänomen zu beschreiben. So werden Leitsätze formuliert, an denen wir uns orientieren können, wenn wir Veränderungen über die Lebensspanne untersuchen und verstehen wollen.
1. Von allgemeinen zu differenziellen Entwicklungsverläufen (Fokussierung auf Unterschiede)
Die universelle Grundannahme von Entwicklungsprozessen weicht einer differenziellen Sicht. Veränderungen werden nun sehr individuell untersucht. Unterschiede zwischen einzelnen Menschen und ihren individuellen Entwicklungsverläufen stehen im Zentrum. Entwicklung ist aus dieser Perspektive das Ergebnis vieler verschiedener Einflussgrößen, die jeweils in ihrer spezifischen Zusammensetzung und Wirkung erforscht werden müssen. Differenzielle Entwicklungsverläufe werden zusätzlich durch einen hohen Grad an intraindividueller Plastizität (Veränderbarkeit innerhalb einer Person) beeinflusst (vgl. Baltes 1990).
2. Entwicklung findet immer in einer Umwelt statt (Ökologie)
Die Entschlüsselung von genetischer Information und das Konzept eines inneren Bauplans müssen einer primär ökologischen Perspektive weichen. Die Umwelt rückt bei der Beschreibung entwicklungspsychologischer Phänomene zunehmend ins Zentrum.
3. Entwicklung erstreckt sich über die gesamte Lebensspanne (Lifespan-Development)
Keine Altersstufe nimmt in der Entwicklung eine Vorrangstellung ein. Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess, der kontinuierliche und diskontinuierliche Prozesse umfasst (Baltes 1990).
4. Entwicklung als Gewinn und Verlust
»Entwicklung bedeutet nicht nur Zuwachs in der Kapazität oder Zuwachs im Sinne einer höheren Effizienz. Über die gesamte Lebensspanne hinweg setzt sich vielmehr Entwicklung immer aus Gewinn (Wachstum) und Verlust (Abbau) zusammen.« (Baltes 1990, S. 4)
5. Kontextualismus
»In konzeptioneller Hinsicht resultiert jeder Entwicklungsverlauf aus der Wechselwirkung (Dialektik) dreier Systeme von Entwicklungseinflüssen: altersbedingten, geschichtlich bedingten und nicht-normativen.« (Baltes 1990, S.4)
Alle drei Systeme beeinflussen sich gegenseitig und ihr Zusammenspiel wird in dem Begriff Kontextualismus zusammengefasst.
Ontogenetische Entwicklung findet immer in einem historischen Feld statt, in dem vorhersehbare und nicht vorhersehbare Ereignisse in psychologischen Phänomenen sichtbar werden. Die Wechselwirkung externaler und internaler Faktoren bildet das Zentrum moderner Theorieansätze. Mit dem Begriff der Passung von Brandstädter (1985) wird diesem transaktionalen Denken Rechnung getragen (vgl. Montada, 2008). Entwicklung findet in seiner Konzeption durch Wechselwirkungen von den Zielen und Potenzialen des Individuums auf der einen Seite und den Anforderungen und Angeboten der Umwelt auf der anderen Seite statt.
Koffka und Lewin – Vordenker der Gestalttherapie und ihre entwicklungstheoretischen Studien
Kurt Koffka, ein Mitbegründer der Gestaltpsychologie, beschreibt in seinem 1921 veröffentlichen Buch »Die Grundlagen der psychischen Entwicklung: eine Einführung in die Kinderpsychologie« einen Gegenentwurf zur damals vorherrschenden Theorie des Behaviorismus und der Assoziationspsychologie. Seine Grundannahme ist, dass das Verhalten nicht über eine Reiz-Reaktions-Verbindung erklärbar ist, sondern dass das Verhalten nur über einen engen Zusammenhang mit dem Erleben erforscht werden kann.
»Die Annahme, daß vom Reiz aus die Empfindung ein für allemal festgelegt sei, muß von vornherein aufgegeben werden.« (Koffka 1921, S. 98)
Das Erleben seinerseits wird durch Struktur-Phänomene organisiert, »das phänomenal gegebene scheidet sich in die maßgebende Qualität und den Grund, auf dem sie erscheint, das Niveau, von dem sie sich abhebt (…).« (Koffka 1921, S. 94).
Koffka postuliert, dass Erfahrungen von Geburt an durch einfachste Strukturen organisiert werden. Zu Beginn sind es Qualitäten auf einem gleichförmigen Grund, wie z.B. eine Berührung, die sich aus einem wenig bestimmten Grund heraushebt.
»Sowohl was Kompliziertheit, wie was Schärfe der Struktur betrifft, werden wir am Anfang nur ein Mindestmaß erwarten dürfen.« (Koffka 1921, S. 101) Im Fortlaufen der Entwicklung werden diese Strukturen immer differenzierter. Bewegungen, Wahrnehmungen und geistige Abbilder der Welt nehmen an Kontrast und Tiefe zu. Strukturen bilden somit den Rahmen und den Motor der Entwicklung.
Entwicklung wird in seinem Buch definiert als Prozess, bei dem ein Organismus oder eines seiner Organe größer, schwerer, feiner strukturiert und leistungsfähiger wird. Es müssen zwei Formen unterschieden werden: Entwicklung als Wachstum und Reifung und Entwicklung als Lernen (Koffka 1921). Entwicklung setzt sich somit aus ererbten und erworbenen Fähigkeiten zusammen, wobei Koffka dem Lernen in seinem Buch einen zentraleren Stellenwert beimisst. »Haben wir doch als eine wesentliche Form der Entwicklung das Lernen betrachtet, und das Lernen ist eine Reaktion des Individuums gegenüber einer bestimmten Umwelt, die durch die Erb-Anlage jedenfalls nicht eindeutig festgelegt war.« (Koffka 1921, S. 37)
Was ist nun das Wesen des Lernens? »Alles Lernen erfordert die Entstehung von Strukturen.« (Koffka 1921, S. 167) Jegliche Verhaltensänderung ist nach Ansicht Koffkas korrelativ auf Strukturänderungen bezogen. Grundlage erlernter Verhaltensweisen ist demnach die Bildung neuer Strukturen. Ähnlich dem Lernen sind auch Vererbungen über Strukturen organisiert. »Es gibt danach Strukturen, für deren Entstehung alle Bedingungen im Individuum durch Vererbung festgelegt sind, daß sie notwendig beim ersten Anlaß wirksam werden. Für andere Strukturen liegen die Bedingungen nicht so fest, ob und wie sie entstehen, ist von den speziellen Umständen abhängig, und während jene Strukturen bei allen Individuen einer Art wesentlich gleichartig sind, bestehen für die weniger festen Bedingungen dieser auch größere individuelle Verschiedenheiten.« (Koffka 1921, S. 169)
Tempo, Dynamik und Rhythmus der Entwicklung unterliegen großen interindividuellen Schwankungen, »so leuchtet ein, daß der Zeitpunkt des Eintretens irgend einer Leistung von Individuum zu Individuum ganz gewaltig verschieden sein kann, alle Alters-Angaben haben daher für eine Verallgemeinerung nur einen sehr ungefähren Wert« (Koffka 1921, S. 36).
Nachdem Koffka in seinem Buch die Grundprinzipien von Entwicklung und Lernen beschrieben hat, stellt er die Frage, was ein Neugeborenes zu erwerben hat und in welche Richtung sich sein Verhalten entwickeln muss, um ein selbstständiges erwachsenes Wesen zu werden. Er unterscheidet vier Gebiete und Richtungen von Entwicklung: das rein motorische, das rein sensorische, das sensumotorische und das ideatorische Gebiet (das intellektuelle und ethische Handeln). Alle vier Richtungen hängen miteinander zusammen und sind nur für die theoretische Darstellung getrennt aufgeführt. Exemplarisch soll an dieser Stelle die Entwicklung motorischer Strukturen anhand von Greifen und Tasten angeführt werden. »Beim Lernen mehr oder weniger komplizierter Bewegungen muss eine Bewegungs-Melodie zustande kommen, d. h. ein Gebilde von der Art unserer Strukturen. Eine Bewegungs-Melodie besteht nicht aus selbständigen Stücken, sondern bildet ein gegliedertes Ganzes.« (Koffk a 1921, S. 186 f.) Während die Assoziations-Psychologie der Auffassung war, dass sich motorische Bewegungen aus Verknüpfungen von Einzelbewegungen entwickeln, setzt Koffka mit dem Hintergrund der Gestaltpsychologie und seiner Strukturtheorie auch bei einfachen und basalen motorischen Bewegungen die Entwicklung von Bewegungs-Strukturen, einer Bewegungs-Melodie, voraus. Durch Wiederholung und Zielgerichtetheit wird die Bewegung variiert, dabei werden immer stabilere Formen erreicht. So können Greifbewegungen in fast unendlicher Variationsbreite ausgeführt werden, ohne dass davor jede einzelne dieser Bewegungen tatsächlich gelernt worden wäre.
Auch für Kurt Lewin, den Begründer der psychologischen Feldtheorie, war es nicht ausreichend, sich auf reine Reiz-Reaktion-Zusammenhänge zu beschränken. Er unterschied in seinen Überlegungen zu Entwicklungspsychologie die Ebene des Verhaltens (phänotypisches Geschehen) von der Ebene der psychologischen Konstrukte (genotypisches Geschehen). Beides, das Verhalten und die Dynamik, die hinter dem Verhalten wirkt, hat er unter dem Begriff »Lebensraum« zusammengefasst.
»Um das Verhalten zu verstehen oder vorherzusagen, müssen Person und Umwelt als eine Konstellation interdependenter Faktoren betrachtet werden. Die Gesamtheit dieser Faktoren nennen wir Lebensraum (…).« (Lewin 1982b, S. 376 f.)
Das psychologische Verhalten (Handlungen, Affekte oder Ausdrucksverhalten) wird durch die Struktur und den Zustand der Person und die psychologische Umwelt beschrieben. Nur psychobiologische Tatsachen, die eine Position in diesem Feld haben, können dabei eine dynamische Wirkung entfalten (Lewin 1982). »(…) der Aufforderungscharakter der Umweltgebilde und die Bedürfnisse des Individuums sind korrelativ.« (Lewin 1982a, S. 177)
In seiner 1931 veröffentlichten Arbeit über »Umweltkräfte in Verhalten und Entwicklung des Kindes«2 und der 1946 veröffentlichten Studie über »Verhalten und Entwicklung als Funktion der Gesamtsituation«3 beschäftigt sich Kurt Lewin mit der Frage der Umwelteinflüsse auf die Entwicklung. Ähnlich wie Koffka liefert uns Lewin ein metatheoretisches Konzept, er beschreibt Kräft e und Formeln, die hinter Entwicklungsprozessen stehen. Der Fokus liegt bei ihm weniger auf einer detaillierten Beschreibung einzelner entwicklungspsychologischer Funktionsbereiche. Viel mehr postuliert er generelle Prinzipien, wie Entwicklung geschieht.
Lewin fragt nach der Entwicklung des Lebensraumes. Er beschreibt vier Dimensionen, auf denen sich der Lebensraum verändern kann. So kommt es mit zunehmender Entwicklung zu einer wachsenden Differenzierung, Ausweitung, Organisation und Veränderung der allgemeinen Flüssigkeit oder Rigidität des Lebensraumes (vgl. Lewin 1982b). Der kindliche Lebensraum unterscheide sich von dem eines Erwachsenen auf diesen vier Dimensionen.
»Die innere Struktur des kindlichen Individuums ist dynamisch durch eine relativ schwache Differenzierung zwischen psychologischen Bereichen und durch geringe funktionelle Festigkeit in den Grenzen der verschiedenen psychologischen Systeme charakterisiert.« (Lewin 1982a, S. 205)
Die Struktur des Lebensraumes kann zum einen durch die Person und zum anderen auch durch Umweltkräfte verändert werden. So kann es durch Lokomotion (Ortsveränderung der Person) oder Lernen zu Strukturänderungen kommen. Aber auch Kräfte mit Aufforderungscharakter, die aus dem Feld kommen, tragen zu Strukturänderungen bei (vgl. Lewin 1982b).
»Die Geschwindigkeit, mit der sich die Reichweite und der Differenziertheitsgrad des Lebensraumes ausdehnen, variiert während der Entwicklung beträchtlich.« (Lewin 1982b, S. 384)
Entwicklungspsychologisch relevant ist die Wirkung der Feldkräfte auch über längere Perioden des Lebens eines Individuums. So wirken sich Veränderungen in der Umwelt auf die gesamte Person aus und beeinflussen ihr weiteres Verhalten auf spätere Situationen im Lebensverlauf. Lewin fasst die transaktionale Wirkung von Feld und Individuum in seinem Konzept der »zirkulären Rückkoppelung zwischen Selbst und Umwelt« zusammen (Lewin 1982a, S. 208).
Neben der Entwicklung des Lebensraumes führt Lewin ein negatives Pendant ein, die Regression.
»Eine Veränderung des Lebensraumes als ganzen entgegen der Richtung, die für eine Entwicklung charakteristisch ist, nennt man Regression.« (Lewin 1982b, S. 386)
Sie ist gekennzeichnet von Entdifferenzierung, Desorganisation oder einer Abnahme der Zeitperspektive. Ursache können Krankheit, Frustration, Unsicherheit oder affektive Spannung sein (vgl. Lewin 1982b). Wie Koffk a bezieht sich Lewin in seinen Studien auf das Kindesalter. Mit dem Begriff der Regression öffnet er jedoch die Türe zur Entwicklungspsychologie der Lebensspanne.
»Der Übergang vom erwachsenen zum senilen Verhalten muß als Regression und nicht als progredierende Entwicklung verstanden werden.« (Lewin 1982c, S. 301)