Kitabı oku: «Handbuch der Soziologie», sayfa 15

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 Das Argument der »perversity«: »[…] any purposive action to improve some feature of the political, social, or economic order only serves to exacerbate the condition one wishes to remedy.« (Hirschman 1991: 7) Das Streben nach einer Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse – etwa der Lebenschancen benachteiligter Gruppen – führt demnach nicht nur zu unerwünschten Effekten; sondern diese überwiegen faktisch eindeutig das, was positiv gewollt wurde: »Everything backfires.« (Hirschman 1991: 12, Hervorheb. weggel.)

 Das Argument der »futility«: »[…] attempts at social transformation will be unavailing […].« (Hirschman 1991: 7) Noch radikaler als im ersten Argument heißt es also: Wer Bestehendes verbessern will, wird weder positive noch negative Effekte erzielen, sondern überhaupt keine. [122]Alle Anstrengung bleibt vergeblich: »[…] largely surface, facade, cosmetic, hence illusory, as the ›deep‹ structures of society remain wholly untouched.« (Hirschman 1991: 43)

 Das Argument der »jeopardy«: »[…] the cost of the proposed change or reform is too high as it endangers some previous, precious accomplishment.« (Hirschman 1991: 7) War das zweite Argument radikaler als das erste, ist dieses dritte konzilianter. Es gesteht zu, dass man in der Vergangenheit eine gezielte Verbesserung erreicht hat – aber damit müsse man es nun genug sein lassen, um nicht ungewollt einen Rückfall hinter das Erreichte und vielleicht sogar hinter einen weit zurückliegenden Status quo zu riskieren.

Aus all dem wird allerdings keine völlige Verneinung der Möglichkeit von Fortschritt gefolgert, wohl aber eine deutliche Anspruchsreduktion hinsichtlich dessen, was man realistisch als Fortschritt erwarten darf. Damit läuft die »rhetoric of reaction« darauf hinaus, in der Hoffnung zu leben, dass sich ein – an übersteigerten Fortschrittsillusionen gemessen – bescheidenes und in seiner Zielrichtung nicht vorherbestimmbares Maß an Fortschritt auch ohne im Ergebnis immer nur schädliche Gestaltungsbemühungen langfristig über Evolution einstellt.5

Worin besteht nun die Komplexität, an der in dieser Sicht der Dinge Planung zwangsläufig scheitert? Es geht erstens sachlich um die Vielfalt an zu berücksichtigenden Wirkungszusammenhängen, die einen Planungsgegenstand wie etwa den Klimawandel ausmachen, sowie um das unvollständige und dennoch womöglich die Gestaltungsakteure »erschlagende«, von ihnen nicht mehr zu verarbeitende Wissen über diese Kausalitäten, zweitens sozial um die Interdependenzen zwischen den aktiv oder passiv in die Planung involvierten Akteuren, insbesondere um wechselseitige Erwartungsunsicherheiten und Konflikte untereinander, sowie drittens zeitlich um Zeitknappheit angesichts von Planungsgegenständen, bei denen schnell etwas getan werden sollte (Schimank 2005: 121–171). Darüber hinaus ist ein Planungsgegenstand viertens umso komplexer, je weniger Stellschrauben der Bearbeitung – etwa Befugnisse, räumlicher Zugriff oder »window of opportunity« – in Reichweite der Gestaltungsakteure sind (Scharpf 1977); und fünftens ist seine Komplexität desto höher, je geringer die Ressourcen der Gestaltung, insbesondere Geld, auf Seiten der Akteure sind. Angesichts all dieser Arten von Schwierigkeiten des Gestaltungshandelns erklärt Niklas Luhmann (1988: 330) kategorisch: »Wer einen Zweck in die Welt setzt, muß dann mit dem Zweck gegen die Welt spielen – und das kann nicht gut gehen oder jedenfalls nicht so, wie er denkt.« Denn: »Wenn man einmal anfängt, zwingt das zu Korrekturen, und man kann nicht wieder aufhören, wie immer man die Zwecke dreht und wendet.« (Luhmann 2000: 404) Das ist die »rhetoric of reaction«, auf die Spitze getrieben. Jegliches sich Zwecke setzende Handeln, nicht erst ambitionierte Planung, scheitert in dem Sinne, »dass das, was ich will, nicht das ist, was läuft« (Göbel 2004: 214).

Mit dieser ubiquitären »Diskrepanz zwischen Absicht und Erfolg« (Göbel 2004: 214) ist das Spannungsverhältnis von Planung und Evolution in seiner kulturellen Konstitution umrissen. Zwischen diesen beiden Polen wogen die Stimmungslagen bezüglich der Gestaltbarkeit des Fortschritts immer wieder hin und her. Die letzte große Planungseuphorie der Moderne – sieht man von der Planungshybris des real existiert habenden Sozialismus ab – prägte die knapp zehn Jahre zwischen Mitte der 1960er- und Mitte der 1970er-Jahre, als in den entwickelten westlichen [123]Ländern eine »active society« (Etzioni 1968) mit einer »aktiven Politik« (Mayntz/Scharpf 1973) ausgerufen wurde, also insbesondere durch politische Gesellschaftsgestaltung ein »geplanter sozialer Wandel« gesellschaftlichen Fortschritt – u. a. ein krisenfrei wachsendes kapitalistisches Wirtschaftssystem und eine wohlfahrtsstaatlich ermöglichte Steigerung individueller Lebenschancen – herbeiführen sollte (Naschold/Väth 1973; Böhret 1975). Der Katzenjammer, der den Planungsskeptikern wieder Recht gab, kam indes schnell und hält bis heute an.

Dass der Planungs- und Fortschrittsoptimismus so brachial abgewürgt wurde und Politiker – wie der damals ins Amt gekommene Bundeskanzler Helmut Schmidt – sich wieder nur noch als »Krisenmanager« und nicht länger als Gesellschaftsgestalter verstanden, bestätigte die »rhetoric of reaction« in ihrer Einschätzung, dass Planungsideen überhaupt nur in guten Zeiten aufkommen können. Etwa Mitte der 1970er-Jahre spitzten die gesellschaftlichen Probleme sich zu. So kamen viele ökologische Probleme neu auf die Agenda, und zugleich schrumpften die finanziellen Ressourcen der Problembewältigung aufgrund einer in die Krise geratenden Wirtschaft und entsprechend kriselnder Staatsfinanzen. Sobald die Zeiten, wie damals und seitdem, härter werden, tut sich ein fundamentales Gestaltungsparadox auf: Schwierige Zeiten sind durch sich zuspitzende und drängende gesellschaftliche Problemlagen gekennzeichnet; gerade diese Problemlagen verlangen eigentlich weitreichende, den Problemen an die Wurzel gehende Umgestaltungen – eben Planung – anstelle eines bloßen »Weiter-so« oder Kurierens von Symptomen; doch zugleich ist Planung kaum oder gar nicht mehr möglich, weil die Komplexität der Probleme derart hoch ist. Zwar gibt es vermehrten Gestaltungsbedarf; doch das geht mit extrem schwierigen Gestaltungsfragen einher, so dass Gestaltungsambitionen sehr heruntergeschraubt werden müssen. Anders gesagt: Die Komplexität härterer Zeiten verunmöglicht gestalteten Fortschritt, obwohl er gerade dann vonnöten wäre.

Doch der Fortschrittsidee, und sogar der Idee der Gestaltbarkeit von Fortschritt, gänzlich abzuschwören, stand niemals und steht auch heute nicht zur Debatte. Damit lässt sich die »conditio moderna«6 diesbezüglich so resümieren, dass Planung als erforderlich, aber äußerst schwierig oder sogar unmöglich eingestuft wird. Planung soll Evolution überwinden, doch nicht realisierbare oder scheiternde Planung fällt immer wieder in Evolution zurück. Und wenn auch noch die bescheidene Hoffnung, dass sich evolutionär ein gewisser Fortschritt einstellen kann, durch die Erfahrungen härterer Zeiten dementiert wird, bleibt als einziger Trost, den die »rhetoric of reaction« bietet, Luhmanns (1984: 645) lapidare Sentenz: »Fürs Überleben genügt Evolution.«


2.Praktiken bescheidenen Fortschrittsstrebens: mehr als Evolution – weniger als Planung

Wie gehen die gesellschaftlichen Akteure – Individuen, Organisationen und Nationalstaaten – jeweils auf ihre Weise mit diesen Antinomien der ihr Handeln bestimmenden Idee gestalteten Fortschritts um? Ein näherer Blick zeigt sowohl unter den Fortschritts- und Gestaltungsoptimisten wie unter den Skeptikern einen »Abschied vom Prinzipiellen« (Marquard 1981). Erstere praktizieren weniger als Planung, ohne jedoch die gesellschaftlichen Geschicke völlig der Evolution zu überlassen – und die Fortschritts- und Gestaltungsskeptiker tun dies ebenso wenig, sondern sehen Möglichkeiten vorsichtiger Eingriffe in evolutionäre Dynamiken. Die einen üben sich also in Anspruchsreduktion, die anderen bilden vorsichtig etwas gesteigerte Ansprüche aus; und dieses Zurück- bzw. Höherschrauben von Gestaltungsambitionen vollzieht sich nicht zuletzt vor dem [124]Hintergrund mal konfrontativerer, mal dialogischerer Auseinandersetzungen mit der jeweils anderen Seite. In den deutschen Sozialwissenschaften der 1980er- und 1990er-Jahre wurde der Streit über Möglichkeiten oder Unmöglichkeit politischer Gesellschaftssteuerung intensiv und mit prominenten Protagonisten (Luhmann 1989; Scharpf 1989) vor allem als Gegeneinander eines prinzipiellen systemtheoretischem »Steuerungspessimismus«, so das Verdikt von Renate Mayntz und Fritz Scharpf (2005: 33), auf der einen Seite und handlungstheoretischer Bemühungen, Bedingungen einer mehr oder weniger großen Steuerbarkeit gesellschaftlicher Dynamiken herauszuarbeiten, auf der anderen Seite geführt.7

Zunächst zur Anspruchsreduktion: Die empirische Forschung darüber, wie in allen Lebensbereichen komplexe Entscheidungen getroffen werden, hat eine Fülle an Praktiken ausgemacht, die weniger als Planung realisieren, ohne doch die Ambition intentionaler Gestaltung gänzlich aufzugeben (als Überblick: Schimank 2005). Ein als Planung einstufbares Gestaltungshandeln ist ja, wie einleitend dargestellt, in seinen Zielsetzungen langfristig und ausgreifend angelegt, geht möglichst systematisch bei der Informationsverarbeitung und kreativ bei der Alternativensuche vor, bemüht sich um Optimierung und um einen möglichst alle einbeziehenden Konsens. Hier macht bereits der bekannte Inkrementalismus – auch als »science of muddling through« tituliert (Lindblom 1959) – große Abstriche, die aus den folgenden Devisen hervorgehen:

 Kümmere dich nicht um ein Gestaltungsanliegen, solange du es nicht musst!

 Wenn du dich darum kümmern musst: Wende dich nur denjenigen Aspekten zu, die wirklich drängend sind!

 Suche dann Gestaltungsmöglichkeiten, die im gut bekannten nahen Umfeld liegen und bei denen du mit keinen größeren Widerständen zu rechnen hast!

 Sobald du in diesem Rahmen eine einigermaßen zufriedenstellende Gestaltungsalternative gefunden hast, setz diese in die Tat um und such nicht mehr weiter, ob es vielleicht noch eine bessere gibt!

 Sei gefasst darauf, dass du das Gestaltungsanliegen bald wieder auf dem Tisch hast, weil dein Gestaltungshandeln steckengeblieben ist oder problematische Neben- und Fernwirkungen zeigt!

Schon die erste Devise macht die Ausrichtung klar: Die meisten Gestaltunganliegen schlägt ein inkrementalistisches Vorgehen in den Wind, verhält sich also gerade nicht »aktiv«. Dahinter steht die Einsicht, dass man sich sonst schnell völlig überlastet und dann nichts mehr erfolgversprechend angeht. Nur solche Gestaltungsoptionen, die entweder drängende Probleme oder sehr günstige Verbesserungschancen darstellen, werden aufgegriffen. Bei Letzteren geht die Absicht klar in Richtung eines Fortschritts gegenüber dem Status quo; bei Problembearbeitung kann das ebenfalls so sein, wobei jedoch nicht selten bereits die Wiederherstellung des Status quo als Erfolg gewertet wird.

Ein inkrementalistisches Gestaltungshandeln ist ferner – auch dies aus Gründen der Komplexitätsreduktion – so angelegt, dass Akteure sich als »watchdogs for values« (Lindblom 1965: 156) vorrangig um ihre je eigenen Angelegenheiten und Interessen kümmern und nicht versuchen, gleichsam das jeweilige »Gemeinwohl« zu bedienen. Dementsprechend gibt es multiple und meist eher kleinformatig angelegte Gestaltungsaktivitäten, die dann in größtenteils unvorhergesehene Interferenzen miteinander geraten.

Die letzte der formulierten Devisen, die eine logische Konsequenz der vorhergehenden sowie der gerade angesprochenen unabgestimmten Gestaltungsinterferenzen ist, verweist darauf, dass [125]Inkrementalismus Gestaltungsakteure sozusagen zu »Serientätern« werden lässt und in diesem Punkt dann durchaus Luhmanns zitierter Prognose entspricht, sich nämlich zu einer »unendlichen Geschichte« auswächst. Denn mit dem Nachbessern wird man nie ans Ende kommen, sondern nur immer weiteren Nachbesserungsbedarf erzeugen. Anstelle von Problemlösungen begnügt man sich mit Problemverschiebungen; und jede Verbesserung weckt, wie im Märchen vom Fischer und seiner Frau, Appetit auf mehr, was dann auch immer wieder böse endet.

Erst recht gilt das Nicht-zu-Ende-kommen für alle Arten sub-inkrementalistischen Copings, das die Ambitionen intentionaler Gestaltung noch weiter herunterschraubt (Schimank 2011). Hintergrund ist eine weitere Komplexitätssteigerung, mit der der Akteur zurechtkommen muss – etwa durch eine immer weiter voranschreitende Globalisierung des Gestaltungshorizonts, weil Probleme immer raumgreifendere Interdependenzen zeigen, oder durch eine zunehmende Beschleunigung des gesellschaftlichen Geschehens (Rosa 2005), was die Zeitknappheit des Gestaltens immer weiter erhöht. Irgendwann ist aufgrund solcher und weiterer Komplexitätssteigerungen dann der Punkt gekommen, an dem es sich für einen Akteur nicht mehr lohnt, sich vorab zu überlegen, was wünschenswert wäre, um sodann zu versuchen, es zu realisieren.8 Die Chance, auf diese Weise auch nur halbwegs erfolgreich zu sein, ist einfach viel zu gering. Der Akteur kann dann nur noch weitgehend ergebnisoffen – euphemistisch gesagt: lernbereit – abwarten, wie sich die Dinge entwickeln, und schauen, ob sich ab und zu Verzweigungen des Laufs der Dinge bieten, bei denen er erstens eine einigermaßen klare Einschätzung davon hat, welche der Alternativen zumindest etwas besser für ihn ist als die anderen, und er zweitens eine Möglichkeit sieht, darauf hinzuwirken, dass sich das Geschehen in Richtung dieser Alternative bewegt. Dann und nur dann lohnt es sich überhaupt, gestaltend in den Lauf der Dinge einzugreifen. Als Handlungsmaximen des Coping gelten dann, basierend auf solchem Warten auf eine günstige Gelegenheit: »Basteln, Flicken, Probieren, Kombinieren« (Guttandin 1996: 31), kurz: spontanes Improvisieren.

Coping kann im Grenzfall auf reines Zeitgewinnen hinauslaufen. Um es mit einer Analogie zum Flipperspielen auszudrücken: Solange man es schafft, die Kugel im Spiel zu halten, kann man auf koinzidenzielle Unterstützung hoffen, also darauf, dass man demnächst etwas Glück haben wird und die Kugel, völlig unabhängig von längst aufgegebenen eigenen gezielten Schüssen, zwischen punkteträchtigen Bumpern hin und her gestoßen wird (Schimank 1999). Auf Gestaltungshandeln bezogen hieße das, nur noch darum bemüht zu sein, weiter bereit zu stehen, um irgendeine sich vielleicht irgendwann ergebende Gestaltungschance nutzen zu können. Und auch und gerade hier sind sich die Akteure im Klaren darüber, dass sie auf Zeit spielen, also »Serientäter« werden: Denn dass sie ausgerechnet mit Coping das große Los ziehen und nicht weiter gestaltungsbedürftige, völlig ausgereifte Fortschritte erzielen, ist extrem unwahrscheinlich.

Schon Inkrementalismus hat bei denen, die es ernst mit Planung meinen, keine gute Presse. Yehezkel Dror (1964) schalt ihn als »inertia« der Planungsfaulen. Sub-inkrementalistisches Coping bleibt dann als Gestaltungshandeln so weit hinter der Planung zurück, dass man es gemeinhin in gar keinem Zusammenhang mehr damit sieht. Warten, Im-Spiel-bleiben, Improvisation und Glück-haben: Das gleitet vielmehr umgekehrt schon sehr nahe in ein bloßes [126]Hinnehmen dessen ab, was der Lauf der Dinge bringt. Damit ist man am Gegenpol von Planung angelangt, wo sich Akteure völlig den zufallsgetriebenen Dynamiken von Evolution überlassen.

Grundsätzlich ist freilich spätestens hier erst einmal zu fragen, weshalb man überhaupt auf die Idee kommen kann, soziales Geschehen als Evolution einzustufen, also als eine Dynamik, an deren Anfang stets der Zufall steht. Akteure würfeln doch schließlich nicht ständig aus, wie sie handeln.9 Zufallsvariation kann hier, wie auch in der natürlichen Evolution, nur heißen: ein nicht den im Rahmen der jeweiligen Strukturen eigentlich zu erwartenden Regelmäßigkeiten gehorchendes Geschehen. Alle Arten von Versehen und Missgeschicke von Handelnden – hierunter fallen auch Kopierfehler, weil man es nicht besser weiß oder sich keine Mühe gibt – können solche Variationen hervorbringen, ebenso wie bewusste und idiosynkratische Abweichung, weil man keine Lust zur Regelkonformität oder eine neue Idee hat. Noch anfälliger für Zufallsvariationen sind diffuse, uneindeutige oder widersprüchliche Strukturen, die dann je situativ im Handeln erst auf den Punkt gebracht werden müssen, was mal so und mal so – selbst beim gleichen Akteur – aussehen kann. Ganz grundsätzlich gilt schließlich, dass jede das Handeln auch noch so klar vorgebende Struktur in dem Sinne zum Zufallsgenerator werden kann, dass ein Teil der eintretenden Handlungsfolgen aus unabsehbaren und keiner übergreifenden Regelmäßigkeit gehorchenden Interferenzen mit durch ganz andere Strukturen geprägtem Handeln hervorgeht. So können bereits zwei interferierende – einander konterkarierende und blockierende, aber auch sich aufsummierende oder eskalierende – Handlungslinien, die je für sich zunächst völlig regelhaft ablaufen, Zufallsvariationen hervorbringen, die Weiteres nach sich ziehen. Intentions- und Handlungsinterferenzen und daraus hervorgehende Strukturdynamiken sind insbesondere in dem Maße als evolutionär – dann auch im Sinne von »ungeplant« und »planlos« – einzustufen, wie sie auf »Cournot-Effekten« (Boudon 1984: 173–179) beruhen, also der koinzidentiellen Verknüpfung unabhängiger Wirkungsketten.

Um ein einfaches Beispiel dafür zu geben: Der Verlust der Fähigkeit des Stadtstaats Bremen, sich über eigene Steuereinnahmen zu finanzieren, ist seit Anfang der 1970er-Jahre stark auf zwei ganz unabhängig voneinander wirkende Ursachenbündel zurückführbar, die sich aber gerade, weil sie zufällig im gleichen Zeitraum zur Geltung kamen, unheilvoll aufsummierten: die gesamtstaatliche Steuerreform, die als Ort, wo die Lohn- und Einkommenssteuer gezahlt wird, nicht länger den Sitz des Arbeitgebers, sondern den Wohnsitz des Arbeitnehmers bestimmt, wodurch viele Angehörige der gut verdienenden Mittelschichten, die in Bremen arbeiteten, von einem Tag auf den anderen ihre Steuern nicht mehr dort, sondern im niedersächsischen Umland ablieferten, wohin sie wegen des billigen Baulands gezogen waren; und die einsetzende Strukturkrise von Wirtschaftsbranchen wie dem Schiffbau, die in Bremen stark vertreten waren und nun nicht nur immer weniger Unternehmenssteuern bezahlten, sondern auch noch hohe Kosten in Form von Subventionen und Sozialausgaben verschlangen. In diesem Fall waren beide Entwicklungen sogar absehbar, aber dennoch von den politischen Entscheidungsträgern Bremens nicht abwendbar (Barfuß 2010: 153–184).

Gerade angesichts allgegenwärtiger »Cournot-Effekte«, aber auch sonstiger Transintentionalitäten stellt sich die Frage, ob überhaupt mehr als Evolution möglich ist oder Akteure eher auf der Linie der »rhetoric of reaction« das resignative Fazit ziehen sollten, wie es in Bertolt Brechts »Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens« formuliert ist: »Ja, mach nur einen Plan/Sei [127]nur ein großes Licht/Und mach dann noch ›nen zweiten Plan/Gehn tun sie beide nicht.«10 Immerhin wird auch von Seiten derjenigen, die die »rhetoric of reaction« pflegen, kein totales Verbot von Gestaltungshandeln auferlegt. Man gesteht zumindest zu, dass neben dem segensreichen Walten von »invisible hand mechanisms« (Ullman-Margalit 1978) wie vor allem dem Markt auch eine vorsichtige Gesellschaftsgestaltung »auf Sicht« im Schneckentempo des »piecemeal engineering« (Popper 1957) gelingen und sinnvoll sein könne.11 Den Trägern des gesellschaftlichen Fortschrittsstrebens wird also eine »Politik der kleinen Schritte« – eine besonders behutsam vorgehende Spielart des Inkrementalismus (Sunstein/Ullman-Margalit 1999) – empfohlen, die sofort zurückrudern kann, sollten sich unerwünschte Effekte herausstellen.

Diese Konzession an den Inkrementalismus ist die eine Richtung, in der auch nach dem Dafürhalten von Fortschrittsskeptikern durch bewusste Gestaltung mehr als Evolution drin ist. Die andere Gestaltungsrichtung besteht in einer Kanalisierung evolutionärer Dynamiken. Dies kann mit zwei gegenläufigen Absichten geschehen. Zum einen können im Sinne eines »good opening« evolutionäre Variationen ermutigt, angestoßen und gefördert werden – zum anderen können umgekehrt durch »good closing« extreme Ausschläge und Turbulenzen, wie sie manche Variationen mit sich bringen können, unterbunden werden.12 »Good opening« heißt, die Startvorteile des Bestehenden, den »Status quo als Argument« (Luhmann 1968) zu neutralisieren, damit Neuerungen überhaupt eine Chance erhalten – etwa über »sensible foolishness« (Cohen/March 1974: 226–229) und andere Formen des »Querdenkens« oder als Modellversuche, die Vergleiche zwischen dem Alten und dem Neuen dahingehend ermöglichen, ob Letzteres einen Fortschritt darstellt. »Good closing« wirkt demgegenüber dahin, eventuell gefährliche große Schritte weg vom Status quo zu verhindern, z. B. bei Umverteilungen von Ressourcen Obergrenzen – zumindest für bestimmte Zeiträume – zu setzen.

Ein prominentes Beispiel, an dem man sich die Austarierung von »good opening« und »good closing« anschauen kann, bildet das Wahlrecht demokratischer Politik. Das Mehrheitswahlrecht, bei dem nach dem Prinzip »winner takes all« derjenige, der die Mehrheit der Wählerstimmen erhält, dadurch fortan für alle Wähler, auch die, die ihn nicht gewählt haben, zu sprechen und zu entscheiden befugt ist, erleichtert »good opening«, weil es die konsequente Durchsetzung von Neuerungen ermöglicht: 51 Prozent der Stimmen reichen für radikale Kurswechsel aus. Das Verhältniswahlrecht bremst als »good closing« solche Innovativität deutlich früher aus. Denn auch die Stimmen der unterlegenen 49 Prozent zählen und können als entgegenstehende Präferenzen zur Geltung gebracht werden, so dass den Kräfteverhältnissen entsprechende Kompromisse gemacht werden müssen. Dass viele funktionierende Demokratien ganz unterschiedliche Mischungen von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht institutionalisiert haben, zeigt, dass dieses äußerst wichtige Feld des »institutional design« als Gestaltungsanliegen ernst genommen wird. Dies geschieht sicherlich genau deshalb, weil hier die Spielregeln der bedeutsamsten Arena gestaltet werden, in der gesellschaftlicher Fortschritt kollektiv gestaltet wird, und zwar ganz offensichtlich zumindest einigermaßen zufriedenstellend. Andernfalls hätte man »institutional design« hier längst aufgegeben und politische Willensbildung gänzlich der Art von naturwüchsigen erratischen Kräfteverhältnissen überlassen, wie man sie an »failed states« in Teilen von Afrika und anderswo studieren kann.

[128]Damit unterliegt Evolution nicht nur über solche sie einhegende »second-order decisions« (Sunstein/Ullman-Margalit 1999) dann doch Gestaltungsambitionen, wie sie letztlich von Planungsideen gespeist werden; und diese Ambitionen bleiben trotz aller Enttäuschungen, die sie immer wieder bereiten, keineswegs eine völlig vergebliche Liebesmühe.


3.Auf der Dauerbaustelle

Sieht man beide Stränge des Denkens und Handelns, die ich hier präsentiert habe, im Zusammenhang miteinander, erkennt man die »checks and balances«, die in die Kultur wie in die institutionalisierten Handlungsmuster der Moderne eingebaut sind (s. Abb.):

 Die das Selbstverständnis der Moderne beherrschende Leitidee des gestalteten Fortschritts lässt Gesellschaftsgestaltung in Form von Planung als unerlässlich erscheinen, um bloße Evolution zu überwinden.

 Doch es gibt die nicht zum Schweigen zu bringende beharrliche Gegenstimme, die auf die Unmöglichkeit von Planung hinweist und damit tröstet, dass Evolution doch gar nicht so schlecht sei, wie sie gemacht werde.

 Das asymmetrische Gegeneinander beider Stimmen sorgt dafür, dass sich beide mäßigen: Planungsambitionen werden auf ein realistisches Maß heruntergeschraubt, und man belässt es nicht bei bloßer Evolution.

 Im Zusammenklang beider Stimmen ergibt sich das spezifische Wechselverhältnis von Intentionalität und Transintentionalität sozialen Wandels der Moderne. Als kulturelle Idee herrscht Intentionalität vor; das gibt ihr so viel Kraft, dass sich auch die faktische Balance ein wenig zu ihren Gunsten verschiebt. Wie stark auch immer wir rein evolutionären Dynamiken unterworfen bleiben – wir wären es noch mehr, wenn wir nicht von Planungsambitionen beseelt wären.

Die Moderne als Dauerbaustelle lässt man auf diese Weise niemals hinter sich. Man muss sich also auf ihr einrichten und damit zufrieden sein, dass heute dieses, morgen jenes und übermorgen [129]wieder etwas anderes einigermaßen funktioniert und vorzeigbar ist – aber nie alles gleichzeitig! Und mehr noch: Eine Garantie, dass ein einmal erreichtes Niveau an Funktionstüchtigkeit dauerhaft erhalten und nicht wieder unterschritten wird, gibt es nicht.


Literatur

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