Kitabı oku: «Identitätskonzepte in der Literatur», sayfa 7

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Mit welcher Fähigkeit zur Differenzierung Herder bei diesen Fragestellungen arbeitet, zeigt er bei der Frage nach der Existenz von ‚Rassen‘. Man habe einige Völker der Erde ursprünglich nach den Gegenden ihres Lebensraumes oder gar nach Farben charakterisiert. Herder sieht keine Veranlassung zu einer solchen Benennung. „Rasse leitet auf eine Verschiedenheit der Abstammung, die hier entweder gar nicht statt findet oder in jedem dieser Weltstriche unter jeder dieser Farben die verschiedensten Rassen begreift. Denn jedes Volk ist Volk: es hat seine National-Bildung, wie seine Sprache.“ Wenn Herder „weder vier noch fünf Rassen; noch ausschließende Varietäten“ gelten lässt, so widerspricht er seinem Lehrer Kant, der in seinem Aufsatz Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775) und in der Abhandlung Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (1785) vier Menschenrassen unterscheidet, aber auch die Einheit des Stammes betont, die für Herder Grundlage seiner Argumentation ist.

Kurz, weder vier oder fünf Rassen, noch ausschließende Varietäten gibt es auf der Erde. Die Farben verlieren sich in einander: die Bildungen dienen dem genetischen Charakter; und im Ganzen wird zuletzt alles nur Schattierung eines und desselben großen Gemäldes, das sich durch alle Räume und Zeiten der Erde verbreitet.29 (6, 256)

Aufklärerische (Anti-)Identitätsentwürfe und (trans-)nationale Gründungsmythen: Jakob Michael Reinhold Lenz’ Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi (1774)

Nikola Keller, Freiburg

I. Zur Einführung. Lenz’ Neuer Menoza: Nichts ist, wie es scheint?

Die Eltern der Familie von Biederling ein Naumburger Ehepaar, der Sohn ein zeitweiliger cumbanischer Prinz, die vermeintliche Tochter eine erst deutsche Bürgerliche, dann spanische Gräfin, die dazu noch zur Schwiegertochter wird, eine scheinbar spanische Gräfin die tatsächliche Tochter. Diese durchaus ungewöhnlichen Familienverhältnisse stellen sich im Handlungsverlauf von Jakob Michael Reinhold Lenz’ Tragikomödie Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi ein. Nationale Zugehörigkeiten erscheinen als ebenso fluide wie familiäre. Inhaltlich übe das 1774 erschienene Drama, so eine geläufige Forschungsposition, „Zivilisationskritik“ und „Aufklärungskritik“1 und damit Kritik an etwas, das auf einer überindividuellen Ebene identitätsstiftend wirken kann. In das Zentrum des Interesses rückt in diesem Zusammenhang vor allem der Protagonist und titelgebende Prinz Tandi, dem diese gleich einem „Sprachrohr“ in den Mund gelegt werde.2 Weit seltener werden jedoch dessen Platz in dem benannten Familiengefüge sowie der der anderen Familienmitglieder thematisiert. Der vorliegende Beitrag soll zeigen, dass Lenz es mit seinem Drama keineswegs bei einem einseitigen Kritisieren belässt, sondern unterschiedliche Identitätsentwürfe anbietet und gegeneinanderhält. Dem im Stück verhandelten Familiengefüge der von Biederlings kommt dabei eine besondere Rolle zu. Exemplarisch beleuchtet wird dies zunächst anhand zweier einschlägiger Dialoge, bevor dann mit dem sich entwickelnden Familiengefüge der Gesamtverlauf der Handlung in den Blick genommen wird.

II. Aufklärerische Identitätsentwürfe als (trans-)nationale Gründungsmythen

Wie der cumbanische Prinz Tandi zu Beginn der Dramenhandlung erfahren soll, die mit der Rückkehr des Familienvaters von Biederling ins sächsische Naumburg einsetzt, ist er zu einem besonderen Zeitpunkt dort eingetroffen. Bei einer Begegnung mit dem Gelehrten Bakkalaureus Zierau im ersten Akt erhält er – und mit ihm das (Lese-)Publikum – eine Lehrstunde über die dortigen Verhältnisse:

Die Verbesserung aller Künste, aller Disziplinen und Stände ist seit einigen tausend Jahren die vereinigte Bemühung unserer besten Köpfe gewesen, es scheint, wir sind dem Zeitpunkte nah, da wir von diesen herkulischen Bestrebungen endlich einmal die Früchte einsammeln, und es wäre zu wünschen, die entferntesten Nationen der Welt kämen, an unsrer Ernte Teil zu nehmen.1

Es handelt sich, glaubt man den Worten Zieraus, folglich um einen Kulminations- und Kondensationszeitpunkt, eine zu erwartende Vollendungsstunde von etwas zwar lange Vorbereitetem, doch erst ‚jetzt‘ zu voller Reife Gekommenem, und damit auch um eine Gründungsstunde. Dieser Beginn wird deutlich markiert. Zunächst ist es die Ernte, die zugleich als Abschluss und vor allem als Anbruch von etwas Neuem gefasst wird. Über die Parallelität des Erntens und den Verlauf des Säens, des Wartens auf das Aufgehen der Saat und des Erntens zu einer ganzen Reihe von Gleichnissen im Markusevangelium, etwa dem Gleichnis vom Sämann, dem Gleichnis vom Wachsen der Saat oder dem Gleichnis vom Senfkorn,2 wird außerdem der Vergleich zur Vervollkommnung des Menschen und zum Reich Gottes aufgerufen. Der Vergleich mit einem weltlichen Reich genügt nicht, um die Außerordentlichkeit des Moments ebenso wie dessen, was gegründet wird, zu beschreiben. In den weiteren Ausführungen Zieraus erfolgt eine doppelte Konkretisierung:

Besonders da itzt in Deutschland das Licht der schönen Wissenschaften aufgegangen, das den gründlichen und tiefsinnigen Wissenschaften, in denen unsere Vorfahren Entdeckungen gemacht, die Fackel vorhält und uns gleichsam jetzt erst mit unsern Reichtümern bekannt macht, daß wir die herrlichen Minen und Gänge bewundern, die jene aufgehauen, und ihr hervorgegrabenes Gold vermünzen.3

Während in der ersten zitierten Replik noch unklar bleibt, um wen genau es sich bei dem formulierten „wir“4 handelt, wird nun offenkundig, dass von den Bewohner:innen „Deutschland[s]“ die Rede ist,5 und damit von etwas, das einerseits zumindest als nationalpolitisch-territoriale Einheit zu diesem Zeitpunkt noch nicht besteht,6 das andererseits zugleich als bestehend vorweggenommen wird. Weiterhin verweist das Aufgehen des Lichts deutlich auf das Fundament für die Neugründung dieses Deutschlands oder die Gründung dieses neuen Deutschlands: die Aufklärung. Im weiteren Fortgang der Szene benennt Zierau auch die Akteure, die als Gründungsväter und Identitätsstifter firmieren:

Wir haben itzt schon seit einem Jahrhunderte fast Namen aufzuweisen, die wir kühnlich den größesten Genies unserer Nachbarn an die Seite setzen können, die alle zur Verbesserung und Verfeinerung unsrer Nation geschrieben haben, einen Besser, Gellert, Rabner, Dusch, Schlegel, Uz, Weiße, Jacobi, worunter aber vorzüglich der unsterbliche Wieland über sie alle gleichsam hervorragt, ut inter ignes luna minores, besonders durch den letzten Traktat, den er geschrieben und wodurch er allen seinen Werken die Krone scheint aufgesetzt zu haben, den Goldenen Spiegel, ich weiß nicht, ob Sie schon davon gehört haben, meiner Einsicht nach sollte er’s den Diamantenen Spiegel heißen. [Hervorhebung im Original, N.K.]7

Alle Genannten sind Autoren der Aufklärung, Gründungsdokumente sind damit kulturelle Artefakte, zumeist Bücher. Was wird also auf der Basis wovon durch wen für wen be-, respektive gegründet? Mit einem geographischen Ort, Gründungsakteuren, Gründungsdokumenten – und mit Zieraus Narrativ vielleicht sogar einer Form von Gründungserzählung – handelt es sich in der Summe betrachtet um die Gründung einer geistig-kulturellen Gemeinschaft, die nicht zuletzt durch die häufige Verwendung der Personalpronomina ‚wir‘ und ‚uns‘ als Kollektiv inszeniert wird. Parallel zum Schritt der ‚Nationenbildung‘ wird dieses textuell gegründete Deutschland in ein bereits bestehendes Europa integriert8 und wird auf diese Weise Teil jener Nationen, die es vermeintlich „allen andern Nationen in der ganzen Welt zuvorgetan“ haben.9

III. Anti-aufklärerische Identitätsentwürfe und anti-(trans-)nationale Gründungsmythen?

Parallel zum entworfenen positiven Selbstbild und dem identitätsstiftenden Moment einer (Neu-)Gründung wird dies jedoch im Moment des ‚Verkündens‘ einer deutlichen Kritik unterzogen. Bereits im Dialog Zieraus mit dem Protagonisten zeigt sich ein erstes wortwörtliches Infragestellen von dessen Ausführungen. Tandi unterbricht seinen Quasi-Monolog zunächst mehrfach mit der simpel anmutenden Frage „So?“.1 Auf die Nachfrage, wovon Wielands Goldener Spiegel handle, vermag der Gelehrte nicht präzise zu antworten, sondern flüchtet sich in Weitschweifigkeiten. Nach konkreten, von ihm selbst stammenden Ratschlägen befragt, verstrickt sich dieser schließlich in eine Abfolge von Konditionalgefügen, die sichtbar ins Leere laufen.2 In einem weiteren Dialog, nunmehr im zweiten Akt und zwischen Tandi und Herrn von Biederling, wird die bislang primär ex negativo deutlich gewordene Konterkarierung des angeblich angebrochenen „Goldene[n] Zeitalter[s]“,3 zumindest in der Art und Weise wie Zierau es präsentiert, explizit. Dabei finden exakt jene zuvor von Zierau verwendeten Elemente neuerlichen Gebrauch, sodass durch die inhaltliche und zeitliche Parallelisierung von Eigen- und Fremdwahrnehmung eine allzu ‚affirmierende‘ Lesart des Dramas verunmöglicht wird. Der Dialog beginnt programmatisch mit dem Vorwurf des Prinzen: „Ich reise, aber nicht vorwärts, zurück! ich habe genug gesehn und gehört, es wird mir zum Ekel“ und der Protagonist führt weiter aus: „Ich glaubt in einer Welt zu sein, wo ich edlere Leute anträfe als bei mir, große, vielumfassende, vieltätige – – ich ersticke –“.4 Worauf genau seine Kritik gründet, wird spätestens mit der folgenden Replik offenkundig:

In eurem Morast ersticke ich – treib’s nicht länger – mein Seel nicht! Das der aufgeklärte Weltteil! Allenthalben wo man hinriecht Lässigkeit, faule ohnmächtige Begier, lallender Tod für Feuer und Leben, Geschwätz für Handlung – Das der berühmte Weltteil! o pfui doch! [Hervorhebung durch mich, N.K.]5

Die Lebendigkeit und die Progressivität, mit der das Zeitalter der Aufklärung im vorigen Dialog beschrieben wurde, werden in dieser und in den weiteren Repliken Tandis ins Gegenteil verkehrt: Aus dem Erblühen, dem Wachsen, dem Voranschreiten, dem Leuchten und dem Glänzen wird sich im Absterben Befindliches oder bereits Abgestorbenes, Verkommenes und Krankes. Es braucht, um bei den Gleichnissen des Markusevangeliums zu bleiben, im Morast nicht gesät werden, denn die Saat wird nicht aufgehen und es wird folglich auch keine Ernte zu erwarten sein. Europa ist nicht länger Vorbild, sondern wird als ekelerregend, ja sogar als Gefahr empfunden. Anstatt, wie angenommen, die europäischen Sitten nach Cumba zu exportieren,6 scheint es für den Prinzen geboten, um Cumba „Mauren [sic] herum[zu]ziehn, daß jeder, der aus Europa kommt, erst Quarantäne hält, eh er seine Pestbeulen unter meinen Untertanen vervielfältigt“.7 Insofern ist von den angeblichen glänzenden Zeiten wenig bis gar nichts zu spüren. Sich „Europäer“ nennen zu dürfen – oder zu müssen – wird nicht zum Qualitätsprädikat,8 sondern zum Schimpfwort, jedem Anspruch auf Höherwertigkeit wird die Grundlage entzogen. Ob das, worauf sich eine neue Nation zu gründen sucht, eine solide oder überhaupt eine Basis ist, wird massiv infrage gestellt, von der Divinität, mit der sie verbunden wird, bleibt nichts übrig.

Die Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von den Angehörigen europäischer wie außereuropäischer Länder dient, so die gängige Forschungsposition, der Konstituierung einer zumindest geistig-kulturellen deutschen Nationalidentität. Für Lenz’ Drama scheint eine solche Deutung nicht aufzugehen, denn sein Neuer Menoza erweist sich als Stück, das dem präsentierten Identitätsentwurf, basierend auf der Gründung einer geistig-kulturellen deutschen Nation im Kontext eines progressiven Europas, höchst skeptisch gegenübersteht.

IV. Anstelle nationaler Gründungsmythen: Familie und Weltbürgertum

Neben einem solchen (Anti-)Identitätsentwurf offenbart das Stück jedoch noch einen weiteren. Lenz’ Drama belässt es nicht beim bloßen Ausstellen von Kritik, sondern entwickelt eine Alternative, und insbesondere eine Alternative, die Separierungstendenzen und der Formulierung von je nationen- oder kontinentspezifischen Eigenheiten und Höherwertigkeiten entgegensteht. Es mag sich auf den ersten Blick in die zeitgenössisch verstärkte Hinwendung zu Sujets aus dem familiären Umfeld einfügen, dass Lenz die Kritik an dem vorgebrachten Identitätsentwurf von Deutschem:r beziehungsweise Europäer:in in eine Handlung einbettet, die sich im Kern um das Wieder- und Neufinden wissentlich oder unwissentlich verlorener Familienmitglieder dreht. Bedeutsam ist jedoch vor allem die Art der Familienzusammensetzung. Im Laufe der Handlung stellt sich heraus, dass diese internationaler ist, als es die Verortung des Stücks in Sachsen und der sprechende Familienname von Biederling zunächst erwarten lassen. Ausgerechnet die beiden Figuren, die zunächst als maximal fremd erscheinen, erweisen sich im Verlauf der Dramenhandlung als Kinder der von Biederlings.

Der Protagonist Tandi, der zu Beginn seines Aufenthalts seinen Gastgeber gebeten hatte, mit ihm umzugehen „wie mit Ihrem Sohne“,1 stellt sich als lange vermisster, wenn nicht gar verloren geglaubter Sohn heraus – und das, obwohl ihm zunächst allerlei Herkünfte aus fremden Ländern unterstellt werden. Es ist von ihm im Verlauf des Dramas als „indianische[m] Prinzen“,2 als „Kalmucke[n]“3 oder „Prinz[en] aus Arabien“ die Rede,4 sein Verhalten wird als „Orientalisch! orientalisch!“ rubriziert,5 der eigene Vater entfernt ihn als „Prinz aus einer andern Welt“6 wortwörtlich vom eigenen Planeten. Dass es mit diesen Bezeichnungen keinesfalls darum geht, den vermeintlich Fremden geographisch zu verorten, sondern sie in erster Linie dazu dienen, Tandi „mit einem Höchstmaß an kultureller Alterität [zu] versehen“7 und diesen entsprechend als charakterlich ‚minderwertig‘, da barbarisch und wild, zu markieren, hat die Forschung verschiedentlich herausgearbeitet.8

Nicht weniger fremd erscheint zunächst die Tochter der von Biederlings, die scheinbar spanische Gräfin Donna Diana.9 Das (Lese-)Publikum lernt die Figur durch Aussprüche wie „[W]as sind wir denn anders, Amme? ich halt mich nichts besser als meinen Hund, so lang ich ein Weib bin. Laß uns Hosen anziehn und die Männer bei ihren Haaren im Blute herumschleppen“10 oder durch ihre Reaktion auf einen auf sie verübten Mordanschlag kennen:

Wenn ich dem Kerl nur in meinem Leben was zu Leide getan hätte! Es ärgert mich nichts mehr, als daß er mich unschuldiger Weise umbringen will. Hätt ich das gewußt, ich hätt ihm die Augen im Schlafe ausgestochen, oder Sukzessionspulver eingegeben, so hätt er doch Ursache an mir gehabt. Aber unschuldiger Weise – – ich möchte rasend werden.11

„[E]in Frauenzimmer [] wie andere“12 ist sie folglich keineswegs. Gleichzeitig entspricht die Figur damit jedoch dem geläufigen Spanienbild des späten 18. Jahrhunderts. Die Spanier:innen gelten als wild und unzivilisiert, temperamentvoll und zu Grausamkeit und Brutalität neigend,13 derart tritt Donna Diana über den gesamten Handlungsverlauf auf.14 Insofern handelt es sich mit Greiner tatsächlich um eine „extrem[e]“ und, wenn man so möchte, „übersteigert[e]“ und „unwahrscheinlich[e]“ Figur.15 Darin ist jedoch kein ästhetischer Mangel zu sehen, den etwa Greiner dieser Überzeichnung zum Vorwurf macht,16 sondern ein Anhaltspunkt für die Funktion dieser Figur, welche offenkundig wird, betrachtet man Dianas Rolle im Familiengefüge. Nachdem sich herausstellt, dass nicht Diana Spanierin ist, sondern die in allen Szenen als außerordentlich sanftmütig und tugendhaft erscheinende Wilhelmine – ihr Vater spricht von ihr gar als einem über die Maße empfindsamen, zerbrechlichen „Papiergeschöpf[]“–,17 werden tradierte Vorstellungen von Eigen und Fremd überworfen. Gerade die karikatureske Darstellung der beiden Figuren und der überdeutliche Kontrast zwischen ihnen machen dies umso deutlicher.

Die beiden angeblichen Wilden – die vermeintliche spanische Gräfin im europäischen Vergleich sowie der cumbanische Prinz im außereuropäischen Vergleich – sind Kinder der von Biederlings. Zunächst wird damit der Glaube an durch Geburt prädeterminierte Charaktereigenschaften, die den Angehörigen einer Nation zuzuordnen sind, ad absurdum geführt. Gleichzeitig wird durch diese Art der Familienzusammenstellung eine Perspektive aufgeworfen, die über Nationalkulturelles hinausreicht. Hermes führt zunächst mit Verweis auf den Rousseau’schen Contrat social an: „Die patriarchalisch organisierte Familie und ihr näheres Umfeld bilden einen bühnenwirksam darstellbaren Mikrokosmos, anhand dessen sich in allegorischer Weise Aufschlüsse über den sozialen Makrokosmos gewinnen lassen“.18 Folglich handle es sich bei Lenz’ Neuem Menoza um „eine Art Versuchsanordnung; das private Milieu fungiert über weite Strecken als ein Gemeinwesen in nuce“.19 Während Rousseau bekanntlich den Zusammenhang von Familie und Staat formuliert, wird bei Lenz die Zusammensetzung der Familie und der Gemeinschaft, für die sie Pate steht, als nicht-nationale Einheit entworfen. Geht man dennoch weiterhin von der dargestellten Familienzusammensetzung als Modell aus, so zeigt sich, dass Lenz an einer Entwicklung partizipiert, die im Laufe des 18. Jahrhunderts neuerliche Relevanz gewinnt. Die Dramenhandlung beginnt damit, dass einem Fremden, welcher der Prinz zu diesem Zeitpunkt noch ist, Einlass in das eigene Haus gewährt wird. Mit der erwiesenen Gastfreundschaft wird ein Kernszenario dessen vorgestellt, was als Weltbürgerlichkeit entworfen wird. Und wie Wieland bereits bei dem überaus positiven Selbstbild sowie der Kritik daran eine zentrale Rolle spielte, kann auch bei der Perspektive, die das Drama jenseits von bloßer Kritik eröffnet, erneut auf ihn verwiesen werden. In seinem Aufsatz Das Geheimniss des Kosmopoliten-Ordens (1788) formuliert dieser die Weltgemeinschaft als Familie:

Die Kosmopoliten führen den Nahmen der Weltbürger in der eigentlichsten und eminentesten Bedeutung. Denn sie betrachten alle Völker des Erdbodens als eben so viele Zweige einer einzigen Familie und das Universum als einen Staat, worin sie mit unzähligen andern vernünftigen Wesen Bürger sind, um unter allgemeinen Naturgesetzen die Vollkommenheit des Ganzen zu befördern, indem jedes nach seiner besondern Art und Weise für seinen eigenen Wohlstand geschäftig ist [Hervorhebung im Original, N.K.]20

Zwar wurde dieser Aufsatz gut zehn Jahre nach Lenz’ Neuen Menoza verfasst, gleichzeitig ist er jedoch auch eine Erneuerung von Wielands Abderiten, die wiederum ebenfalls ab 1774 und damit dem Erscheinungsjahr des Lenz’schen Stücks publiziert wurden.21 Vor diesem Hintergrund wird mit Lenz’ Familienkonstellation im Neuen Menoza eine Perspektive aufgeworfen, die über Nationales und Nationalstaatlichkeit und über die Hierarchie zwischen Europa und der übrigen Welt hinausreicht. An die Stelle von naivem Patriotismus rückt Weltbürgerlichkeit.22 Diese wird, im Gegensatz zu den Ausführungen Zieraus, nicht mit dessen unreflektiertem Optimismus vorgetragen, wie zum Abschluss an zwei Beispielen illustriert werden soll.

Zunächst kann von Biederling keineswegs als leuchtendes Vorbild für ein Familienoberhaupt bezeichnet werden. Wie sich im Verlauf der Dramenhandlung herausstellt, ist von Biederling selbst verantwortlich für den zeitweiligen Verlust des Sohnes, den er aus Geldnot einem Bekannten der Familie, Herrn von Zopf, anvertraut hatte.23 Entsprechend wird er von seiner Frau als „Rabenvater“ und „Kindermörder“ bezeichnet.24 Weiterhin wird kein idyllisch verklärtes Familienbeisammensein inszeniert. Zwar finden in mehreren Szenen Zusammenführungen von einzelnen Familienmitgliedern statt, ein Grund zur Freude sind diese zunächst jedoch keineswegs, auch wenn Außenstehende dies stets vermuten. Im dritten Akt eröffnet Herr von Zopf Tandi: „Es hätte sich nicht wunderlicher fügen können, freuen Sie sich mit uns allen, Sie sind in Ihres Vaters Hause [Hervorhebung durch mich, N.K.]“.25 In der Folge fordert er Wilhelmine und Tandi auf: „Umarmen Sie sich. Sie sind Bruder und Schwester“.26 Dass es sich bei dieser Nachricht keineswegs um eine „fröhliche Zeitung“ handelt, zu der Zopfs verwunderte Nachfrage „macht’s Ihnen keine Freude? [Hervorhebung durch mich, N.K.]“ sowie dessen Affirmation „Sie sind Geschwister, das ist sicher“ wenig beitragen,27 kann zunächst noch auf die Problematik des sich aus dieser Eröffnung ergebenden Geschwisterinzests zurückgeführt werden.

Auch bei der nächsten möglichen Zusammenführung von Familienmitgliedern im dritten Akt wird die naheliegende Wiedersehensfreude thematisiert. Nachdem Herr von Biederling nach Leipzig gereist ist, um Tandi nach dessen Flucht zur Rückkehr nach Naumburg und zu Wilhelmine zu bewegen, bittet er den Bediensteten eines Kaffeehauses: „Geht sagt meinem Sohne, ich möcht ihn sprechen“.28 Ein ebenfalls anwesender Gast bemerkt daraufhin:

Ist’s wahr, daß Ihr sein Papa seid? Das wird ihm Freude machen, das wird ihm Freude machen, ich hab Eure Gesundheit trunken, Gott hat mein Gebet erhört. – Sauft Brüder, sauft! wenn mir einer hundert Taler geschenkt hätte, so vergnügt hätte es mich nicht gemacht. [Hervorhebung durch mich, N.K.]29

Tandi verweigert in der darauffolgenden Szene jedoch zunächst, den Vater zu sehen; es findet also kein Zusammentreffen statt und erst recht kein freudiges. Doch auch nachdem Biederling seinen Sohn zur Rückkehr nach Naumburg überredet hat und Wilhelmine Tandi eröffnet, „Ich bin deine Schwester nicht“,30 und damit die Inzestproblematik endgültig ausgeräumt ist, wird keine ‚Happy Family‘ ausgestellt. Aufseiten der nunmehr rechtmäßig Liebenden und Eheleute ist die Freude zwar durchaus groß, der Vater stimmt hingegen keineswegs ein, sondern rügt diese und fordert sie auf, ins Haus und damit von der Bühne zu gehen: „So kommt herein, kommt herein, schämt euch doch, vor den Augen der ganzen Welt mit seinem Weibe Rebekka zu scherzen, das geht in Cumba wohl an, lieber Mann! aber in Sachsen nicht, in Sachsen nicht“.31 Das Ergebnis dessen, wodurch die Dramenhandlung geprägt ist, die in der Logik von Wiedererkennen oder Wiederfinden zu erwartende Versammlung aller Familienmitglieder auf der Bühne zeigt das Drama folglich gerade nicht.32 Weitere Aufeinandertreffen von Familienmitgliedern finden nicht mehr statt. So kommt es am Dramenende zu keiner neuerlichen Begegnung zwischen Mutter und Sohn und auch, dass die vermeintliche Tochter Wilhelmine nicht die eigene Tochter ist, erfährt im Verlauf der Handlung keines der Elternteile. Greiner merkt hierzu an:

Dass die Biederlings dann statt der empfindsamen Wilhelmine die männermordende Diana zur Tochter haben […], ist mit der Charakteristik der Eltern so unverträglich, dass Lenz die Handlung abbricht, wo er diese Gruppe zusammenführen müsste.33 [D]as sentimental-versönliche tableau vivant am Schluss34

im Stil Diderots bleibt in der Tat aus.35 Liest man Lenz’ Drama insgesamt jedoch als Auseinandersetzung mit der beginnenden deutschen ‚Nationenbildung‘ und insbesondere den über die Familienzusammensetzung geschaffenen Identitätsentwurf der Weltbürgerlichkeit im Kontrast zum zuvor propagierten national geprägten Identitätsentwurf, so wird offenkundig, dass das Ausbleiben eines solchen Dramenendes keineswegs als Inkonsistenz zu werten ist. Schließlich wird der Unterschied des lediglich über den Handlungsverlauf hergestellten weltbürgerlichen Identitätsentwurfs zu dem offensiv und didaktisierend vorgetragenen deutsch-europäischen Identitätsentwurf auf diese Weise umso deutlicher.

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