Kitabı oku: «Identitätskonzepte in der Literatur», sayfa 6

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1 Eine hermeneutische Lesart, die das Narrativ der Karte befragt.

2 Eine medientheoretische Lesart, die den „subjektkonstituierenden Charakter“42 der Karte befragt, was sich vielleicht auch mit dem Begriff der Agency verstehen lässt.

3 Ein phänomenologisch-grammatologischer Ansatz, der die Topographie nicht in „die Intentionen eines kulturell prädisponierten Bewusstseins, sondern auf eine Rhetorik [hin übersetzt]. […] Mögliches Handeln schreibt sich immer schon in die Bewegung eines Textes ein, der unablässig neu gewebt und wieder aufgeknüpft wird.“43

Was lässt sich hieraus für die regionale Literaturgeschichtsschreibung gewinnen? Dem hier vorgestellten Forschungsdiskurs zwischen dem Begriff der Kulturtopographie als methodischem Zugriff sowie der Frage nach der Relevanz der Literatur darin und vice versa dem Input in die Öffentlichkeit sind in diesen Perspektiven neue Möglichkeiten gegeben. In einem Selbstverständnis, das dem universitären Forschungsdiskurs neben der Wissensproduktion und -vermittlung auch die Aufgabe des Wissensmanagements gibt, ermöglichen z.B. die citizen science neue Ansätze der Kartographie. Damit ist nicht nur die Erhebung von Daten gemeint, sondern ein partizipativer Wissenschaftsbegriff, der die regionale Literaturgeschichtsschreibung aus ihren institutionen- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontexten lösen kann und den Literaturbegriff mit dem „Kit“ eines transkulturellen Regionenverständnisses aktualisiert. Dazu bedarf es eines Netzwerks der regionalen Literaturgeschichtsschreibung, das sowohl die verschiedenen, z.B. institutionell verankerten Literaturbegriffe – zwischen Literaturarchiven, Schreib- und Lesezirkeln, Universitäten, Forschungsprojekten und Museen – verbindet als auch regionenvergleichend arbeitet.

II.
Herders neue Anthropologie: Identitätsbildung im Zuge der Verwirklichung von Humanität

Gerhard Sauder, Saarbrücken

Sprache hielt Herder für das Medium, das Identität verwandelt und sie zu reflektieren erlaubt. Er fühlte sich den Menschen zugehörig, die mit ihm eine Sprache gebrauchten, aber mitten unter ihnen als einmaliges Individuum. Doch eine konstante Sich-Selbst-Gleichheit und Kontinuität einer Person in der Zeit betrachtete er aus der Perspektive seiner Geschichtsphilosophie durchaus kritisch.

In zwei „Reflexionsgedichten“ von 1797 hat er sich dem „Ich“ und dem „Selbst“ zugewandt. Das Gedicht Das Ich. Ein Fragment greift in zentralen Argumenten auf Formulierungen zurück, die sich bereits in den Ideen finden. Wie dort gründet er seine geschichtliche Reflexion auf die Naturgeschichte. Ich beschränke mich auf diesen Text. In Selbst. Ein Fragment werden Gedanken variiert, die in Das Ich auftreten – aber das „Selbst“ lässt sich „als die geleistete, aus den Kräften des Ganzen und im Blick auf das Ganze selbstgeschaffene Individualität betrachten, mit der der Mensch sich zum Abbild des göttlichen Selbst und zum Schöpfer seiner selbst macht.“1

Das Ich umfasst 147 Zeilen in 14 Strophen von unterschiedlicher Länge – zwischen vier und 25 Zeilen sind in je fünfhebigen Jamben angeordnet. Auffällig ist ein typographisches Mittel, mit dem Herder die Pronomina – v.a. Du, Dich, Dir, Dein – gelegentlich durch Großschreibung akzentuiert.

Der verdienstvolle Herder-Forscher Wilhelm Dobbek hielt im Ersten der fünfbändigen Herder-Ausgabe des Aufbau-Verlags diese Hervorhebungen wohl für unbedeutend und verzichtete auf sie. Beide Gedicht-Fragmente sind zuerst in Herders zweiter Gedichtsammlung Gedichte und Reime in der sechsten Sammlung der Zerstreuten Blätter (Gotha 1797) erschienen.

Der Herausgeber des Dritten Bandes der Frankfurter Ausgabe, Ulrich Gaier, versammelt Gedichte dieser Art unter „Reflexionsdichtung“. Mit ihren philosophischen Sujets sind diese langen Gedichte auch typische Lehrgedichte. Ich zitiere zunächst die beiden ersten Strophen und gebe dann Zusammenfassungen der Strophen 3 bis 12; die beiden Schlussstrophen 13 und 14 zitiere ich wieder wörtlich.

Willst du zur Ruhe kommen, flieh, o Freund,

Die ärgste Feindin, die Persönlichkeit.

Sie täuschet dich mit Nebelträumen, engt

Dir Geist und Herz, und quält mit Sorgen dich,

Vergiftet dir das Blut, und raubet dir

Den freien Atem, daß du, in dir selbst

Verdorrend, dumpf erstickst von eigner Luft.

Sag’ an: was ist in dir Persönlichkeit?

Als in der Mutter Schoß von Zweien du

Das Leben nahmst, und, unbewußt dir selbst,

An fremdem Herzen, eine Pflanze, hingst,

Zum Tier gediehest, und ein Menschenkind

(So saget man) die Welt erblicktest; Du

Erblicktest sie noch nicht; sie sahe Dich,

Von deiner Mutter lange noch ein Teil,

Der ihren Atem, ihre Küsse trank,

Und an dem Lebensquell, an ihrer Brust

Empfindung lernete. Sie trennte dich

Allmählich von der Mutter, eignete

In tausend der Gestalten Dir Sich zu,

In tausend der Gefühle Dich Ihr zu,

Den immer Neuen, immer Wechselnden. […]

Nach der Kritik an der „Persönlichkeit“, die das „Ich“ mit „Nebelträumen“ täuscht und es „von eigner Luft“ ersticken lässt, wird die Genese der „Persönlichkeit“ aus dem Embryo, der Mutter, der Trennung von ihr, bis zur Erfahrung von „immer Neuen, immer Wechselnden“ Gefühlen erzählt.

1 Weiter geht es mit dem Wachstum des Kindes zum Knaben, Jüngling, Mann und Greis. In jedem Alter ist kein Teil des Körpers noch derselbe.

2 Die „innre Welt / Der Regungen, der lichten Phantasei, / Des Anblicks aller Dinge“ verändert sich in jedem Alter.

3 Die Strophe beginnt mit der Aufforderung „Ermanne Dich. Das Leben ist ein Strom / Von wechselnden Gestalten.“

4 Will das Ich „einer Wahngestalt / Gedanken, Wirkung, Zweck des Lebens weihn?“

5 Mit Wiederholung der Aufforderung „Ermanne Dich.“ wird auf das gedankliche Zentrum des Gedichts zugesteuert: „Nein, du gehörst nicht Dir; / Dem großen, guten All gehörest Du.“ „Jedwedes Wort der Lippe, jeder Zug / Des Angesichtes ist ein fremdes Gut, / Dir angeeignet, doch nur zum Gebrauch, / So , immer wechselnd, stets verändert schleicht / Der Eigner fremden Gutes durch die Welt.“

6 Was ist von Deinen zahllosen Empfindungen Dein Eigentum? „Das Ich erstirbt, damit das Ganze sei.“

7 Was willst Du mit Deinem „armen Ich“ der Nachwelt hinterlassen? Deinen Namen?

8 Dein Ich? Wie lange wird die Nachwelt Deinen Namen nennen?

9 Nur wenn über Dein enges Ich hinaus „Dein Geist in allen Seelen lebt“, bist du „Ein Ewiger“.

10 Die kleinliche Persönlichkeit, die man „den Werken eindrückt“, vertilgt den „ewgen Genius, Das große Leben der Unsterblichkeit.“

11 So lasset dann im Wirken und GemütDas Ich uns mildern, daß das beßre Du,Und Er und Wir und Ihr und Sie es sanftAuslöschen, und uns von der bösen UnartDes harten Ich unmerklich-sanft befrein.In allen Pflichten sei uns erste PflichtVergessenheit sein selber! So gerätUns unser Werk, und süß ist jede Tat,Die uns dem trägen Stolz entnimmt, uns freiUnd groß und ewig und allwirkend macht.Verschlungen in ein weites LabyrinthDer Strebenden, sei unser Geist ein TonIm Chorgesang der Schöpfung, unser HerzEin lebend Rad im Werke der Natur.

12 Wenn einst mein Genius die Fackel senkt,So bitt’ ich ihn vielleicht um Manches, nurNicht um mein Ich. Was schenkt er mir damit?Das Kind? Den Jüngling? Oder gar den Greis?Verblühet sind sie, und ich trinke frohDie Schale Lethens. Mein ElysiumSoll kein vergangner Traum von MißgeschickUnd kleinem, krüpplichten Verdienst entweihn.Den Göttern weih’ ich mich, wie Decius,Mit tiefem Dank und unermeßlichemVertrauen auf die reich belohnende,Vielkeimige, verjüngende Natur.Ich hab’ ihr wahrlich etwas KleineresZu geben nicht, als was sie selbst mir gab,Und ich von ihr erwarb, mein armes Ich.2

Wenn die Zeitgenossen der neuen Ich-Philosophie ein einheitliches und einzigartiges Ich verherrlichen, so destruiert dieses Gedicht ein Ich, das mit „Persönlichkeit“ gleichgesetzt und als „Individualität“ im Sinne von „Einzigkeit“ verstanden wird. Da es aber der Partikularität, der Fremdbestimmung von Kindheit an und der immerwährenden Veränderung unterworfen ist, kann dieses „Ich“ nicht durch Einzigkeit überzeugen. Das „Ich“ des Gedichts ist ein „Ton / Im Chorgesang der Schöpfung“, in „unermeßlichem / Vertrauen auf die reich belohnende, / Vielkeimige, verjüngende Natur. […] mein armes Ich.“

Herder fühlte sich in seinem Denken über das „Ich“ durch Fichtes Grundthese in seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794) provoziert: Das seiner selbst bewusste Wesen sei das „Ich“, das ursprünglich sein eigenes Sein als „Tathandlung der Selbstbewusstwerdung“ setze – das Ich setzt sich selbst.3 Da bereits in der zweiten Zeile die „Persönlichkeit“ erwähnt wird, ist auch eine Anspielung auf den 11. Ästhetischen Brief Schillers möglich, in dem „Person“ und „Persönlichkeit“ eine wichtige Rolle spielen.

Es ist die Konsequenz aus einem Denkweg, den die neuzeitliche Philosophie eingeschlagen hatte. Von Locke wurde das „Ich“ das „Selbst“ genannt, das mit Bewusstsein denkende Wesen („Self is that conscious thinking thing“4), das „Person“ heiße.5 Es ist auch ein wesentlicher Bestandteil von Leibniz’ Denken, dass sich jedes Subjekt im Akt des „Ich-denke“ als seiende Substanz begreift. Durch das Vermögen der Selbstreflexion erfassen wir das „Ich“, die Substanz, Seele und Geist.6

Hume widerspricht Descartes, Locke und Leibniz mit der These, das „Ich“ / die „Seele“ seien keine fassbaren Gegenstände und deshalb ohne Substanz/Existenz. Empfindungen, Gefühle und Begriffe sind für Hume „nur Inhalte von Vorstellungen, die assoziativ verbunden“ sind, ohne dass sie eine „verbindliche Aussage über ein ihnen zugrunde liegendes Subjekt“ zulassen“.7 Die Identität, die dem Geist des Menschen zugeschrieben wird, sei nur „a fictitious one“.

Tis evident, that the identity, which we attribute to the human mind, however perfect we may imagine it to be, is not able to run the several different perceptions into one, and make them lose their characters of distinction and difference, which are essential to them.8

In der einzigen mir bekannten Interpretation der beiden fragmentarischen Reflexionsgedichte sieht Renate Böschenstein die Destruktion eines einheitlichen und einzigartigen „Ich“ mit „erstaunlich radikalen, Gesichtspunkte des 20. Jahrhunderts vorwegnehmenden Fragen“; die Analyse erfolge mit „prälacanistischer Hellsicht“.9 Die Individualität, der „Fetisch der Epoche“, werde unter drei Aspekten als „illusionär“ dargestellt: Stückhaftigkeit, Fremdbestimmung, stete Veränderung.10 Schließlich werde die vermeintliche Monade „zu intersubjektivem Wirken erlöst“. Die Inkonsequenzen des Gedichts seien Folge der Widersprüche des Individualitätskonzepts: „Der noch nicht klar formulierte Stachel des Gedichts ist die Angst vor dem Narzißmus, welcher der Betonung des ‚Eigenen‘ in der neuen Individualitätsverherrlichung als Gefahr inhärent ist.“11 Die scharfsinnige Interpretation arbeitet mehrfach mit Wertungen – Klischees, Redundanz, aufdringlicher didaktischer Ton –, die ohne Nachweise dem Text die „Anerkennung als Kunstwerk“ absprechen.12 Dem ist entgegenzuhalten, dass es sich ja um ein Fragment handelt, das Herder wohl gelegentlich überarbeiten und vollenden wollte. Die zahlreichen Metaphern (Strom, Triebwerk, lebend Rad) deuten die Absicht an, dem Reflexionsgedicht eine höhere Poetizität zu verleihen.

Bis in die Rigaer Zeit reichen Pläne Herders zurück, das prekäre „Ich“ der Moderne im Kontext der Wissenschaften und einer Universalgeschichte der Bildung der Welt darzustellen. Er habe nach einer Philosophie der Geschichte der Menschheit gesucht,13 wo immer er suchen konnte.

Wer bloß metaphysische Spekulationen will, hat sie auf kürzerm Wege; ich glaube aber, daß sie, abgetrennt von Erfahrungen und Analogien der Natur, eine Luftfahrt sind, die selten zum Ziel führet. Gang Gottes in der Natur, die Gedanken, die der Ewige uns in der Reihe seiner Werke tätlich dargelegt hat: sie sind das heilige Buch, aus dessen Charakteren ich zwar minder als ein Lehrling, aber wenigstens mit Treue und Eifer buchstabieret habe und buchstabieren werde. (6, 16)

In dieser Vorrede zum ersten Band der Ideen zur Philosophie der Geschichte vom 23. April 1784 kündigt Herder seinen Plan an, eine historisch-individualisierende Betrachtungsweise mit Hilfe der Analogie der Natur zu entwickeln. Sein Verständnis von Natur geht auf Spinoza zurück, den er in dieser Zeit gemeinsam mit Goethe studiert hat:

Die Natur ist kein selbstständiges Wesen, sondern Gott ist Alles in seinen Werken: indessen wollte ich diesen hochheiligen Namen, den kein erkenntliches Geschöpf ohne die tiefste Ehrfurcht nennen sollte, durch einen öftern Gebrauch, bei dem ich ihm nicht immer Heiligkeit genug verschaffen konnte, wenigstens nicht mißbrauchen. Wem der Name ‚Natur‘ durch manche Schriften unsres Zeitalters sinnlos und niedrig geworden ist, der denke sich statt dessen jene allmächtige Kraft, Güte und Weisheit, und nenne in seiner Seele das unsichtbare Wesen, das keine Erdensprache zu nennen vermag. (6, 17)

In Analogie zu den Veränderungen der Natur erweist sich der Mensch in Herders Entwurf einer Universalhistorie als das sich im Prozess der Geschichte ständig wandelnde Geschöpf, wie er es in seinem Ich-Gedicht dargestellt hat. Herder hat für seine zentralen Einsichten immer wieder Metaphern verwendet. So spricht er in Analogie zur Abfolge von Entwicklungsstufen von den menschlichen Lebensaltern. Die Ideen sind bis heute der umfassendste Versuch, durch weit ausgreifende Lektüre (u.a. von Reisebeschreibungen) alles Wissen vom Menschen, seiner Natur und Geschichte zu einem Gesamtpanorama zu formen. Intendiert war eine systematisch entwickelte Theorie von der Entwicklung des menschlichen Geschlechts im Gang der Geschichte.14

Der konsequente Rekurs auf Natur und Geschichte bedient sich bei der Wahl von Fakten und Anschauungsmaterial einer geschickt praktizierten Kombinatorik. Alles Theologische ist allerdings im Sinne der Suche nach einer minimalen Konsensbasis ausgespart – theologische Reste sind nur bei seinen Überlegungen zur Teleologie noch vorhanden.15 In einem Entwurf zu der frühen Arbeit Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit heißt es: „Glaube an Geschichte – durch Geschichte an Gott.“16

Wie Herder die Menschen auf der Erde und in ihrem Sonnensystem positioniert, zeigt der Beginn des Ersten Buches der Ideen mit der Überschrift: „Unsre Erde ist ein Stern unter Sternen“:

Vom Himmel muß unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll. Denn da unser Wohnplatz, die Erde, nichts durch sich selbst ist, sondern von himmlischen, durch unser ganzes Weltall sich erstreckenden Kräften ihre Beschaffenheit und Gestalt, ihr Vermögen zur Organisation und Erhaltung der Geschöpfe empfängt: so muß man sie zuförderst nicht allein und einsam, sondern im Chor der Welten betrachten, unter die sie gesetzt ist. Mit unsichtbaren, ewigen Banden ist sie an ihren Mittelpunkt, die Sonne, gebunden, von der sie Licht, Wärme, Leben und Gedeihen erhält. (6, 21)

Diese „Mittelpunktstellung“ des Menschen charakterisiert Herders Versuch, eine Philosophie der Geschichte zu schreiben, die eine Gesetzlichkeit der Ereignisse nachweist:

Bemerkenswert an diesen in die Ideen einführenden Gedanken ist die Tatsache, daß Herder die Position der Erde und dann auch des Menschen – im Widerspruch zum modernen Weltbild – als Mitte und schließlich sogar als Mittelpunkt der Schöpfung bestimmt. Antike Gedanken vom Menschen als Maß aller Dinge (Protagoras) und die biblische Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen verbinden sich, um das zu begründen, was Herder von nun an ‚Humanität‘ nennen wird.17

Eine der erstaunlichsten Folgerungen zieht Herder aus dem aufrechten Gang des Menschen und der damit gegebenen Vernunftfähigkeit:

Blick’ also auf gen Himmel, o Mensch! und erfreue dich schaudernd deines unermeßlichen Vorzugs, den der Schöpfer der Welt an ein so einfaches Principium, deine aufrechte Gestalt knüpfte. Gingest du wie ein Tier gebückt, wäre dein Haupt in eben der gefräßigen Richtung für Mund und Nase geformt und darnach der Gliederbau geordnet: wo bliebe deine höhere Geisteskraft, das Bild der Gottheit unsichtbar in dich gesenket? (6, 129f.)

Ein Kapitel des II. Buches ist überschrieben: „Zurücksicht von der Organisation des menschlichen Haupts auf die niedern Geschöpfe, die sich seiner Bildung nähern.“ (6, 132) Daraus sei zu schließen: „Der Mensch ist zu feinern Sinnen, zur Kunst und zur Sprache organisieret.“ „Der Mensch ist zu feinern Trieben, mithin zur Freiheit organisieret.“ „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen.“ (6, 136, 142, 145f.)

Angesichts des Stufengangs vom Menschen, „der zunächst ans Tier grenzt, bis zum reinsten Genius im Menschenbilde“, müsse man sich wundern, „welch einen langen Weg die Natur nehmen mußte, um die kleine, aufsprossende Blüte von Vernunft und Freiheit in uns organisierend vorzubereiten.“ (6, 147)

Unter zwei Aspekten zeichnet Herder seine Anthropologie aus: Zum einen geht es ihm um die Einbindung des Menschen in den Gesamtzusammenhang der Natur, was in den vorausgehenden Abschnitten illustriert wurde, zum andern hebt er die Auszeichnung des Menschen, seine besondere Stellung als „Krone der Schöpfung“18 hervor. Aber die angenommene Wesensverwandtschaft zwischen Tieren und Menschen bedeutet nicht, dass Herder eine Evolutionstheorie angenommen hätte. Er ist von der Abgeschlossenheit der Schöpfung überzeugt. Herder bemüht das Bild der Pyramide: Im stufenartigen Aufbau der Natur gehe eine stetige Veredelung von der simplen Pflanze über Insekten, Vögel, Fische, Amphibien und große Säugetiere bis hin zum Menschen vor sich. Je mehr sie sich der Stellung des Menschen nähern, verringerten sich die Gattungen, würden aber auch vollkommener. Um den Menschen gruppierten sich alle anderen Lebewesen in konzentrischen Kreisen: „Je näher ihm, desto mehr zog sie [die Natur] Classen und Radien zusammen, um in seinem, dem heiligen Mittelpunkt der Erdenschöpfung was sie kann, zu vereinen.“ (XIII, 71) Für den Menschen ist der ‚Stand der Gesellschaft‘ der Naturzustand. Wenn er auch das Meiste allein hervorbringen will, braucht er zur Entwicklung der Fähigkeiten doch die Anderen. ‚Kunst‘ ist ihm natürlich. Es kommt bei ihm alles auf die erlernte Fertigkeit, auf Vernunft und Kunst, an. Sein Selbstwerdungsprozess sei unabschließbar. Er bedarf dabei des Austausches mit seiner Umwelt: „Ohne Cultur war und ist der Mensch nicht etwa nur ein rohes Holz, ein ungeformter Marmor, sondern er ist und wird ein brutum.“ (XXII, 310) Abhängig vom Klima, der Beschaffenheit des Landes, dem Vorhandensein von Nahrung, aber auch von Geschichte, Religion, Mythologie und der Sprache eines Volkes und zahlreicher weiterer Faktoren bildet sich „das perspektivische Weltverständnis jedes Individuums“ aus.19 Wie im Ich-Gedicht kritisiert Herder die These von einer konstanten Menschennatur und vertritt eine

Anthropologie des kultur-variablen Menschen. Er kennt nicht nur eine sich wandelnde Geschichte, die den betrachtenden Menschen ein kaleidoskopartiges Schauspiel bietet, deren Akteure aber immer die gleichen bleiben, sondern der Mensch selbst wird in diesen Wandel hineingezogen: er ist das sich in der Geschichte wandelnde Wesen.20

Aber gleichzeitig wirkt die Natur und prägt dem Menschen ihre Gesetze auf:

Wir dünken uns selbstständig und hangen von allem in der Natur ab; in eine Kette wandelbarer Dinge verflochten müssen wir den Gesetzen ihres Kreislaufs folgen, die keine andre sind als Entstehen, Sein und Verschwinden. Ein loser Faden knüpft das Geschlecht der Menschen, der jeden Augenblick reißt, um von neuem geknüpft zu werden. (6, 627)

Erst in den achtziger Jahren benutzt Herder gelegentlich den Begriff „Humanität“, der in den Ideen sein Zentralbegriff für Wesen und Bestimmung des Menschen werden sollte. In den Büchern 4 und 15 wird er differenzierter dargestellt – in Weimar ist er Zielbegriff seines Denkens. Das I. Kapitel des 15. Buches ist überschrieben: „Humanität ist der Zweck der Menschen-Natur und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben.“ (6, 630) So oft und in so vielen Kontexten Herder diesen Begriff auch verwendet – seine Semantik ist offenbar nicht präzisierbar. Hans Dietrich Irmscher, der Herausgeber der Briefe zu Beförderung der Humanität in der Frankfurter Ausgabe,21 schlägt vor, den Begriff „als nicht definitionsfähige (und -bedürftige) Idee zu verstehen, geeignet, vielfältige Phänomene […] unter einer Hinsicht zu ordnen.“ (7, 817)22 Herder sah wohl das Schillernde des Begriffs. Im 27. Brief verbindet er mit „Humanität“: „Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe“ (7, 147). Zu Beginn des 15. Buches der Ideen heißt es:

[B]etrachten wir die Menschheit, wie wir sie kennen, nach den Gesetzen, die in ihr liegen: so kennen wir nichts höheres, als Humanität im Menschen: denn selbst wenn wir uns Engel oder Götter denken, denken wir sie uns nur als idealische, höhere Menschen.

Zu diesem offenbaren Zweck […] ist unsre Natur organisieret: zu ihm sind unsere feinern Sinne und Triebe, unsre Vernunft und Freiheit, unsere zarte und daurende Gesundheit, unsere Sprache, Kunst und Religion uns gegeben. In allen Zuständen und Gesellschaften hat der Mensch durchaus nichts anders im Sinn haben, nichts anders anbauen können als Humanität, wie er sich dieselbe auch dachte. (6, 631f.)

In zahlreichen Formulierungen umschreibt Herder, was unter Humanität verstanden werden kann. Gelegentlich läuft ein knapper Bestimmugsversuch auf eine Tautologie hinaus. So etwa, wenn das „Hauptgesetz der Natur“ lautet: „Der Mensch sei Mensch! Er bilde sich seinen Zustand nach dem, was er für das Beste erkennet!“ (6, 632) Dem Typus der ausführlicheren Bestimmungsversuche ist folgende Formulierung zuzurechnen:

[D]en Menschen machte Gott zu einem Gott auf Erden, er legte das Principium eigner Wirksamkeit in ihn und setzte solches durch innere und äußere Bedürfnisse seiner Natur von Anfange an in Bewegung. Der Mensch konnte nicht leben und sich erhalten, wenn er nicht Vernunft brauchen lernte […].(6, 633)

Die Natur habe sich den Menschen in mannigfachen Formen auf der Erde einrichten lassen. „Nahe an den Affen stellete sie den Neger hin und von der Negervernunft an bis zum Gehirn der feinsten Menschenbildung ließ sie ihr großes Problem der Humanität von allen Völkern aller Zeiten auflösen.“ Für die feinere Ausbildung des Zustandes der Menschheit habe es auch „feinere Völker sanfterer Klimate“ gegeben. „Wie nun alles Wohlgeordnete und Schöne in der Mitte zweier Extreme liegt: so mußte auch die schönere Form der Vernunft und Humanität in diesem gemäßigtern Mittelstrich ihren Platz finden.“ (6, 683f.)

In den einzelnen Kapiteln des 15. Buches werden nun „einige dieser Naturgesetze“ erwogen, die „nach den Zeugnissen der Geschichte dem Gange der Humanität in unserm Geschlecht aufgeholfen haben“ (6, 636):

II. Alle zerstörenden Kräfte in der Natur müssen den erhaltenden Kräften mit der Zeitenfolge nicht nur unterliegen, sondern auch selbst zuletzt zur Ausbildung des Ganzen dienen. (6, 636)

III. Das Menschengeschlecht ist bestimmt, mancherlei Stufen der Kultur in mancherlei Veränderungen zu durchgehen; auf Vernunft und Billigkeit aber ist der daurende Zustand seiner Wohlfahrt wesentlich und allein gegründet. (6, 647)

IV. Nach Gesetzen ihrer innern Natur muß mit der Zeitenfolge auch die Vernunft und Billigkeit unter den Menschen mehr Platz gewinnen und eine daurendere Humanität befördern. (6 ,656)

V. Es waltet eine weise Güte im Schicksal der Menschen; daher es keine schönere Würde, kein dauerhafteres und reineres Glück gibt, als im Rat derselben zu wirken. (6, 664)

Es wäre sinnvoll, die kritischen Erwägungen von Herder selbst zu seinem zentralen Konzept zu sammeln und zu beurteilen. Für ihn ist Humanität immer eine bleibende Aufgabe. Keine historische Realisierung kann etwa als Vorbild angesehen werden – nicht umsonst spricht er häufig vom „Gang der Humanität“, nicht etwa von einem erreichten Zustand. Jede Vollkommenheit ist transitorisch, ein „Höchstes in seiner Art“, in dem sich die „Kultur eines Volks“ als „die Blüte seines Daseins“ „zwar angenehm, aber hinfällig offenbart“. (6, 571)23 Jeder konkreten Verkörperung von Humanität wird ein „bedingungsloser Vorbildcharakter“ abgesprochen.24

In den Briefen will Herder über Menschen schreiben, die in ihrem Leben die Humanität auf verschiedene Weise gefördert haben, etwa B. Franklin, Luther, Lessing, Comenius, Fénelon, die Quäker, Montesquieu und Vico. Herder ist in den Briefen besonders der Anwalt unterdrückter, sogenannter wilder Völker. Reisende, die von ihren Erfahrungen berichten, nennt er „Schutzengel der Menschheit“ (Suphan XVIII, 238). Er verurteilt den europäischen Kolonialismus – die Kolonialnationen Spanien, Portugal, England und Holland begingen Verbrechen an der Menschheit, indem sie gewachsene Kulturen zerstörten. Unter dem Humanitätsbegriff wird übrigens nicht nur die Individualität der Kulturen, sondern auch ihr Austausch unter einander verstanden.25 Aber resignative Züge fehlen in den Ideen nicht: „Unsre Humanität ist nur Vorübung, die Knospe zu einer zukünftigen Blume.“ (6, 187)

Es ist befremdend und doch unleugbar, daß unter allen Erdbewohnern das menschliche Geschlecht dem Ziel seiner Bestimmung am meisten fernbleibt. Jedes Tier erreicht, was es in seiner Organisation erreichen soll; der einzige Mensch erreichts nicht, eben weil sein Ziel so hoch, so weit, so unendlich ist, und er auf unsrer Erde so tief, so spät, mit so viel Hindernissen von außen und innen anfängt. (6, 188)

Das Misslingen von Humanität hängt offenbar mit einem „sonderbaren Widerspruch“ zusammen, an dem der Mensch leidet.

Als Tier dienet er der Erde und hangt an ihr als seiner Wohnstätte; als Mensch hat er den Samen der Unsterblichkeit in sich, der einen andern Pflanzgarten fodert. Als Tier kann er seine Bedürfnisse befriedigen und Menschen, die mit ihnen zufrieden sind, befinden sich sehr wohl hienieden. Sobald er irgend eine edlere Anlage verfolgt, findet er überall Unvollkommenheiten und Stückwerk; das Edelste ist auf der Erde nie ausgeführt worden, das Reinste hat selten Bestand und Dauer gewonnen: für die Kräfte unsers Geistes und Herzens ist dieser Schauplatz immer nur eine Übungs- und Prüfungsstätte. (6, 193)

Herder rechnet den größten Teil der Menschen zur ‚Tierheit‘. „Zur Humanität hat er bloß die Fähigkeit auf die Welt gebracht und sie muß ihm durch Mühe und Fleiß erst angebildet werden.“ (6, 194)

Herder hat wohl eher das Individuum als das Kollektiv oder die Nation im Blick, wenn er über die Naturgesetze der Humanität spricht. Aber die eigentlichen Protagonisten des geschichtlichen Fortgangs sind für ihn die Nationen. Doch sie sind nie der höchste Wert, und Bildung reduziert sich bei ihm nie auf nationale Bildung. Das Prinzip ‚Humanität‘ verbiete es ihm, ‚deutsche Bildung‘ ins Zentrum seines Denkens zu rücken.26 Der Historiker Herder plädiert für das Einreißen von Mauern zwischen den Nationen. Am römischen Reich demonstriert er, was „Reife des Schicksals der alten Welt“ bedeutet und was das römische Verknüpfen von Völkern und Weltstrichen bewirkte.27 Er spricht von den Schwierigkeiten, ein ganzes, lebendiges „Gemälde von Lebensart, Gewohnheiten, Bedürfnissen, Landes- und Himmelseigenheiten“ zu malen! „Charakter der Nationen! Allein Data ihrer Verfassung und Geschichte müssen entscheiden.“ (4, 32f.) In mancher Hinsicht sei also

jede menschliche Vollkommenheit National, Säkular und am genauesten betrachtet, Individuell. Man bildet nichts aus als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal, Anlaß gibt: vom übrigen abgekehrt: die Neigungen oder Fähigkeiten, im Herzen schlummernd, können nimmer Fertigkeiten werden; die Nation kann also, bei Tugenden der erhabensten Gattung von einer Seite, von einer andern Mängel haben, […]. (4, 35f.)

Besonders in seinen Gedanken zur Geschichtsphilosophie finden sich zahlreiche Metaphern aus der organischen Welt – für Völker und Nationen wählt er den Stamm des Baumes; der, „zu seiner größern Höhe erwachsen“, danach strebte, „Völker und Nationen unter seinen Schatten zu nehmen, in Zweige.“ (4, 31) Aber gerade bei den Baum-Metaphern für Geschichte ist sich Herder der Ambivalenz der Metaphorik bewusst: der Baum verliert bei wachsender Höhe an Festigkeit; der Mensch ist eine „kleine Laubfaser des Baumes“ der Geschichte. (4, 84)

Gang Gottes über die Nationen! Geist der Gesetze, Zeiten, Sitten und Künste, wie sie sich einander gefolgt! zubereitet! entwickelt und vertrieben! (4, 88)

Eben die Eingeschränktheit meines Erdpunktes, die Blendung meiner Blicke, das Fehlschlagen meiner Zwecke, das Rätsel meiner Neigungen und Begierden, das Unterliegen meiner Kräfte nur auf das Ganze eines Tages, eines Jahrs, einer Nation, eines Jahrhunderts – eben das ist mir Bürge, daß ich nichts, das Ganze aber Alles sei! (4, 106)

In der diffusen Herder-Rezeption der politischen und historischen Terminologie sind ihm immer wieder Positionen zugeschrieben worden, die ihn als einen der Anwälte eines deutschen Nationalismus ausweisen sollten – meist ohne Belege aus seinem Werk. Dabei argumentiert er – v.a. in den Ideen – stets mit humanitären Gesichtspunkten, die eine Überwindung des nur Nationalen implizieren. Dies geht aus seiner Beurteilung der Völker hervor. Den Wert einer Nation misst er daran, welche Leistungen für die Humanisierung der Menschheit ihr langfristig zuzuschreiben sind. So hat auch ‚Vaterland‘ bei ihm nicht etwa die oft unterstellte, nationalistische Bedeutung, sondern meint die Liebe zur Menschheit überhaupt, indem er sich das „Menschengeschlecht“ als eine „Kette fortgehender Glieder, die gegen einander Brüder, Schwestern, Verlobte, Freunde, Kinder, Eltern sind“ (XVII, 319), vorstellt. In seinem Spätwerk Adrastea warnt Herder wie bereits früher in den Briefen vor den Gefahren eines ‚Nationalwahns‘. „Seine idealisierte Bestimmung einer deutschen Nationalidentität sollte daher kritisch gesehen, jedoch nicht überbewertet werden.“28

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511 s. 2 illüstrasyon
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