Kitabı oku: «Handbuch der Soziologie», sayfa 14
Die Bemühungen um eine integrative Handlungstheorie setzen konzeptionell direkt an dem Schalthebel an, dessen Stellung darüber entscheidet, ob für das interessierende soziale Phänomen eine atomistische oder eine holistische Erklärung bevorzugt werden sollte: Wenn die Situationsdeutung und die Bildung der Handlungsorientierung sich als automatischer Prozess vollzieht, in dem der Handelnde stillschweigend auf gesellschaftlich vorgegebene Sinnmuster rekurriert, ist die holistische Erklärungsrichtung vorzuziehen. In diesem Fall gilt es, Soziales durch Soziales zu erklären. Denn das Handeln wird hier viel eher durch ein Wissen darüber erklärt, welche vorgeprägten Sinnmuster der gesellschaftliche Wissensvorrat für welche Situationen bereithält, als durch ein deutendes Verstehen des subjektiven Handlungssinns der Akteure (welches im Übrigen ja auch nichts anderes als eben dies zum Vorschein bringen könnte). Dort, wo dem Handeln eine eigenständige Sinnbildung und bewusste Handlungsplanung zugrunde liegt – sei es, weil der gesellschaftliche Wissensvorrat kein passendes Sinnmuster zur Bewältigung der betreffenden Situation bereitstellt (oder dem Akteur das diesbezügliche Wissen fehlt), sei es, weil ein entsprechendes Sinnmuster subjektiv sinnhaft überformt oder ergänzt wird – kommt es dagegen auf das deutende Verstehen des subjektiven Handlungssinns an. In dem Maße, in dem der Sinn, den die Akteure ihrem Wahrnehmen und Handeln zugrunde legen, von ihnen aus gesellschaftlich vorgeformten Sinnmustern übernommen werden, verlangen die resultierenden sozialen Phänomene nach einer holistischen Erklärung. In dem Maße, in dem der Sinn, den die Akteure ihrem Wahrnehmen und Handeln zugrunde legen, von ihnen bewusst sinnhaft subjektiv generiert wird, können die resultierenden sozialen Phänomene angemessen nur atomistisch erklärt werden. Die beiden Erklärungsrichtungen schließen sich dabei in keiner Weise wechselseitig aus. Dies umso weniger, als im empirischen Normalfall damit zu rechnen ist, dass die aktuelle Sinnbildung menschlicher Akteure sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen aus beiden Quellen zugleich speist.
[114]Literatur
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1 | »Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, daß das Ganze eines ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist nicht nur seine Elemente. Die Silbe nämlich ist nicht einerlei mit ihren Elementen (Buchstaben), das ba ist nicht einerlei mit b und a […]; denn nach der Auflösung ist das eine nicht mehr, z. B. […] die Silbe, die Sprachelemente (Buchstaben) aber sind noch […]. Also ist die Silbe etwas außer diesen« (Metaphysik Buch VII, Kap. 17, Abschnitt 1041b, zit. nach der Ausgabe Aristoteles 1980: 77). |
2 | In den Worten Durkheims: »Die bestimmende Ursache eines soziologischen Tatbestands muß in den sozialen Phänomenen, die ihm zeitlich vorangehen, und nicht in den Zuständen des individuellen Bewußtseins gesucht werden.« (Durkheim 1984 [1895]: 193) |
3 | Die deutschen Übersetzungen der zitierten englischsprachigen Publikationen sind meine Übersetzungen. |
4 | Dieser Einwand ist in ähnlicher Form bereits von Durkheim erhoben worden: »Darüber hat weder Hobbes noch Rousseau das Widerspruchsvolle an der Annahme bemerkt, daß das Individuum selbst der Urheber einer Maschine sein soll, deren wesentliche Rolle darin besteht, ihren Urheber durch Zwang zu beherrschen und einem Zwang zu unterwerfen.« (Durkheim 1984 [1895]: 202) |
5 | Für die Hilfe beim Wiederauffinden dieses Zitats danke ich Pascal Geißler. |
[116]Uwe Schimank
Planung versus Evolution: Wie verändert sich das Soziale?
Wer nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Westdeutschland aufwuchs, erlebte eine Phase vielfältigen sozialen Wandels. Dazu gehörten:
der rasante Wiederaufbau der westdeutschen Gesellschaft und das »Wirtschaftswunder« der 1950er-Jahre,
die in den 1960er-Jahren einsetzende Bildungsexpansion,
Ende der 1960er-Jahre die Studentenbewegung, wenige Jahre später das Aufkommen der Bürgerinitiativen und die Gründung der »Grünen«,
die »Ölkrise« und das Ende der Vollbeschäftigung seit Mitte der 1970er-Jahre,
den Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 und die deutsche Wiedervereinigung,
die in den 1990er-Jahren einsetzende rapide Verdichtung der weltweiten kommunikativen Vernetzung in allen Lebensbereichen durch das Internet,
die im selben Zeitraum beginnende öffentliche Thematisierung des von Menschen gemachten drohenden Klimawandels,
der 11. September 2001 als Menetekel des den Westen bedrohenden islamistischen Terrorismus,
die Einführung des Euro als gemeinsame Währung von immer mehr europäischen Ländern im Jahr 2002. Vorausgegangen war ein jahrzehntelanger Prozess des europäischen Zusammenwachsens seit Gründung der Montanunion mit den Mitgliedern Frankreich, Italien, den Beneluxstaaten und Westdeutschland im Jahr 1951,
die im neuen Jahrhundert viel zu spät auf die politische Agenda gebrachte demografische Entwicklung hin zu einer stetig alternden Gesellschaft,
sowie die im Herbst 2008 explosiv ausbrechende Weltfinanzkrise, die die Weltwirtschaft und die Staatsfinanzen noch auf Jahre tiefgreifend prägen wird.
Fortsetzung folgt! Diese sehr unvollständige Auflistung von Problemen, aber auch Chancen macht deutlich, in welchem Maße zahlreiche sich gleichzeitig vollziehende und in oftmals komplexen Wechselwirkungen miteinander verknüpfte Veränderungsdynamiken den sozialen Wandel kennzeichnen. Manche Zeitdiagnostiker gehen davon aus, dass eine immer größere Beschleunigung des Wandels aller Lebensverhältnisse zum Signum der Gegenwartsgesellschaft geworden sei, womit wir alle irgendwie zurechtkommen müssen (Rosa 2005). Dem widerspricht auf den ersten Blick eine ebenfalls häufig geäußerte Sichtweise, die auf Stillstand, Reformstaus, Blockaden hinweist: Vieles müsse sich grundlegend ändern, aber nichts passiere. So verhielt es sich etwa in der Endphase der DDR, und – als ein weniger dramatisches Beispiel – viele warteten bis Ende der 1990er-Jahre auf lange ausbleibende und sich bis heute nur zögernd vollziehende Veränderungen des deutschen Hochschulsystems. Der scheinbare Gegensatz löst sich auf, wenn man sich vor Augen führt, dass sozialer Wandel einerseits naturwüchsig geschieht – zwar als Ergebnis des handelnden [117]Zusammenwirkens vieler Menschen, aber von keinem geplant –, dass wir andererseits aber in der Moderne der Idee anhängen, diesen Wandel mit Blick auf bestimmte Zielvorstellungen, die wir unter der Generalformel »Fortschritt« bündeln, gestalten zu können. Dass »nichts« passiert, kann dann eben bei genauerem Hinsehen auch heißen: Es passiert nicht das »Richtige«, das als notwendig Erachtete. Was uns also offensichtlich zunehmend Probleme bereitet, ist ein sozialer Wandel, der aus dem Ruder läuft – wobei schwer zu beurteilen ist, ob der Wandel tatsächlich immer ungesteuerter vonstattengeht oder ob wir immer unrealistischere Steuerungsambitionen hegen.
Sozialer Wandel ist selbstverständlich kein Spezifikum der Moderne. Tiefgreifenden, schnellen, häufigen und abrupten Wandel gesellschaftlicher Strukturen gab es bereits in der Vormoderne, und keineswegs nur als Ausnahmephänomen. Für die Moderne charakteristisch ist allerdings eine spezifische Wahrnehmung und Bewertung von sozialem Wandel. Die Moderne sieht sich gleichsam als Dauerbaustelle. Das hat zum einen die positive Konnotation, dass Wandel intentional gestaltet wird; es gibt, um im Bild zu bleiben, Baupläne, die man umzusetzen versucht. Zum anderen kommt man damit aber offenbar nie an ein Ende – und das liegt nicht allein daran, dass man sich unaufhörlich Verbesserungen einfallen lässt, sondern auch daran, dass die Umsetzung der Baupläne selten so richtig gelingt. Letzteres ist die negative Seite sozialen Wandels, wie er in der Moderne erlebt wird. Mal entpuppen sich die Baupläne als nicht richtig durchdacht, mal kommen zu viele Bauherren einander ins Gehege. Oder es passieren handwerkliche Schlampereien und Fehler sowie Schicksalsschläge, mit denen niemand rechnen konnte.
Anders gesagt, ist sozialer Wandel in der Moderne durch ein Wechselspiel von Intentionalität und Transintentionalität geprägt.1 Die dafür häufig benutzten plakativen Gegenbegriffe lauten »Planung« auf der einen, »Evolution« auf der anderen Seite. In einer hier zunächst zugrunde gelegten weiten begrifflichen Fassung, die auch nahe am Alltagsverständnis ist, heißt Planung ein auf Gestaltung – z. B. von sozialem Wandel – ausgerichtetes Handeln mit anspruchsvollen, sich deutlich vom Status quo absetzenden Zielsetzungen, das in zeitlicher Hinsicht weit über den üblicherweise dem Handeln zugrunde liegenden Zukunftshorizont hinausschaut, sich in sachlicher Hinsicht um eine möglichst umfassende Informationsverarbeitung bemüht und in sozialer Hinsicht nach möglichst großem Konsens über Ziele und Wege dahin strebt (Schimank 2005: 312/313). Gegenüber solchen – im wortwörtlichen Sinne – Planungsanstrengungen stellt Evolution den Gegenpol eines ungestalteten, naturwüchsigen Geschehens dar. Auf sozialen Wandel bezogen bedeutet das: Variationen des Status quo wie z. B. technische Innovationen, neue Handlungspraktiken oder andere normative Regeln stellen sich zufällig als unbeabsichtigte Handlungseffekte ein; die meisten dieser Variationen erweisen sich in kürzester Frist als nicht überlebensfähig und verschwinden wieder von der Bildfläche; ganz wenige setzen sich doch dauerhaft gegenüber dem Status quo durch, werden selbst auf unbestimmte Zeit zum Status quo, um dann irgendwann durch eine neue erfolgreiche Zufallsvariation abgelöst zu werden.2
[118]Es wird sich zeigen, dass beide Begriffe – Planung wie Evolution – in Reinkultur wenig mit der Wirklichkeit sozialen Wandels zu tun haben. Doch sie markieren gemeinsam das Spektrum, in dem sich sozialer Wandel in der Moderne tatsächlich vollzieht. Genau besehen gab es bereits in vormodernen Gesellschaften vielfache intentionale Gestaltungsbemühungen. Doch diese Bemühungen waren nicht bloß in quantitativer Hinsicht in der Regel deutlich kleiner dimensioniert und insgesamt auch seltener, sondern vor allem von einer völlig anderen Qualität. In einem fundamentalen Sinne erlebten die in vormodernen Gesellschaften Lebenden intentionale Gestaltungsbemühungen als entbehrlich, während sich die Moderne existentiell auf Selbstgestaltung angewiesen sieht. Dieser Erfahrungsunterschied hat nichts mit den »objektiv« gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun, etwa der Abhängigkeit gesellschaftlichen Lebens von bestimmten Naturgegebenheiten. Diesbezüglich konnten es sich gerade auch frühere Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens bei Strafe ihres Untergangs nicht leisten, die Dinge einfach laufen und auf sich zukommen zu lassen – weswegen etwa schon im dritten Jahrtausend vor Christi Geburt in Mesopotamien die Priesterfürsten mit einem großen Verwaltungsapparat die Bewässerung der Äcker organisierten, um mit den dortigen klimatischen Bedingungen zurechtzukommen. Aber wenn in vormodernen Gesellschaften aufgrund unterlassener Gestaltungstätigkeit Katastrophen passierten, ließ sich das – bis hin zu mitursächlicher menschlicher Sorglosigkeit – in letzter Instanz Gottes Willen oder kosmischen Fügungen zurechnen, also einer »höheren Macht«, der die Menschen sich beugen müssen. Diese Art eigener Verantwortungslosigkeit haben die Menschen in der Moderne nicht mehr. Ganz im Gegenteil: Sie sehen sich in der alleinigen kollektiven Verantwortung dafür, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie zusammenleben, gestaltet sind. Genau deshalb starren sie geradezu obsessiv auf die Geschehnisse des sozialen Wandels und sehen sich sogleich zum Eingreifen bemüßigt, wenn er Unerwünschtes bringt.
Diese spezifisch moderne Erfahrung sozialen Wandels zwischen Planung und Evolution soll im Folgenden in ihren markanten Zügen herausgearbeitet werden. Ausgangspunkt muss hierfür die zentrale Idee der Kultur der Moderne sein: gestalteter Fortschritt. Denn diese Idee in der Fassung, wie sie in der Renaissance und dann von den Denkern der Aufklärung geprägt wurde und seitdem hegemonialen Status in den Köpfen der großen Mehrheit aller Gesellschaftsmitglieder erlangt hat, diskreditiert Evolution als Verlaufsfigur sozialen Wandels sehr weitgehend und fordert den gesellschaftlichen Akteuren stattdessen Planung ab. Doch Planung erweist sich in komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie die Moderne aufweist, schnell als vergebliche Liebesmühe. Zwischen unmöglicher Planung und unerwünschter Evolution findet dann eine Parallelbewegung statt: auf der einen Seite eine Anspruchsreduktion der Gestaltungsambitionen von Planung, auf der anderen Seite eine Anspruchssteigerung von bloßer Evolution zu deren gestalterischer Rahmung. So stellt sich von beiden Extremen her Realismus ein.
1. | Gestalteter Fortschritt als Leitidee der Moderne |
Eine zentrale Leitidee der Moderne besteht in der Vorstellung von Gesellschaftsgeschichte und darin aufgehobener je individueller Lebensgeschichte als gestaltetem Fortschritt. Die schon in der Antike beginnende und sich dann in der frühen Neuzeit entscheidend intensivierende Ausformulierung der Fortschrittsidee lässt sich – jenseits der im Einzelnen sehr komplizierten und [119]unterschiedlichste Frontlinien aufweisenden Deutungskämpfe und vielfältigen Lesarten durch einzelne Protagonisten – logisch als Kombination von sieben Komponenten rekonstruieren.3
Die erste Komponente ist ein lineares Zeitverständnis, das den Blick auf eine offene Zukunft richtet. Dass es »nichts Neues unter der Sonne« gebe, wird zurückgewiesen, auch in der Variante einer zyklischen Wiederkehr des Gleichen, etwa als Oszillation zwischen immer wieder sich ereignendem Aufstieg, der unweigerlich in den Niedergang führt, woraus dann ein neuerlicher Aufstieg erfolgt, usw. Stattdessen proklamiert die Fortschrittsidee: Es gibt sozialen Wandel, der genuin Neues bringt. Jede Generation erlebt Dinge, die »die Alten« so noch nicht gekannt haben. Fortschritt wird dabei vor allem deshalb zur »endlosen Zielverschiebung, weil die Zwecke, die der Fortschritt erfüllen soll, selber als fortschreitend entworfen werden« (Koselleck/Meier 1975: 352).
Die zweite Komponente der Fortschrittsidee bewertet das Neue auf eindeutige Weise: Die Zukunft wird besser sein als die Gegenwart, und diese ist besser, als es die Vergangenheit war. Zurückgewiesen wird damit zunächst einmal jede Art von Niedergangsvorstellung: dass es immer schlechter um die Welt stehe. Auch eine gemischte Bilanz der Zukunft entspricht nicht der Fortschrittsvorstellung: dass sich Gutes und Schlechtes mehr oder weniger die Waage hielten oder das Gute zwar überwöge, aber doch zu viel Schlechtes mit sich brächte. Schließlich setzt sich die Fortschrittsidee auch über jede Geschichtsdeutung hinweg, der zufolge es darum gehen müsse, ein früheres »goldenes Zeitalter« wiederherzustellen, wie es etwa im christlichen Geschichtsbild formuliert ist: Startpunkt war das Paradies, Endpunkt wird die Wiederherstellung des Paradieses im ewigen Leben sein.
Die dritte Komponente der Fortschrittsidee besagt: Die verschiedenen Fortschrittsbewegungen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen verknüpfen sich zu einer gesellschaftlich flächendeckenden Gesamtentwicklung. Dies unterscheidet sehr augenfällig die Moderne von Fortschrittsvorstellungen, wie sie auch schon in verschiedenen Phasen der Antike durchaus verbreitet waren. Dass es überhaupt Fortschritt in der Welt gebe, ist keine spezifisch moderne Idee. Doch die Griechen sahen ihn eben erstens längst nicht überall, sondern nur im zivilisierten Teil der Welt, und dort hauptsächlich in allen Arten der Technik, auch im wissenschaftlichen Wissen über die Welt und in den Künsten – ob es hingegen auch einen Fortschritt der Institutionengestaltung, etwa politischer Herrschaft, oder einen moralischen Fortschritt gebe, war schon fraglich. Zudem vollzogen sich diese verschiedenen Fortschritte weitgehend unverbunden nebeneinander. Erst in der Moderne wird von gesellschaftlichem Fortschritt im »Kollektivsingular« gesprochen, der sachlich »die Summe aller Einzelfortschritte in sich bündelt« (Koselleck/Meier 1975: 388) und sozial die Menschheit als Ganze erfasst.
Die vierte Komponente der modernen Fortschrittsidee erhebt die Menschen zu Trägern des Fortschritts. Damit werden sämtliche religiösen – insbesondere christlichen – Vorstellungen darüber, dass ein Gott, und sei es in allerletzter Instanz, den Geschichtsverlauf lenkt, zurückgewiesen. Schon im Mittelalter entwickelte das Christentum – mit Thomas von Aquin und Joachim von Fiore als wichtigsten Denkern – die Vorstellung, dass es bereits vor dem Jüngsten Tag genuine Fortschritte menschlichen Daseins geben könne und dass, noch wichtiger, die Menschen dies selbst mit in der Hand hätten, sich dabei also nicht einfach auf Gottes lenkende Hand verlassen [120]dürften. Auch ihr irdisches Leben müsse kein einziges Jammertal bleiben, wenn sie sich ernsthaft um Verbesserungen bemühten.
Diese Denkfigur ist der eine Übergang zur modernen Fortschrittsidee, insofern explizit menschliche Gestaltungsspielräume ausgemacht werden. Die andere Übergangs-Denkfigur, die dann bis weit in die Moderne hinein wirkte, bestand darin, Gott nur noch als »ersten Beweger« zu konzipieren, der gleichsam das Spielfeld und die Spielregeln konzipiert und die Spielfiguren auf ihre Startpositionen gesetzt hat, aber den Spielverlauf fortan den Spielern und ihren Auseinandersetzungen überlässt. Hier sind noch mehr Entfaltungsmöglichkeiten des menschengemachten Fortschritts vorgesehen – wobei man freilich auch scheitern kann. Schließlich ist es irgendwann nur noch ein kleiner Schritt, den ganz weit zurückliegenden Auftritt des »ersten Bewegers« gedanklich einzuklammern – als ob es ihn nie gegeben hätte – und schließlich ganz zu vergessen. Dann hegt man eine konsequent säkularisierte Fortschrittsvorstellung.
Fortschritt als Menschenwerk zu denken, verweist erst einmal auf individuelle Personen und deren Tun. In der Moderne haben sich allerdings – als fünfte Komponente der Fortschrittsidee – drei Arten von Akteuren herausgebildet, die als Adressaten des gesellschaftlichen Fortschrittsstrebens gelten: Neben Individuen sind das Organisationen und Nationalstaaten (Meyer/Jepperson 2000). Ihnen allen wird »actorhood« mit ihren verschiedenen Ingredienzien – wie Willenseinheit, Autonomie, Kognitions-, Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit, Selbstkontrolle, Ausbildung von Orientierungen und Intentionalität (Meier 2009: 82–97) – zugerechnet; und dieser Akteurstatus prägt sich mit Blick auf gesellschaftlichen Fortschritt für jeden der drei Akteure in einer je spezifischen Sendung aus. Bei Individuen ist es Bildung, durch die Fortschritt im eigenen Lebensverlauf realisiert wird. »Maintaining the dream of the rational organization« ist ein zweiter »mechanism of hope« der Moderne (Brunsson 2006). Was Bildung beim Individuum bewirkt, läuft bei Organisationen über Rationalisierung, wobei eines der avancierteren Konzepte dafür bezeichnenderweise als »lernende Organisation« tituliert wird. Schließlich sind da noch Nationalstaaten als dritte Hoffnungsträger: Mit ihnen wird Politik zur Gesellschaftsgestaltung in die Pflicht genommen und übt nicht mehr nur Herrschaft zur Sicherung der natürlichen oder gottgewollten Ordnung aus. Das kann so weit gehen, wie es Ulrich Matz (1977: 90–101 – Zitate: 90, 93, Hervorheb. weggel.) in kulturkritischer Polemik auf die Formel vom »Staat als Organisator säkularisierter religiöser Ideen«, der eine »Politisierung des Glücks« betreibe, bringt.
Als Menschenwerk wird Fortschritt gestaltet. Das gilt zunächst – dies ist die sechste Komponente der Fortschrittsidee – für substanzielle Zielgrößen des Fortschrittsstrebens. Sie werden, im Rahmen des für möglich Gehaltenen, bewusst gesetzt – z. B. die »autogerechte Stadt«, eine Frauenquote für Unternehmensvorstände oder die Beseitigung des Hungers auf der Welt. Solche Zielvorstellungen entwickeln zu können, setzt zunächst ein konsequentes Kontingenzbewusstsein gegenüber der Welt voraus (Holzinger 2007). Fast nichts wird mehr als unveränderliche Naturkonstante gesehen, fast alles könnte auch ganz anders sein bzw. gemacht werden. Weiterhin vermittelt eine gesteigerte kontinuierliche gesellschaftliche Selbstbeobachtung, von der Wissenschaft bis zum Journalismus, ein stetig wachsendes und aktualisiertes Wissen über die Welt. Auf dieser Grundlage weiß man, was der Fall ist, was geht und was anderswo wie aussieht. Das stärkt das Kontingenzbewusstsein und forciert zugleich – als letzte Voraussetzung für die Formulierung substanzieller Zielgrößen – Kritikfähigkeit. Man erkennt die Perspektivität aller Wahrnehmung und Beurteilung. Nichts ist dann mehr heilig oder »natürlich« oder unübertrefflich optimal, alles könnte auch ganz anders gesehen werden. So steht dem Status quo nicht bloß eine einzige Zielalternative gegenüber; vielmehr ist das Gegebene mit multiplen Alternativen konfrontiert. Die allgemeine Fortschrittsidee sät aus sich selbst heraus gleichsam eine beständige Zwietracht der [121]Lesarten. Denn wer was unter Fortschritt versteht und wem welche Fortschritte zugutekommen sollen, bleibt dauerhaft umkämpft.
Die siebte Komponente der modernen Fortschrittsidee führt den Gestaltungsanspruch fort: Fortschritt wird nicht nur durch Setzung der ihn gleichsam operationalisierenden spezifischen Zielsetzungen gestaltet; auch die Implementation der Ziele stellt sich nicht transintentional »hinter dem Rücken« der Akteure ein, sondern wird durch intentionale Intervention in die Welt erzielt. Dies jedenfalls ist der Selbstanspruch der menschlichen Gestalter. Nicht zuletzt aufgrund der Umkämpftheit dessen, was unter Fortschritt zu verstehen ist, fällt dieser einem nicht einfach zu, sondern muss gezielt herbeigeführt werden.
Um es noch einmal zu betonen: Hier wird eine Idee rekonstruiert – ein das Denken und Handeln lenkender Glaube: »From at least the early nineteenth century […], belief in the progress of mankind, with Western civilization in the vanguard, was virtually a universal religion […].« (Nisbet 1980: 7)4 Dass Fortschrittsglaube die zentrale kulturelle Leitidee der Moderne ist, heißt freilich weder, dass es Fortschritt in diesem Verständnis tatsächlich gibt oder geben müsste, noch, dass wissenschaftlich festlegbar wäre, was »wahrer« Fortschritt ist und was nicht. Soziologisch bedeutsam ist einzig, dass dieser Glaube Handeln motiviert und ausrichtet und darüber, vermittelt durch handelndes Zusammenwirken, gesellschaftliche Strukturdynamiken bewirkt.
Aus den letzten beiden Komponenten der Fortschrittsidee lässt sich ableiten: Wenn gesellschaftlicher Wandel Fortschritt bringen soll, ist bloße Evolution unerwünscht und Planung erforderlich. Denn Evolution bringt Fortschritt, wie bereits erläutert, bestenfalls zufällig hervor, was nicht nur ungerichtet geschieht, sondern vor allem viel zu lange dauert. Nur gezielt angestrebter Fortschritt ist in diesem Sinne mehr als eine vage Hoffnung auf irgendeine Verbesserung – das gilt sowohl für die Setzung als auch für die Verfolgung der Ziele. Damit ist Planung integraler Bestandteil der modernen Fortschrittsidee, und zwar genau als Überwindung bloßer Evolution.
Allerdings gibt es in der Moderne neben dieser »progressive rhetoric« auch eine dagegenhaltende »rhetoric of reaction«, wie Albert Hirschman (1991) herausarbeitet: eine weitreichende Fortschrittsskepsis, die gerade an dieser Planungsprämisse der Fortschrittsidee ansetzt. Der grundsätzliche Vorbehalt lautet, dass die Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse prinzipiell kein erfolgreiches Gestaltungshandeln zulässt, also auch nicht die Verfolgung von Zielsetzungen, die im Namen des Fortschritts angestrebt werden. Im Einzelnen hält die »rhetoric of reaction« nicht erst seit den Tagen der Französischen Revolution und Edmund Burkes (1790) vernichtender Beurteilung ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen – im Unterschied zu den hehren Zielen – allen Reformbemühungen wieder und wieder drei Standardargumente in unterschiedlichsten Kombinationen entgegen: