Kitabı oku: «Kompetenzorientierter Unterricht auf der Sekundarstufe I», sayfa 2
2 Kompetenz in der amerikanischen Curriculumreform der 1960er-Jahre
Ende der 1950er-Jahre führte der amerikanische Psychologe Robert W. White (1904–2001) den Begriff competence in die Motivationspsychologie ein. White ging davon aus, das die bis dahin dominanten psychologischen Konzepte des Behaviorismus und der Psychoanalyse an die Grenzen ihres Erklärungspotenzials gelangt seien, da Motivation allein durch Triebe nicht erklärt werden könne (White 1959, 297). Er schlug deshalb vor, diese Leerstelle in den traditionellen Triebtheorien mit dem Begriff competence zu füllen, wobei competence sich auf die Fähigkeit eines Organismus bezog, «to interact effectively with its environment» (ebd.). Mit competence wollte sich White explizit nicht an eine bestimmte Theorietradition anlehnen; er begründete die Begriffswahl vielmehr damit, dass Kompetenz in ihren alltäglichen Bedeutungen geeignet sei, «to promote an effective – a competent – interaction with the environment» (ebd., 318), was hauptsächlich anhand von Beispielen aus der Entwicklungspsychologie Jean Piagets gezeigt wurde (ebd., 317–319).
Zwei Jahre später taucht der Begriff in einer Publikation der Educational Policies Commission[8] in Verbindung mit beruflichen Fähigkeiten auf. In dieser kurzen Schrift mit dem Titel «The Central Purpose of American Education» legte die Kommission dar, was die wichtigsten Ziele der amerikanischen Erziehung und Schule seien und wie diese am besten erreicht werden könnten. Angesichts einer sich stark verändernden Arbeitswelt, die immer mehr ausgebildete Fachkräfte brauche und immer weniger Arbeitsplätze für Ungelernte biete, sei die Steigerung der vocational competences eine dringende Aufgabe der Schule, wobei diese berufliche Kompetenz durchaus auch auf developed rational capacities angewiesen sei (Educational Policies Commission 1961, 6). Kompetenz baute also auf intellektuelle Stärken und war nicht als ihr Gegenkonzept gedacht. Allerdings war zum Bedauern der Kommission die konkrete Entwicklung der rational capacities bzw. der rational powers in der bisherigen Forschung noch kaum Thema gewesen: «The psychology of thinking itself is not well understood» (ebd., 13), weshalb es auch keine spezifischen Programme gebe, «to develop intellectual power» (ebd., 16).
Aus heutiger Perspektive vielleicht eher überraschend sind die Vorschläge, welche die Kommission zur curricularen Umsetzung ihrer Empfehlungen formulierte. Sie erklärte nämlich, dass nicht nur der Unterricht in Mathematik oder Philosophie die geforderten rationalen Kräfte verbessere (ebd., 17), sondern auch verschiedene Erfahrungen in eher als «geisteswissenschaftlich», «schöngeistig» oder «ästhetisch» zu bezeichnenden Fächern. «Music, for example, challenges the listener to perceive elements of form within the abstract. Similarly, vocational subjects may engage the rational powers of pupils» (ebd., 18). Grundsätzlich sei es das Ziel von Schule, bei den Schülern den Wunsch nach sowie den Respekt vor Wissen zu wecken und sie zur Antwort auf die Frage zu befähigen, wie sie wissen, aber auch was sie wissen (ebd., 19). Damit wird Schule als Ort bestimmt, an dem wissenschaftliches oder zumindest an den Wissenschaften orientiertes Wissen und ein forschender Zugang zur Welt zu vermitteln ist, wobei die Entwicklung der rationalen Kräfte den Schüler auch befähigt, «to use his mind to make of himself a good citizen and contributing person». Oder anders formuliert: «The school should encourage the student to live the life of dignity which rationality fosters» (ebd., 20).
Diese Organisation und inhaltliche Ausrichtung von Schule, wie sie sich als Folge der Progressive Education, der amerikanischen Form der Reformpädagogik mit ihrer starken Betonung des Learning by Doing, entwickelt hatte und unter dem Namen life adjustment movement bekannt geworden ist, rief Kritik sowohl vonseiten der liberalen Intellektuellen als auch vonseiten der strengen Antikommunisten und der traditionellen Konservativen hervor (Kliebard 2002, 106–108; Hartman 2008). Die Hauptkritik richtete sich gegen die Überzeugung, Schule habe ihre Schüler zwar auf die Arbeitswelt vorzubereiten, sie aber auch in ihrem physischen und psychischen Wohlbefinden zu fördern. Die damit verbundene antiintellektuelle Tendenz konnte sehr einfach mit den didaktischen Reformen der Progressive Education in Verbindung gebracht werden, während die geforderte Curriculumreform die Stärkung der traditionellen akademischen Fächer bzw. die Rückkehr zu ihnen zum Ziel hatte.
Der später als solcher bezeichnete «Sputnikschock», das heisst die kulturellen und politisch-gesellschaftlichen Reaktionen in den USA auf den 1957 erfolgten Start des ersten künstlichen Erdsatelliten ins All durch die Sowjetunion, unterstützte diese Kritik. Die Niederlage im globalen Wettkampf um die Vorherrschaft im Weltall wurde der mangelnden Qualität der naturwissenschaftlichen Ausbildung in den Schulen angelastet, weshalb eine Reform des Curriculums[9] mit Schwerpunkt auf den naturwissenschaftlichen Fächern notwendig erschien (Kliebard 2002, 58–59).[10] Ziel des Unterrichts sollte die Vermittlung von zu Handlung befähigendem Wissen sein, mit dessen Hilfe der Wettlauf der beiden auf geopolitische Dominanz ausgerichteten Systeme gewonnen werden konnte. Ziel war also nicht der sich kompetent selbst verwirklichende Bürger des life adjustment movement.
Diese Unterscheidung von handlungsleitendem Wissen, das für den geopolitischen Wettlauf hilfreich war, und einer kompetenten Lebensführung, die das individuelle Wohlbefinden zum Ziel hatte, wurde in der theoretischen Konzeptualisierung der international vergleichenden Schulleistungsstudien, die im Kontext des Kalten Krieges entstanden waren, nicht übernommen – im Gegenteil. Eine vergleichende Perspektive war nicht mit Testaufgaben möglich, die Wissen voraussetzten, das von den jeweiligen nationalen Lehrplänen abhängig war, sondern nur durch von konkretem Wissen unabhängige Testaufgaben. Statt also «totes Wissen» abzufragen, wurde auf das Konzept der Kompetenz rekurriert, mit dessen Hilfe Wissen getestet werden konnte, das für die Zukunft der Schüler als relevant galt, wobei diese Relevanz als vergleichbar beurteilt wurde (Tröhler im Druck).[11]
3 Kompetenz als Schlüsselqualifikation und lebenslanges Lernen
Für die Verwendung und Weiterentwicklung des Kompetenzbegriffs im deutschsprachigen Raum war Noam Chomskys Unterscheidung von Kompetenz und Performanz bedeutsam, wie sie in der pädagogisch-psychologischen Debatte rezipiert wurde (Kobelt 2008, 10) und, zur «kommunikativen Kompetenz»[12] weiterentwickelt, auch in den Sozialwissenschaften Fuss fassen konnte (Grunert 2012, 54). Chomsky hatte 1965 in «Aspects of the Theory of Syntax», die 1969 unter dem Titel «Aspekte der Syntax-Theorie» in einer deutschen Übersetzung erschienen waren, (Sprach-)Kompetenz als «Kenntnis des Sprecher-Hörers von seiner Sprache» und Performanz als den «aktuellen Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen» bestimmt (Chomsky 1972, 14). Der Mensch besitze ein angeborenes oder intuitives Muster der Spracherkennung, eine innere Sprachkompetenz, die durch die Sprechhandlung erst sichtbar werde und als das Resultat der Kompetenz zu sehen sei (Vonken 2005, 20). In seiner Theorie geht Chomsky von einer «idealen» Sprechsituation aus, das heisst von einer Situation, in welcher der Sprecher-Hörer von keinen Kontextfaktoren beeinflusst wird und nicht beeinflussbar ist. Er argumentiert damit nicht mit empirischen oder historischen Erfahrungen, sondern konstruiert seine Unterscheidungen und Argumente auf einer rein rationalen, von der Vernunft bestimmten Ebene (Chomsky 1972, 13). Die rational bestimmte Trennung von Kompetenz und Performanz ist denn auch in ihrem Modellcharakter zu verstehen.[13]
In der deutschsprachigen Pädagogik wurde das Konzept der Kompetenz vor allem durch Heinrich Roth (1906–1983) wirkmächtig vertreten. Im ersten Band seiner zweibändigen «Pädagogischen Anthropologie» hatte sich Roth mit der Frage nach der Bildsamkeit und der Bestimmung des Menschen und damit mit normativen Fragen der Erziehung beschäftigt, wodurch er zeigen wollte, «warum diese Leerformeln [Erziehungsziele wie Mündigkeit, Kritikfähigkeit, Kreativität, Emanzipation] […] zur langfristigen Orientierung unverzichtbar sind» (Roth 1971, 14). Mit dem zweiten Band rekonstruierte Roth die entwicklungspsychologischen Grundlagen der Erziehungswissenschaft und wandte sich damit wieder den sogenannt empirischen Fragen zu.
Auch wenn Roth Erziehungsziele als «Leerformeln» bezeichnete, haben diese seines Erachtens trotzdem das Potenzial, ja sogar die Pflicht, Ziele für empirische Entwicklungsprozesse vorzugeben (ebd., 179). Konkret ging es ihm darum, die neue psychologische Überzeugung, Entwicklung als Lern- und nicht als Reifeprozess[14] zu verstehen, auf ihre Bedeutung für die Pädagogik hin zu untersuchen. Dabei spielte Mündigkeit als «Zieldimension von Erziehungs- und Bildungsprozessen, die er auf Seiten des Subjekts als entwickelte Handlungskompetenz versteht» eine zentrale Rolle (Grunert 2012, 47). Eine so verstandene Mündigkeit betreffe die «seelische Verfassung einer Person, bei der die Fremdbestimmung soweit wie möglich durch Selbstbestimmung abgelöst ist». Sämtliche erzieherischen Massnahmen haben sich demzufolge an der Förderung der Selbstbestimmung zu orientieren, wobei diese als «Kompetenz» im dreifachen Sinn definiert wird: als «Selbstkompetenz», «Sachkompetenz» und «Sozialkompetenz» (Roth 1971, 180). Der von Roth gebrauchte Kompetenzbegriff ist damit kein Begriff, der Handlungen oder Umsetzungen bezeichnet, sondern er befasst sich mit den Bedingungen mündigen, moralischen und selbstbestimmten Handelns.[15]
Seit den 1970er-Jahren wurde der Kompetenzbegriff vermehrt in der Berufs- und Erwachsenenpädagogik sowie in der Weiterbildung verwendet, wobei teilweise auch der Begriff «Schlüsselqualifikationen» gebraucht wurde. Auf der theoretischen Seite wurde mit dem Konzept der Schlüsselqualifikationen versucht, die traditionelle Trennung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung aufzuheben bzw. die beiden Bereiche enger miteinander zu verknüpfen. Damit sollte aber auch die fachliche Qualifikation gewährleistet werden, ohne dass diese eng an bestimmte Handlungsabläufe oder Kenntnisse geknüpft werden musste, die in einer sich schnell wandelnden beruflichen Umgebung nur kurze Zeit Gültigkeit beanspruchen konnten (Tippelt 2002, 50–51). Die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft seit den 1980er-Jahren und die damit verbundenen Umstrukturierungen der Arbeitswelt und der beruflichen Tätigkeiten machten das Konzept der Schlüsselqualifikationen auch für die bildungspolitische Diskussion interessant. In diesem Kontext wurde auch das Schlagwort vom «lebenslangen Lernen» geprägt.[16] Gerade in der Berufsbildung war damit die Überzeugung verbunden, dass nicht länger «Qualifikationen», verstanden als Wissen und Fähigkeiten, die im Idealfall für ein ganzes Berufsleben ausreichten, zur Lösung einer bestimmten Aufgabe zu erwerben waren, sondern «Kompetenzen», welche die Basis für eine ständige Weiterentwicklung bilden sollten und die flexibel auf neue Aufgabenstellungen angewendet werden konnten (Kobelt 2008, 15–16).
4 Kompetenz als messbare Alternative zu Bildung
Ende der 1990er-Jahre wurde der Kompetenzbegriff im Kontext der vergleichenden Schulleistungsstudien wie PISA in die empirische Bildungsforschung eingeführt, wobei sich die Begriffsbestimmung von Franz Emanuel Weinert und dessen Ausdifferenzierung durch Eckhard Klieme als die gültige Kompetenzdefinition etablieren konnte. In einer im Auftrag des Deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung verfassten Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards wird explizit darauf hingewiesen, dass der dabei verwendete Kompetenzbegriff abzugrenzen sei «von den aus der Berufspädagogik stammenden und in der Öffentlichkeit viel gebrauchten Konzepten der Sach-, Methoden, Sozial- und Personalkompetenz» (Klieme et al. 2003, 22) und damit von einer erziehungswissenschaftlichen Vorstellung von Kompetenz, wie sie sich während der 1970er-Jahre entwickelt hatte. Kompetenzen werden in der Expertise als eine bestimmte «Leistungsdisposition» verstanden und bezeichnen «erworbene, also nicht von Natur aus gegebene Fähigkeiten […], die der lebenslangen Kultivierung, Steigerung und Verfeinerung zugänglich sind» (ebd., 65). Kompetenzen können also nicht nur erworben, sondern auch entwickelt werden und sind nicht als Fähigkeiten zu verstehen, über die man verfügt oder eben nicht verfügt, sondern über die unterschiedlich verfügt werden kann. Sie grenzen sich zudem deutlich von Qualifikationen ab, die mit ihrer Abhängigkeit von «externer Zweckbestimmung» dem Verdacht ausgesetzt sind, von aussen her vorbestimmt zu sein (Geissler u. Orthey 2002, 70–71).
Auffallend am hier skizzierten Kompetenzbegriff ist seine semantische Nähe zum Bildungsbegriff. Auch dieser wird ja in seiner klassischen humboldtschen Formulierung als eine Kraft verstanden, die es dem Menschen ermögliche, «seinem Wesen» in Auseinandersetzung mit der Welt «Werth und Dauer [zu] verschaffen» (Humboldt 1960, 235) oder in einer in der Literatur oft zitierten zusammenfassenden Neuformulierung durch Hartmut von Hentig: Bildung ist «die Anregung aller Kräfte eines Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt […] entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen» (Hentig 1999, 38). Dies wird dann in der Expertise zur Entwicklung von Bildungsstandards als «erworbene, also nicht von Natur aus gegebene Fähigkeiten» bezeichnet, «die an und in bestimmten Dimensionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfahren wurden und zu ihrer Gestaltung geeignet sind» (Klieme et al. 2003, 22). Diese Nähe ist nicht weiter erstaunlich, übernimmt der Kompetenzbegriff doch ähnliche Funktionen wie der Bildungsbegriff um 1800. Auch dieser verstand sich als Gegenpol zu «reinem» oder «blossem» Wissen, das nicht tätig oder handlungsleitend wurde. Wenig überraschend wurde denn auch die Debatte geführt darüber, ob und, wenn ja, wie der Kompetenzbegriff den immer wieder in die Kritik geratenen Bildungsbegriff ersetzen kann (Rekus 2007; Tenorth 2008; Schulze 2009; Martens 2010, 42–43).
Kritik an einer In-eins-Setzung des Bildungsbegriffs mit dem Kompetenzbegriff wurde aus einer bildungstheoretischen Perspektive laut, die betont, dass Bildung als Prozess von Selbstentfaltung und Aneignung über den Kompetenzerwerb hinausgehen müsse, da Kompetenzerwerb sich wesentlich auf funktionales Wissen beziehe (Gruschka 2006). Bildung müsse zudem auch unabhängig von einem erreichten Kompetenzniveau möglich sein (Schlömerkemper 2004). Bei dieser Argumentation wird in der Regel allerdings nicht berücksichtigt, dass der Kompetenzbegriff schon in den 1970er-Jahren mit dem Begriff der Mündigkeit in Verbindung gebracht worden ist (Roth 1971, 180), einem der zentralen Begriffe einer emanzipatorischen Bildungstheorie.
Unabhängig jedoch von der Frage, inwiefern der Kompetenzbegriff den Bildungsbegriff ersetzt, ergänzt oder an die internationale Diskussion anschlussfähig macht, finden sich auch Aussagen, dass der Kompetenzbegriff einseitig den Bereich des Wissens fokussiere (Hofer 2012, 31). Gleichzeitig bemängeln die aktuellen Diskussionen um kompetenzorientierte Lehrpläne allerdings gerade die fehlende Bedeutung von Wissen. Kompetenz kann offenbar sowohl als wissensbasiertes als auch als eher wissensunabhängiges Konzept verstanden werden, das, je nach weltanschaulicher Position, Bildung inkorporiert oder verhindert.
5 Kompetenz oder Wissen
Die Frage nach der Rolle des Wissens verweist auf die in der zeitgenössischen Diskussion beliebte Unterscheidung von «totem Wissen» und Kompetenz. Diese Gegenüberstellung von verschiedenen Arten von Wissen ist auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar und knüpft an pädagogisches Alltagswissen und pädagogische Alltagserfahrung an. Sie verweist darüber hinaus aber auch auf ein «traditionelles» Problem der Pädagogik, das Problem nämlich, wie Pädagogik als eine auf Praxis zielende Wissenschaft die Lücke zwischen Theorie und Praxis schliessen kann.[17] Konkret geht es um die Frage, wie man einen anderen Menschen (oder auch sich selber) dazu bringen kann, Vorstellungen, Ideen oder eben Wissen effektiv anzuwenden bzw. in konkrete Taten umzusetzen und damit tatsächlich gemäss den eigenen Überzeugungen und Vorstellungen zu handeln.[18]
Die Unterscheidung zwischen Kompetenz und «totem Wissen» könnte so als heuristisches Mittel verstanden werden, das heisst als intellektuell konstruierte Hilfe, deren Funktion lediglich darin besteht, einen Sachverhalt deutlicher zu erfassen, hier also zwei Formen von Wissen voneinander zu unterscheiden. Das Problem ist allerdings, dass die in der zeitgenössischen Literatur so oft betonte Gegenüberstellung von Kompetenz und «totem Wissen» in der Regel gerade nicht heuristisch, sondern als real verstanden wird und damit als empirisch überprüfbarer Tatbestand, der mit entsprechenden Methoden gemessen werden kann. Unter dieser Voraussetzung ist diese Unterscheidung auch für die wissenschaftliche oder fachliche Beschäftigung mit – hier konkret – Schule und Unterricht leitend und bestimmt (auch) die Vorstellung davon, was Schule und Unterricht ist und zu sein hat.
Diese Unterscheidung schliesst auch an die Frage an, wie der Mensch damit umgeht, dass er nie alles wissen kann und wie mit dieser ständigen Defiziterfahrung in Bezug auf die Qualität und Quantität des je verfügbaren Wissens umgegangen wird. Auch wenn der Anspruch der Allwissenheit schon immer illusorisch war, hat er sich als ein sehr beliebter pädagogischer Anspruch erwiesen, der vermeintlich durch das Konzept der Kompetenz eingelöst werden kann, da Kompetenz nicht mehr vorgibt, alles (oder möglichst vieles) «wissbar» zu machen, sondern Methoden oder eben die «Kompetenz» zu vermitteln, situativ und je nach Bedarf jenes Wissen verfügbar machen zu können, das zur Lösung einer bestimmten Aufgabe notwendig ist. Somit ist Wissen umfassend verfügbar, wenn nicht de facto, so zumindest potenziell. Die Frage nach dem Verhältnis von Kompetenz und Wissen ist demnach auch aus dieser Perspektive nicht neu, sondern Bestandteil einer wie auch immer verstandenen «Wissensgesellschaft», ein weiteres beliebtes Schlagwort der pädagogischen Diskussion.
Unabhängig von der grundsätzlichen und wohl eher philosophischen Frage, weshalb der Anspruch besteht, «alle alles zu lehren» bzw. «alles zu wissen», ist das angeblich Neue, das mit dem Kompetenzbegriff Einzug in Schule und Unterricht finden soll, nicht wirklich neu. Bei diesem angeblich «Neuen» handelt es sich vielmehr um eine bekannte Frage der Pädagogik, zumindest wenn man die Geschichte der Pädagogik seit dem 18. Jahrhundert in den Blick nimmt, da seit dieser Zeit davon ausgegangen wird, dass gesellschaftliche und soziale Probleme pädagogisch gelöst werden müssen. Dieses Phänomen wird in der internationalen Diskussion auch unter dem Stichwort educationalization of social problems diskutiert (Smeyers u. Depaepe 2008).
Wenn sich Pädagogik als Wissenschaft einer Tätigkeit versteht, die nicht darauf abzielt, durch Konditionierung oder Zwang eine bestimmte Handlung oder ein bestimmtes Verhalten hervorzurufen, sondern beansprucht, die der Erziehung bedürftigen Subjekte als autonome, selbstverantwortliche und selbstbestimmte Individuen zu sehen, dann geht es immer auch darum, wie in der und durch die Erziehung erreicht werden kann, dass als gut, sinnvoll oder passend erkannte Handlungs- oder Verhaltensweisen in den entsprechenden Situationen auch tatsächlich ausgeführt werden. Diese vermittelnde Instanz oder Fähigkeit wurde in der Geschichte der Pädagogik als (pädagogischer) Takt, Tugend oder Moral bezeichnet, wobei diese normativ geprägten Begrifflichkeiten heute eher als «nichtwissenschaftlich» etikettiert werden würden. Sie stehen auch quer zur gegenwärtig dominanten Logik der quantitativen Forschung mit ihrem vom Kritischen Rationalismus geprägten Forschungsansatz, der davon ausgeht, dass auch geistes- oder sozialwissenschaftliche Forschung Resultate hervorbringe, die so lange als «wahr» zu gelten hätten, als sie nicht durch gegenteilige Befunde falsifiziert worden seien. Zu dieser Forschungslogik passt, dass es sich bei der Kompetenz um einen Begriff handelt, der verspricht, operationalisierbar und damit für die empirische Forschung brauchbar zu sein.
Auch wenn sich die empirische Bildungsforschung als die zurzeit dominante Forschungslogik der Erziehungswissenschaft und der Bildungspolitik an einer psychologischen Begriffstradition orientiert, hat sie den Kompetenzbegriff nicht in der von Noam Chomsky formulierten Trennung von Kompetenz und Performanz weiterentwickelt, sondern versteht Kompetenz als «Fähigkeit einer Person», «situativ geprägte Anforderungen zu bewältigen» (Klieme u. Hartig 2007, 16), was in der Linguistik unter den Begriff der Performanz fallen würde. Kompetenz ist demnach in der zeitgenössischen Diskussion sehr wohl als Performanz zu verstehen, da Kompetenz hier keine anthropologische Fähigkeit bezeichnet, sondern eine Handlung, die sichtbar und damit messbar ist (Grunert 2012, 16). Kompetenz mag damit als Konzept und Begrifflichkeit gelten, die als empirisch fassbar und operationalisierbar gesehen wird und nicht zuletzt aus diesem Grund die bildungspolitische Debatte bestimmt. In einer längerfristigen Perspektive ist aber zu erwarten, dass der Kompetenzbegriff ein ähnliches Schicksal erleiden wird wie der Begriff der Schlüsselqualifikation. Die Kritik an der Operationalisierbarkeit wird zunehmen und an einem bestimmten Zeitpunkt einen kritischen Punkt überschreiten, dann wird auch das Kompetenzkonzept von einem neuen Konzept abgelöst werden (Faulstich 2002, 23). «Die Qualifikation bleibt also Qualifikation – auch wenn sie jetzt Kompetenz heisst», so haben es Karlheinz A. Geissler und Frank Michael Orthey (2002, 73) schon vor über zehn Jahren auf den Punkt gebracht. Das bedeutet nicht, dass damit das zur Diskussion stehende Phänomen dann ebenfalls obsolet sein wird, im Gegenteil.
Die Frage, wie Wissen zu Handlung wird oder wie Ausbildung eine Investition in eine Zukunft sein kann, wird die pädagogische und damit auch die bildungspolitische Diskussion weiterhin begleiten. Ob mit einer neuen Begrifflichkeit jeweils auch ein Erkenntnisfortschritt verbunden ist, muss mindestens diskutierbar bleiben. Wenn die pädagogische Debatte sich nicht ganz so geschichtsvergessen gibt, wie das gelegentlich zu beobachten ist, und wenn sie nicht aufgrund von rationalen Begriffsdefinitionen glaubt, damit auch empirische Realität beschreiben zu können, sondern diese als heuristisches Modell versteht, dann hat sie zumindest die Chance, die Welt nicht alle zehn Jahre neu erfinden zu müssen und von neuen Konzepten Erlösung zu erwarten.
Weiterdenken
•In diesem Beitrag wurde das Konzept des pädagogischen Slogans eingeführt. Welche Begriffe würden Sie gemäss Scheffler als pädagogische Slogans charakterisieren und warum?
•Welche Argumente können – aus einer historischen Perspektive – für eine kritische Haltung gegenüber dem Kompetenzbegriff angeführt werden?
•Worin sehen Sie den «Mehrwert» einer historischen Perspektive – konkret auf den Kompetenzbegriff bezogen, aber auch darüber hinaus?