Kitabı oku: «Handbuch der Soziologie», sayfa 13
Ähnlich wie der Interaktionismus vertritt auch die Praxistheorie die Auffassung, dass das »Ganze« des Handlungszusammenhanges dem »Atom« der Einzelhandlung vorausgeht. Die Begründung dafür, dass soziale Praktiken und nicht Einzelhandlungen »die kleinste Einheit der sozialwissenschaftlichen Analyse« (Reckwitz 2004: 318) sind, entspricht der eben präsentierten Argumentation: Die Bedeutung einer Handlung liefert die soziale Praxis, in die die jeweilige Tätigkeit eingebettet ist. So wird beispielsweise die kreisende Bewegung eines Holzlöffels in einem Kochtopf erst im Rahmen einer bestimmten Kochpraxis, die dieser Tätigkeit einen spezifischen Sinn verleiht, zur Handlung des Umrührens. »Folglich setzt die Handlung die betreffende Praxis voraus. Tatsächlich ist sie ein Moment der Praxis.« (Schatzki 2002: 96) Mit dieser Sichtweise setzt sich die Praxistheorie ebenso wie der Interaktionismus von einem atomistischen und individualistischen Handlungsbegriff ab (Reckwitz 2004: 320 f.).
Die Praxistheorie ähnelt dem Interaktionismus auch darin, dass die Praktiken als soziale Produkte betrachtet werden. Eigenständigkeit gegenüber interaktionistischem Denken gewinnt die Praxistheorie vor allem dadurch, dass sie diesen sozialen Produktionsprozess als einen Prozess ansieht, der sich ohne die bewusste Aufmerksamkeit der Akteure, gleichsam hinter ihrem Rücken vollzieht. Jede soziale Praxis ist aus praxistheoretischer Perspektive eine gemeinsame Gepflogenheit, die im stillschweigenden Wissen und Können der Beteiligten verankert ist. Dementsprechend bildet das gemeinsam geteilte stillschweigende Wissen und Können die unexplizierte Grundlage, die dem menschlichen Denken und Handeln ihren Sinn verleiht (vgl. Taylor 1995: 174; Schatzki 2001: 2 f.). Diese Position findet ihr theoretisches Fundament in der Überlegung von Ludwig Wittgenstein, dass es unmöglich ist einer expliziten Regel zu folgen, wenn man nur die Regel selbst kennt (und alle weiteren Regeln, die festlegen, wie die erste Regel (und alle weiteren Regeln) angewendet werden). Denn jede weitere Regel, die Fragen der Anwendung der ersten Regel regelt, ruft selbst wieder entsprechende Fragen hervor. Tatsächlich, so Wittgenstein, stützt man sich, wenn man einer expliziten Regel folgt, immer auf Gebräuche und Gepflogenheiten, die der Regel erst ihren spezifischen Sinn verleihen. »Darum ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis.« (Wittgenstein 1984 [1953]: 345)
Menschliches Verhalten nach dem Modell des bewussten und absichtsvollen Handelns erfassen zu wollen, ist aus praxistheoretischer Perspektive Ausdruck eines intellektualistischen Fehlschlusses (vgl. Reckwitz 2003: 290). Mit der Betonung des überwiegend impliziten und inkorporierten Charakters menschlichen Wissens und Könnens, verfolgen praxistheoretische Autoren das Anliegen, dieser Vorgehensweise zu Leibe zu rücken. Dieses Anliegen steht bereits im Zentrum der praxistheoretischen Überlegungen von Pierre Bourdieu. Bourdieu zufolge ist menschliches Verhalten wesentlich durch die Fähigkeit gekennzeichnet, »unabsichtlich und ohne bewußte [106]Befolgung einer ausdrücklich als solcher postulierten Regel sinnvolle und geregelte Praktiken hervorzubringen« (Bourdieu 1992: 99). Diese Fähigkeit führt Bourdieu auf sozialisatorische Prägungen zurück, die sich im Einzelnen als Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensdispositionen niederschlagen und zusammen den Habitus der Person bilden. Sie bilden ein stillschweigendes, ein implizites Wissen und Können, das die Akteure befähigt »jenseits ausdrücklicher Reglementierung und des institutionalisierten Aufrufs zur Regel geregelte Praktiken und Praxisformen hervorzubringen« (Bourdieu 1979: 215).
In Gestalt der Habitus-Feld-Theorie entwickelt Bourdieu aus seinen praxistheoretischen Grundüberlegungen eine holistische Sichtweise gesellschaftlicher Reproduktion, die über die Annahme eines Vorrangs von Handlungszusammenhängen gegenüber Einzelhandlungen weit hinausgeht: Die Dispositionen des Habitus sind sedimentierte Formen früheren Handelns und Erlebens in Gestalt dauerhaft eingeprägter Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, welche die Akteure dazu disponieren, ihre Welt ganz selbstverständlich und nicht weiter reflexionsbedürftig in einer bestimmten Weise zu interpretieren und in einer entsprechenden Weise zu agieren. Sie formieren sich als Wiederspiegelung der objektiven Bedingungen der sozialen Lage der Akteure, als »mit diesen Bedingungen objektiv vereinbare und ihren Erfordernissen sozusagen vorangepaßte Dispositionen« (Bourdieu 1987: 100). Dadurch sind die Akteure zugleich auch habituell dazu disponiert, solche Praktiken zu produzieren, die es ihnen erlauben, sich in der jeweiligen sozialen Position, in der sie sich befinden, nicht nur zurechtzufinden, sondern auch zu Hause zu fühlen, was die Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen Struktur begünstigt: »Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte nach den von der Geschichte erzeugten Schemata« und gewährleisten damit »die Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen« (ebd.: 101). Es ist klar: Den Habitus als sozial erzeugtes Erzeugungsprinzip des Sozialen zu reklamieren heißt, Soziales durch Soziales zu erklären.
3. | Argumente für den Atomismus |
Der in den letzten hundert Jahren wirkungsgeschichtlich einflussreichste Vorschlag eines atomistischen Erklärungsprogramms in den Sozialwissenschaften ist sicherlich der methodologische Individualismus Max Webers, demzufolge soziale Phänomene »›individualistisch‹, d. h.: aus dem Handeln der Einzelnen« (Weber 1972 [1922]: 9) zu erklären seien. Der Einfluss der sozialtheoretischen Grundannahmen auf den Erklärungsstil zeigt sich bei Weber deutlich. Er begründet die »›individualistische‹ Methode« (ebd.) ausdrücklich damit, dass seine handlungstheoretische Grundlegung der Soziologie eine Erklärung sozialer Phänomene aus dem Verstehen des individuellen Handelns erfordere:
Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen. Für andre Erkenntniszwecke mag es nützlich oder nötig sein, das Einzelindividuum z. B. als eine Vergesellschaftung von ›Zellen‹ oder einen Komplex biochemischer Reaktionen, oder sein ›psychisches‹ Leben als durch (gleichviel wie qualifizierte) Einzelelemente konstituiert aufzufassen. Dadurch werden zweifellos wertvolle Erkenntnisse (Kausalregeln) gewonnen. Allein wir verstehen dies in Regeln ausgedrückte Verhalten dieser Elemente nicht. Auch nicht bei psychischen Elementen, und zwar: je naturwissenschaftlich exakter sie gefaßt werden, desto weniger: zu einer Deutung aus einem gemeinten Sinn ist gerade dies [107]niemals der Weg. Für die Soziologie (im hier gebrauchten Wortsinn, ebenso wie für die Geschichte) ist aber gerade der Sinnzusammenhang des Handelns Objekt der Erfassung. (ebd.: 6)
Weber begründet die individualistische Methode der Erklärung sozialer Phänomene mit einem grundlegenden Unterschied zwischen sozialwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Erklärungen: Für naturwissenschaftliche Forschung bildet demnach die beobachtende Erklärung das gegenstandsangemessene Vorgehen (vgl. ebd.: 8). Die sozialwissenschaftliche Forschung darf sich darauf nicht beschränken. Sie muss vielmehr die »Mehrleistung der deutenden […] Erklärung« (ebd.) erbringen. Denn naturwissenschaftliche Phänomene sind erklärt, wenn man die Regeln ihres Ablaufes kennt und gegebenenfalls funktionale Zusammenhänge benennen kann. »Aber an diesem Punkt«, so Weber (ebd.: 7),
beginnt erst die Arbeit der Soziologie (im hier verstandenen Wortsinn). Wir sind ja bei sozialen Gebilden‹ (im Gegensatz zu ›Organismen‹) in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (›Gesetzen‹) hinaus etwas aller Naturwissenschaft (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ›Erklärung‹ der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das ›Verstehen‹ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen, während wir das Verhalten z. B. von Zellen nicht ›verstehen‹, sondern nur funktionell erfassen und dann nach Regeln seines Ablaufs feststellen können.
Aus der handlungstheoretischen Perspektive Webers bestehen soziale Phänomene aus dem Zusammenwirken des Handelns von Einzelindividuen. Alle sozialen Gebilde sind »lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen« (ebd.: 6). Dieses Handeln versteht er als ein subjektiv sinnhaft motiviertes Verhalten, als ein Verhalten also, das stattfindet oder unterbleibt, weil der oder die Handelnde(n) mit ihm einen bestimmten Sinn verbinden oder nicht verbinden. Die Formulierung von Regeln, die den Ablauf eines sozialen Phänomens beschreibt, oder seine Verortung in einem funktionalen Zusammenhang reichen deshalb nicht aus, um das Phänomen zu erklären. Denn die betreffende Regelmäßigkeit oder den funktionalen Zusammenhang zu kennen, heißt nicht, dass man deshalb zugleich auch schon weiß, warum die involvierten Akteure in einer Weise handeln, die im Zusammenwirken der Beteiligten zu dieser Regelmäßigkeit oder jenem funktionalen Zusammenhang führt. Diese Frage kann erst das deutende Erklären beantworten. Stets beginnt deshalb, so Weber (1972 [1922]: 9), »die entscheidende empirisch-soziologische Arbeit erst mit der Frage: welche Motive bestimmten und bestimmen die einzelnen […] Glieder dieser ›Gemeinschaft‹, sich so zu verhalten, daß sie entstand und fortbesteht?«
Im Bereich der Naturphänomene stellt sich die entsprechende Frage danach, was die jeweils betrachteten Elemente motiviert, sich so zu verhalten wie sie sich verhalten, dagegen ganz offenkundig nicht, weshalb die Naturwissenschaften sich auf das beobachtende Erklären beschränken können. Umgekehrt ist die Beobachtung von Regelmäßigkeiten und funktionalen Zusammenhängen für die Soziologie Weber zufolge keineswegs unwichtig, sondern kann als Vorarbeit (vgl. Weber 1972 [1922]: 9) etwa dazu dienen, den Blick des Forschers auf die wichtigen Aspekte des zu erklärenden Zusammenhangs zu lenken (vgl. ebd.: 7).
Nun fällt auf, dass Webers methodologischer Individualismus sich in einer wesentlichen Hinsicht von der atomistischen Gegenposition unterscheidet, gegen die Durkheim, Parsons, Mead [108]und viele andere argumentiert haben. Jene atomistische Gegenposition führt das Soziale ja nicht auf subjektiv sinnhaftes Handeln insgesamt zurück, sondern auf eine besondere Form subjektiv sinnhaften Handelns: auf das am individuellen Vorteil sinnhaft orientierte Handeln. Gegen diese Position verweisen Durkheim und Parsons auf vorgängige normative Fundamente des sozialen Zusammenlebens, welche die Handlungsorientierungen der Individuen prägen. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, dass diese normativen Strukturen sich unabhängig vom sinnhaften Handeln der Individuen zur Geltung bringen. Ganz im Gegenteil: Das »Kollektivbewusstsein« Durkheims, die Wertorientierung in der voluntaristischen Handlungstheorie von Parsons oder die gesellschaftlichen Handlungen Meads sind gesellschaftlich vorgegebene Sinnmuster, die sich im sinnhaften Handeln der Akteure verwirklichen – nur eben so, dass die Individuen sich ihnen kaum entziehen können. Auf der anderen Seite verengt Weber die Handlungsgründe subjektiv sinnhaften Handelns keineswegs auf Motive individueller Interessenverfolgung, sondern behandelt auch normorientiertes Verhalten als subjektiv sinnhaftes Handeln – besonders deutlich im Idealtypus des wertrationalen Handelns.
Es stellt sich deshalb die Frage, wie das gleiche Phänomen, das bei Durkheim, Parsons und anderen das zentrale Argument gegen die Möglichkeit einer atomistischen Herleitung des Sozialen bildet, nämlich die gesellschaftliche Strukturierung individueller Handlungsorientierungen, als Gegenstand einer atomistischen Erklärung des Sozialen reklamiert werden kann, wie dies bei Weber geschieht. Die phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz (und Thomas Luckmann) bietet eine Antwort auf diese Frage an, die jedoch, wie ich gleich zeigen will, eher geeignet ist, die Problemstellung des Verhältnisses von Atomismus und Holismus in der Soziologie klarer herauszuarbeiten als sie zu lösen.
Alfred Schütz hält das atomistische Erklärungsprogramm Max Webers für eine der zentralen Grundlegungen der Soziologie überhaupt. »Niemals vorher«, so Schütz (1974 [1932]: 14), »war das Prinzip, die ›Welt des objektiven Geistes‹ auf das Verhalten Einzelner zu reduzieren, dermaßen radikal durchgeführt worden, wie in Max Webers Gegenstandsbestimmung der verstehenden Soziologie als einer Wissenschaft, welche die Deutung des subjektiven (nämlich des durch den oder die Handelnden gemeinten) Sinns sozialer Verhaltensweisen zum Thema hat.« Daran anknüpfend sieht Schütz seine eigene Aufgabe darin, dieses Erklärungsprogramm grundbegrifflich weiter auszuarbeiten und zu klären, wie subjektiver und wie intersubjektiver Sinn entsteht. Zur Klärung dieser Fragen bedient sich Schütz der von Edmund Husserl entwickelten Methode der phänomenologischen Reduktion und wendet sie auf die Analyse der Konstitution von Sinn im Bewusstsein an. Diese Analyse beruht darauf, von allen Gegebenheiten der Wirklichkeit radikal abzusehen, wie sie sich dem menschlichen Individuum mehr oder weniger unproblematisch als Tatsachen der natürlichen oder sozialen Welt darstellen, und allein auf die Bewusstseinsprozesse selbst zu blicken, die diese Wirklichkeitswahrnehmung hervorbringt (vgl. ebd.: 47 f., 55 f.). Schütz stellt sich mit anderen Worten ein wahrnehmungs- und bewusstseinsfähiges Individuum vor, für das die Wirklichkeit noch nicht sinnhaft konstituiert ist, das also über keine Konzepte und Begriffe verfügt, sodass die Wirklichkeit begriffslos und unbegriffen an ihm vorbeizieht. Die Frage lautet dann: Wie gelingt es diesem »einsamen Ich«, das in einem »Erlebnisstrom« zunächst nur »unabgegrenzte, ineinander stetig übergehende Erlebnisse« (ebd.: 68) registriert, daraus sinnhafte Erfahrungen zu bilden. Dazu, so die Antwort von Schütz, muss sich das Bewusstsein in der Erinnerung einer Phase des Erlebnisstroms zuwenden. Durch diese reflexive Zuwendung wird aus einer solchen Phase ein abgegrenztes Erlebnis (vgl. ebd.). Sinnhafte Erfahrungen entstehen, wenn das Bewusstsein derart abgegrenzte Erlebnisse miteinander in Beziehung setzt. Alfred Schütz und Thomas Luckmann (1984: 13) formulieren dies wie folgt:
[109]Wenn das Ich auf seine eigenen Erfahrungen […] zurückblickt, hebt es sie aus der schlichten Aktualität des ursprünglichen Erfahrungsablaufs heraus und setzt sie in einen über diesen Ablauf hinausgehenden Zusammenhang. […] Ein solcher Zusammenhang ist ein Sinnzusammenhang; Sinn ist eine im Bewußtsein gestiftete Bezugsgröße, nicht eine besondere Erfahrung oder eine der Erfahrung selbst zukommende Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beziehung einer Erfahrung und etwas anderem. Im einfachsten Fall ist dieses andere eine andere als die aktuelle, so z. B. eine erinnerte Erfahrung. Die gerade vergangene Erfahrung, deren Erlebnisevidenz noch nachhallt, wird mit Bezug auf jene nur erinnerte als gleich, ähnlich, entgegengesetzt usw. erfasst. (vgl. auch Schütz 1974 [1932]: 69, 104; Schütz/Luckmann 1979: 38, 81; Luckmann 1992: 31)
Mit diesen Überlegungen will Schütz bzw. wollen Schütz und Luckmann nicht behaupten, dass die Sinngebilde, die den Wissensbestand des Einzelnen ausmachen, seinen subjektiven Wissensvorrat also, ausnahmslos von ihm selbst erzeugt wurden. Denn im empirischen Normalfall wird das Bezugsschema, durch welches das aktuelle Erlebnis zu einer sinnhaften Erfahrung wird, »etwas Verwickelteres als eine einzelne Erfahrung sein: ein Erfahrungsschema, eine höherstufige Typisierung, eine Problemlösung oder Handlungsrechtfertigung« (Schütz/Luckmann 1979: 315) – ein Auslegungsschema also, das aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat stammt. Dementsprechend wird von den Autoren durchaus betont, dass »der subjektive Wissensvorrat nur zum Teil aus ›eigenständigen‹ Erfahrungs- und Auslegungsresultaten besteht, während er zum bedeutenderen Teil aus Elementen des gesellschaftlichen Wissensvorrats abgeleitet ist« (ebd.: 314). Nichtsdestoweniger sind Schütz und Luckmann der Auffassung, dass trotz »dieser empirischen Priorität des gesellschaftlichen Wissensvorrats gegenüber jedem beliebigen subjektiven Wissensvorrat« (ebd.: 314 f.) eine »grundsätzliche Priorität des subjektiven Wissenserwerbs« (ebd.: 315) besteht:
Den Ursprung des sozialen Wissensvorrats, genauer, der Elemente, die den sozialen Wissensvorrat bilden, kann man nur in subjektiven Erfahrungen und Auslegungen suchen. Dies bedeutet aber, daß in letzter Konsequenz der gesellschaftliche Wissensvorrat auf ›eigenständige‹ Erfahrungen und Auslegungen zurückverweist – so sehr auch die Situationen, in denen die Erfahrungen und Auslegungen stattfinden […] durch ›faktische‹ soziale Gegebenheiten bedingt sein mögen. (ebd.)
Damit ein Stück ursprünglich subjektiv generierten Sinns zu einem Element des gesellschaftlichen Wissensvorrates werden kann, muss es zuerst in intersubjektiv geteilten Sinn überführt werden, dann in Objektivationen gespeichert und schließlich institutionell verfestigt werden. Die Entstehung intersubjektiven Sinns lässt sich Schütz zufolge nicht auf der Grundlage der phänomenologischen Analyse des einsamen Ich erklären. Sie erfordert die Einführung von Zusatzannahmen: Um die subjektiven Bewusstseinsvorgänge wechselseitig auf eine Weise zu verstehen, dass gemeinsam geteilter Sinn entsteht, müssen die Beteiligten demnach zutreffend von der Unterstellung ausgehen, dass der jeweils andere die Wirklichkeit grundsätzlich so wahrnimmt und sinnhaft so deutet wie man selbst (Generalthese der wechselseitigen Perspektiven, vgl. Schütz/Luckmann 1979: 88 f.). Durch Objektivationen – insbesondere durch Objektivationen in Sprache – werden die auf dieser Grundlage erzeugten intersubjektiven Bedeutungen ablösbar von der direkten Interaktionssituation ihrer Generierung (vgl. Berger/Luckmann 1969: 39). Wenn dieser Entstehungsprozess in Vergessenheit gerät und die Individuen mit unhinterfragter [110]Selbstverständlichkeit auf das betreffende Sinnelement rekurrieren, ist es zum institutionalisierten Bestandteil des gesellschaftlichen Wissensvorrates geworden (vgl. ebd.: 65).
Folgt man dieser Argumentation, dann ist jede sinnhafte Strukturierung der Sozialwelt ein Resultat ursprünglich subjektiver Sinnbildung. Nicht nur soziale Institutionen, in denen die egoistischen Handlungskalküle der Individuen in institutionell verfestigter Form zum Ausdruck kommen, sind also letztlich nur methodologisch individualistisch zu erklären. Gleiches gilt in entsprechender Weise für die Entstehung der normativen Strukturen des Sozialen. Wir haben es dementsprechend hier mit einer Ausweitung des atomistischen Erklärungsprogramms über das vertragstheoretische Denken hinaus auf alle sozialen Gebilde und deren jeweilige Sinngrundlagen zu tun. Beantwortet dies die zuvor aufgeworfene Frage, wie normativ strukturiertes Handeln als Gegenstand einer atomistischen Erklärung des Sozialen reklamiert werden kann, wie dies bei Weber geschieht? Die Antwort scheint mir in doppelter Hinsicht »Nein« zu lauten, wobei der eine Einwand die Vorgegebenheit des gesellschaftlichen Wissensvorrates betrifft und der andere dessen Gegebenheitsweise als institutionalisiertes Wissen.
Schütz und Luckmann sind der Auffassung, dass »die Vorgegebenheit eines gesellschaftlichen Wissensvorrats und die ›Sozialisierung‹ subjektiver Wissenselemente ausgeklammert werden« könnten, »ohne daß dadurch die Grundformen des subjektiven Wissenserwerbs verzeichnet« würden (Schütz/Luckmann 1979: 315; vgl. ebd.: 154 ff.). Subjektiver Wissenserwerb wäre mit anderen Worten grundsätzlich auch dann möglich, wenn es keinen vorgegebenen gesellschaftlichen Wissensvorrat gäbe. Was aber sind die Konsequenzen dieser Überlegung? Empirisch betrachtet wächst jedes Gesellschaftsmitglied in einer Umgebung auf, in der es auf eine Fülle vorgegebener Elemente des gesellschaftlichen Wissensvorrats stößt. Es dürfte dementsprechend, wenn überhaupt, ein seltener Ausnahmefall sein, dass subjektive Sinnbildung ohne Bezugnahme auf ein gesellschaftlich vorgeprägtes Auslegungsschema erfolgt. Auch wenn die sinnhafte Einordung des aktuellen Erlebnisses in den Sinnzusammenhang selbstverständlich eine subjektive Bewusstseinsleistung ist, lässt sich die erfolgte Sinnbildung aus diesem Bewusstseinsprozess allein nicht erklären. Die Berücksichtigung des Einflusses des vorgegebenen Auslegungsschemas muss hinzukommen, ein holistisches Element der Erklärung also.
Damit ist noch nicht unbedingt gesagt, dass sich dieser Einfluss hinter dem Rücken der Akteure geltend macht. Denn wir wollen den Individuen die Fähigkeit ja nicht grundsätzlich absprechen, über den Sinn vorgegebener Sinngehalte sinnhaft reflektieren zu können. Wenn die gesellschaftlich vorgegebenen Sinnmuster allerdings in Form institutionalisierten Wissens vorliegen, ist diese Möglichkeit des subjektiv sinnhaften Nachvollzugs begrenzt. Denn institutionalisiertes Wissen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Individuen es mit fragloser Selbstverständlichkeit als gültig ansehen und demnach über den Sinn dieses Sinns gerade nicht reflektieren. Hier haben wir es dementsprechend in der Tat mit Sinnmustern zu tun, deren Wirkung auf das Denken und Handeln der Akteure sich hinter deren Rücken vollzieht – ein Einfluss des gesellschaftlichen Ganzen auf die Teile, der sich mit den Mitteln atomistischer Erklärung kaum angemessen erfassen lässt.
4. | Atomismus und Holismus |
Dem atomistischen Erklärungsprogramm der handlungstheoretischen Soziologie geht es darum, die Erklärungsmöglichkeiten zu ergreifen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass menschliches Handeln sinnhaft gesteuertes Verhalten ist. Dieses Anliegen hat Hartmut Esser mit dem folgenden Ausspruch sehr schön auf den Punkt gebracht: »Nicht die Konventionalregel des Grußes nimmt […] den Hut vom Kopf, sondern immer nur ein Akteur, der dafür seine Gründe hat.« [111](Esser 1993: 96) Esser sieht aber auch, dass die aktuelle Sinnbildung des Individuums durchaus hochgradig durch bestehende Sinnmuster strukturiert sein kann. Dann, so Esser (1999: 355), »reagieren menschliche Akteure – wie konditionierte Tauben oder Ratten – ganz spontan, intuitiv und automatisch darauf – und zwar in der Weise, wie das bis dahin in ähnlichen Situationen gelernt worden ist und üblich war«.
Einige soziologische Ansätze sehen es als ausgemacht an, dass die Sinnbildung, die für die Strukturierung des Sozialen verantwortlich ist, sich wesentlich hinter dem Rücken der Akteure vollzieht. Dann reduziert sich das Handeln in der Tat im Wesentlichen auf die konditionierte Reaktion und der menschliche Akteur ist mit Blick auf die Hervorbringung sozialer Phänomene nicht viel mehr als ein »kultureller Depp« (vgl. Garfinkel 1967: 68). In diese Richtung gehen insbesondere die Praxistheorie und die soziologische Systemtheorie. Im Fall der Praxistheorie liest sich das dann so:
Für die Praxistheorie ist es nicht die vorgebliche Intentionalität, sondern die wissensabhängige Routinisiertheit, die das einzelne ›Handeln‹ ›anleitet‹; dies schließt teleologische Elemente nicht aus, die Praxistheorie betrachtet diese jedoch nicht als explizite und diskrete ›Zwecke‹ oder ›Interessen‹, sondern als sozial konventionalisierte, implizite Motiv/Emotions-Komplexe, die einer Praxis inhärent sind, in die die einzelnen Akteure ›einrücken‹ und die sie möglicherweise als ›individuelle Interessen‹ umdefinieren. (Reckwitz 2003: 293)
Und in der Sache ganz ähnlich urteilt Niklas Luhmann: »Beobachter können das Handeln sehr oft besser auf Grund von Situationskenntnis als auf Grund von Personenkenntnis voraussehen, und entsprechend gilt ihre Beobachtung von Handlungen oft, wenn nicht überwiegend, gar nicht dem Mentalzustand des Handelnden, sondern dem Mitvollzog der autopoietischen Reproduktion des sozialen Systems.« (Luhmann 1984: 229)5 Andere soziologische Ansätze plädieren dagegen dafür, soziale Phänomene durchgängig als Effekte eines im Kern bewusst und rational reflektiert sinnhaften Handelns von Individuen zu rekonstruieren. Diese Sichtweise wird – in der Tradition des vertragstheoretischen Denkens und des methodologischen Individualismus – am entschiedensten von Vertretern der Theorie rationaler Handlungswahl vertreten (vgl. z. B. Coleman 1991: 13–27).
Im Gegensatz zu beiden Gruppen solcher Ansätze ist die Soziologie als empirische Wirklichkeitswissenschaft gut beraten, die Frage, ob und in welchem Maße ein soziales Phänomen auf eigenständige subjektive Sinnbildung zurückgeht oder durch vorgegebene gesellschaftliche Sinnmuster hervorgebracht wird, nicht konzeptuell vorzuentscheiden. Soziologische Theoriebildung sollte den Sozialforscher vielmehr in die Lage versetzen, empirisch von Fall zu Fall überprüfen zu können, zu welchen Anteilen die atomistische oder die holistische Erklärungsrichtung zur Erklärung des interessierenden sozialen Phänomens beiträgt. In der Soziologie sollte es also nicht »Atomismus versus Holismus« (oder umgekehrt) heißen, sondern Atomismus und Holismus.
Der wahrscheinlich bekannteste Versuch, die atomistische und die holistische Erklärungsrichtung nicht als einander ausschließende Alternativen, sondern als einander ergänzende Betrachtungsweisen zu erfassen, ist das von Anthony Giddens vorgeschlagene Konzept der Dualität von Struktur. Mit diesem Begriff bezeichnet Giddens, »daß gesellschaftliche Strukturen sowohl durch das menschliche Handeln konstituiert werden, als auch zur gleichen Zeit das Medium dieser Konstitution sind« (Giddens 1984: 148). Seine konzeptionelle Ausarbeitung dieses wechselseitigen [112]Bedingungs- und Ermöglichungszusammenhangs von Handlung und Struktur weist eine deutliche Nähe zur praxistheoretischen Argumentation auf: Giddens zufolge existieren soziale Gebilde in Gestalt reproduzierter sozialer Praktiken. Soziale Strukturen besitzen dementsprechend keine eigenständige Existenz jenseits des Handelns der Akteure. Vielmehr gilt, »daß Struktur, als raum-zeitliches Phänomen, nur insofern existiert, als sie sich in solchen Praktiken realisiert und als Erinnerungsspuren, die das Verhalten bewußt handelnder Subjekte orientieren« (Giddens 1992: 69). In der holistischen Erklärungsrichtung wird das individuelle Handeln durch die bereits bestehenden sozialen Praktiken angeleitet. In der atomistischen Erklärungsrichtung ist es das Handeln der Akteure, durch das diese Praktiken hervorgebracht werden. Nun ist Giddens im Einklang mit praxistheoretischem Denken zudem der Auffassung, dass das Handeln der Akteure zumeist im Modus des »praktischen Bewusstseins« erfolgt (vgl. ebd.: 73), d. h. als Handeln auf der Grundlage stillschweigenden Wissens (vgl. ebd.: 36, 431), und dass die Praktiken typischerweise die Gestalt von Routinen und Gewohnheiten haben. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass seine Konzeption der Dualität von Struktur am Ende doch darauf hinausläuft, dass sich die Struktur hinter dem Rücken der Akteure in deren Handeln durchsetzt, betont Giddens ganz ausdrücklich die Bewusstheit menschlichen Handelns: Auch das Handeln im Modus des praktischen Bewusstseins ist seinem Verständnis nach ein bewusstes Handeln, dessen Gründe der Akteur anzugeben in der Lage wäre, wenn er gefragt würde. Nur ist der Handlungssinn den Beteiligten eben in der Regel stillschweigend klar, sodass kein Erläuterungsbedarf besteht (vgl. ebd.: 55 ff.).
An diesem Punkt zeigen die Überlegungen von Giddens allerdings eher das Problem und den Lösungsansatz auf, als selbst bereits eine befriedigende Lösung vorzuweisen: Als Lösungsansatz bietet es sich an, mit dem sozialtheoretischen Grundbegriff der Handlung bzw. des Handelns zu operieren. Denn das Handeln, verstanden als ein sinnhaftes Verhalten, kann sowohl in der Form des bewusst sinnhaften und des durch eigenständige Sinnbildung motivierten Handelns vorkommen (und begrifflich gefasst werden) wie auch in der Form des durch vorgegebene Sinnmuster sinnhaft strukturierten Handelns. Im letzten Fall kann die Sinngebung des Handelns dann auch ohne Beteiligung der bewussten Aufmerksamkeit des Akteurs erfolgen. Mit dem Handlungsbegriff liegt also ein sozialtheoretischer Grundbegriff vor, der dem Begriff der Praxis, der Kommunikation und der Interaktion darin überlegen ist, dass auf seiner Grundlage atomistische wie auch holistische Erklärungen sozialer Phänomene angefertigt werden können (vgl. Schulz-Schaeffer 2010). Das Problem besteht darin, das bewusste und das stillschweigende Handeln einerseits begrifflich trennscharf genug zu halten (was Giddens nicht gelingt), um mit den Begriffen die atomistische wie die holistische Formierungsrichtung des Sozialen erfassen zu können. Anderseits gilt es, beide Formen des Handelns in einen einheitlichen theoretischen Bezugsrahmen zu bringen.
Ein Ansatz einer integrativen Handlungstheorie, der diese Zielsetzung verfolgt, ist das von Hartmut Esser vorgeschlagene Modell der Frame-Selektion (vgl. Esser 2001: 259 ff.). Dieses Modell, so Esser (2003: 360), dient dazu,
neben den ›rationalen‹ Anreizen und Erwartungen, auch die ›mentalen Modelle‹ der Menschen, ihre Weltbilder, Vorstellungen, Erwartungserwartungen und die kulturellen ›kollektiven Repräsentationen‹ in die soziologischen Erklärungen einzubeziehen und damit den (subjektiven) ›Sinn‹, den die Menschen mit ihrem Tun, nicht immer ›bewusst‹ freilich, verbinden und über den sie die Situationen mehr oder weniger fest ›definieren‹.
Mit dem Modell der Frame-Selektion greift Esser die in der Sozialpsychologie entwickelten Dual-Process-Modelle auf (vgl. Chaiken/Trope 1999), wobei er sich insbesondere an einem [113]dieser Modelle, dem so genannten MODE-Modell orientiert (vgl. Fazio 1990; Fazio/Towles-Schwen 1999). Die Dual-Process-Modelle resultieren aus experimentell gewonnenen empirischen Befunden der Sozial- und Kognitionspsychologie. Diese Befunde besagen, dass die Situationswahrnehmung und Handlungsorientierung der Versuchspersonen durch zwei komplementäre kognitive Fähigkeiten erzeugt wird: Auf der einen Seite sind sie in der Lage, die sich wiederholenden bzw. stabilen Merkmale ihrer natürlichen und sozialen Umwelt schnell und mühelos wahrzunehmen. Diese Form der Wahrnehmung erfolgt auf der Grundlage kognitiver Repräsentationen, mentaler Modelle, die automatisch und ohne Beteiligung der bewussten Aufmerksamkeit der Akteure aktiviert werden (vgl. Bargh 1999). Sie versorgt die Akteure in der jeweiligen Situation mit einem Wissen darüber, was wann, wo und von wem zu erwarten ist, und sorgt dafür, dass die Wirklichkeit von ihnen als sinnvoll geordnet und vorhersehbar erfahren wird (vgl. Macrae/Bodenhausen 2000: 94). Dieser Form der Wahrnehmung steht auf der anderen Seite die Fähigkeit gegenüber, für Unerwartetes sensibel zu sein, zu erkennen, wenn die automatisch aktivierten Situationsdeutungen und Handlungsmuster nicht passen, um dann auf der Grundlage bewusster Situationswahrnehmung und eigenständiger Sinnbildung zu einer Situationsdeutung und einem Handlungsplan zu gelangen (vgl. Fazio 1990: 89 ff.). Der Kern der Dual-Process-Modelle und ebenso auch der Kern des Modells der Frame-Selektion besteht darin, den Wechsel zwischen diesen beiden Formen der Wahrnehmung – bzw. die Art und Weise, wie sie sich ergänzen, überlagern oder miteinander konkurrieren – konzeptionell zu erfassen. Der Umstand, dass nach wie vor eine Mehrzahl unterschiedlicher Dual-Process-Modelle nebeneinander bestehen, aber auch die Weiterentwicklungen und aktuellen Diskussionen über das Modell der Frame-Selektion (vgl. z. B. Schulz-Schaeffer 2008) zeigen, dass an diesem Punkt noch Diskussionsbedarf besteht.