Kitabı oku: «Kompetenzorientierter Unterricht auf der Sekundarstufe I», sayfa 7

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2 Bildungsungleichheiten

Grundsätzlich gibt es legitime und illegitime Bildungsungleichheiten. Legitim sind sie, wenn sie das Resultat von Unterschieden in individuellen Begabungen und erzielten Leistungen sind. Sind sie jedoch verknüpft mit sozialen Merkmalen wie beispielsweise Herkunft und Geschlecht oder auch Wohnort, Wohnregion und Kanton, handelt es sich um illegitime Bildungsungleichheiten. Sie verletzen das Prinzip von gleichen Bildungschancen. So sind die stark unterschiedlichen gymnasialen Maturitätsquoten bei 19-Jährigen (2014: Kt. ZH: 18,7 %, Kt. GE: 29,5 %, vgl. Bundesamt für Statistik 2016) nicht ausschliesslich eine Folge von individuellen Begabungen, sondern auch von politischen Entscheidungen. Für Schüler/-innen im Kanton Zürich bedeutet dies jedoch, dass ihre Aussicht, einen Platz im Gymnasium zu erlangen, auch bei guten schulischen Leistungen um einiges geringer ist als für Schüler/-innen im Kanton Genf.

Eine weitere Art von illegitimen Bildungsungleichheiten belegen Ergebnisse einer Zürcher Längsschnittstudie: Ein Drittel der Schüler/-innen aus sozial privilegierten Familien zeigten beim Schuleintritt bereits hohe schulische Leistungen, und ihr Anteil stieg bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit auf 46 Prozent an. Bei jenen aus sozial benachteiligten Familien kann ein gegenläufiger Prozess beobachtet werden. In dieser Schüler/-innengruppe wiesen nur 14 Prozent zu Beginn ihrer Schulzeit hohe Leistungen auf, und ihr Anteil sank im Verlauf der Schulzeit auf 10 Prozent. Diese Studie belegt sich über den Schulverlauf kumulierende Bildungsungleichheiten: Leistungsrückstände von Kindern aus «sozial benachteiligten Verhältnissen werden also nicht aufgeholt, sondern eher noch verstärkt» (Bayard 2014, 16).

Bildungsergebnisse sind somit nie nur das Ergebnis individueller Begabungen, Anstrengungen oder Leistungen, sondern sie sind beeinflusst durch die politisch festgelegte Ausprägung des Bildungssystems sowie durch systematische illegitime Bildungsungleichheiten.

3 Wie werden Kompetenzen aus soziologischer Perspektive definiert?

Matthias Baer nennt in diesem Band eine einprägsame, kurze Definition von Kompetenz von Lersch und Schreder (2013): «Kompetenz = Wissen + Können». Aus soziologischer Perspektive fehlt in dieser Kurzformel – wie in der vielzitierten Definition von Weinert (2001, 27) – das «Zutun» der anderen. Was damit gemeint ist, verdeutlicht folgende Definition: Kompetenzen sind «sozial zugeschriebene Qualitäten, die sich über vielgestaltige Kommunikation und Interaktion manifestieren bzw. als sich manifestierend dem Subjekt attestiert werden» (Kurtz u. Pfadenhauer 2010, 8). Im Gegensatz zur Definition von Lersch und Schreder (2013) wird explizit darauf hingewiesen, dass Kompetenz oder eben Wissen und Können jeweils akzeptiert werden müssen, ihr Gehalt (ihre Richtigkeit und Angemessenheit) erkannt werden muss, damit Leistung anerkannt und «kompetent sein» beziehungsweise Kompetenz einer Person zugeschrieben wird. Aus soziologischer Perspektive ist obige Kurzformel daher zu ergänzen: Kompetenz = Wissen + Können + Anerkennung + Zuschreibung.

3.1 Eine Präzisierung aus soziologischer Perspektive

Eine weitere Präzisierung von obiger Definition unternimmt Pfadenhauer (2010). Sie bestimmt drei Komponenten, die Kompetenz umfassen. Das sind Befähigung, Bereitschaft und Zuständigkeit. Befähigung bezieht sich auf eine bestimmte Wissensform, nämlich auf «aus eigener Erfahrung gewonnene[s] und sozial vermittelte[s] sedimentierte[s] (Rezept-, Routine- und explizite[s]) Wissen» (Pfadenhauer 2010, 153). Befähigung ist die Voraussetzung dafür, ein Problem wiederholbar bewältigen zu können. Die zweite Komponente ist die Bereitschaft, vorliegende Probleme überhaupt bewältigen zu wollen, dies im Sinne einer durch «Relevanz und Interessen bedingten Motivation» (ebd.). Die dritte Komponente – die Zuständigkeit – basiert auf der Annahme, dass innerhalb von zu erwartenden Standards eine situationsbezogene Handlungsfähigkeit konkret wird. Soziales Handeln ist aus soziologischer Perspektive stets sinnhaftes Handeln, das heisst, es wird von geltenden Normen und Regeln gesteuert und ist auf andere ausgerichtet. Erst die Kenntnis der Regeln und das Wissen um die Bedeutung der Normen machen Handeln von anderen verstehbar. Dies erlaubt es uns, das Handeln anderer zu deuten, und es wird für uns erklärbar. Daher ist es relevant, darauf hinzuweisen, dass «Kompetenz als soziale Zuschreibung zu begreifen ist» (ebd.). Diese Zuschreibung erfolgt aufgrund von beobachtetem Verhalten, das wir automatisch unseren (impliziten) Erwartungen oder auch unseren (expliziten) Standards gegenüberstellen, damit vergleichen und entsprechend einschätzen (ebd., 154).

Handeln, das ausserhalb unserer impliziten Erwartungen und Standards beziehungsweise ausserhalb geltender Regeln erfolgt, irritiert. Es wird meistens sanktioniert (bestraft), ignoriert (nicht beachtet) und nicht anerkannt. Letzteres muss im schulischen Kontext beispielsweise für körperliche und psychische Gewalt selbstverständlich sein. Das Nichtanerkennen betrifft manchmal jedoch auch Handeln im Zusammenhang mit der Beurteilung von Kompetenzen. So werden beispielsweise Sprachkompetenzen von Kindern mit Migrationshintergrund als schwach eingeschätzt, weil sie sich in der Unterrichtssprache nicht ausdrücken können. Ihre sprachliche Kompetenz in der Erstsprache, insbesondere im Falle von südosteuropäischen oder afrikanischen Sprachen, wird nicht anerkannt. Aufgrund von Pfadenhauers Argumentation präzisieren wir: Kompetenz = Befähigung (implizites und explizites Wissen) + Bereitschaft + Anerkennung + (zugeschriebene) Zuständigkeit.

Interessant an dieser Definition ist die Unterscheidung von implizitem und explizitem Wissen. Mit «implizit» ist, vereinfacht gesagt, der mitschwingende, nicht direkt ausgesprochene, nicht deklarierte Teil des Wissens gemeint oder eben die nicht transparent gemachten Erwartungen bei Zuschreibungen. Demgegenüber sind Erwartungen explizit, wenn sie ausformuliert und deklariert werden, und dasselbe gilt bezüglich des Wissens. Auch Schützeichel betont: «Kennzeichnend für Kompetenz ist der Modus des ‹impliziten Wissens›» (Schützeichel 2010, 174). Er definiert in Anlehnung an Polanyi (1958) implizites Wissen als tacit knowledge. Dieses ist verankert in körperlichen und sozialen Erfahrungen und «ist dann auch eher ein Können als ein Wissen, ein ‹knowing how› als ein ‹knowing that›» (ebd., 175–176). Das ist relevant, weil via implizites Wissen und implizit vorhandene Erwartungen soziale Ungleichheitsprozesse in Gang gehalten werden, beispielsweise dann, wenn Lehrende erwarten, dass durch die Vermittlung von Wissensinhalten den Lernenden auch die im Hintergrund stehenden theoretischen Konzepte grundsätzlich klar sind, ohne dass diese explizit thematisiert werden. Haben Lernende keine ausserschulischen Ansprechpersonen, die ihnen diese Bezüge aufzeigen und erläutern können, entstehen Bildungsdifferenzen, die wenig mit Intelligenz oder Leistungsvermögen, aber viel mit sozialer Herkunft zu tun haben.

3.2 Implizites Wissen – der lange Schatten der sozialen Herkunft

Implizites Wissen ist ein zentraler Teil dessen, was Bourdieu als Habitus bezeichnet (Bourdieu 1987). Dieser ist als Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweise zu verstehen und ist geprägt vom Milieu des Aufwachsens. Der Habitus «ist nicht angeboren, er ist erworben, bildet sich von früher Kindheit an in der Auseinandersetzung mit der Welt, in der Interaktion mit anderen aus» (Krais u. Gebauer 2002, 61). Bezüglich Kompetenzen gilt aus dieser theoretischen Richtung Analoges: Der Prozess des Kompetenzerwerbs wird vergessen, und Kompetenzen «werden somit zur zweiten Natur» (Liebau 2006, 13). Vergessen geht dabei auch, dass Kinder aus weniger privilegierten Klassen aufgrund der Möglichkeiten, die ihnen ihr familiäres Umfeld bietet, andere Kompetenzen ausbilden als Gleichaltrige aus privilegierten Klassen (Leemann 2015, 152). Letztere betreten das soziale Feld Volksschule bereits mit Kompetenzen, die hier beachtet und anerkannt werden.

Anerkannte Kompetenzen, die in Schulzeugnissen und anderen Formen von Qualifikationsbelegen wie Abschlussdiplomen dokumentiert werden, beeinflussen den späteren Lebensverlauf. Sie entfalten eine zweifache Wirkung, da sie nebst dem individuellen Lebensverlauf auch die strukturellen Merkmale einer Gesellschaft bestimmen. So gilt ein grosser Anteil an gut bis sehr gut ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Wettbewerb der Nationen als positives Merkmal der Sozialstruktur einer Gesellschaft beziehungsweise eines Staates. Dies gibt uns einen weiteren Hinweis darauf, dass zuerst die grösseren gesellschaftlichen Zusammenhänge geklärt werden müssen, um aus einer systemischen Perspektive die Kompetenzorientierung erörtern zu können.

An dieser Stelle kann zusammenfassend festgehalten werden, dass das Bildungssystem insgesamt dafür sorgt, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung entlang der horizontalen Achse bezahlte und unbezahlte Arbeit (Erwerbs- und Familienarbeit/ehrenamtliche Arbeit) und entlang der vertikalen Achse freie Berufe (z.B. Architekt/-innen) und «Jedermanns­tätigkeiten/Gelegenheitsjobs» aufrechterhalten bleibt. Fend (2012, 164) bestimmt sich ergänzende Funktionen, welche die Volksschule für die anderen Teilsysteme der Gesellschaft (z.B. Arbeitsmarkt, Politik) zu erfüllen hat und denen wir uns nachfolgend widmen.

4 Welche Funktionen werden der Volksschule von der Gesellschaft zugewiesen?

Das Bildungssystem hat den Auftrag, möglichst alle Heranwachsenden zu befähigen, an der Gesellschaft teilzunehmen und teilzuhaben. In einer Demokratie heisst dies zudem, dass aus ihnen mündige Bürgerinnen und Bürger werden. Das Bildungssystem dient auch dem Erhalt sozialer Differenzen beziehungsweise der Reproduktion der Sozialstruktur einer Gesellschaft (Graf u. Graf 2008, 36). So regelt die Volksschule die Schülerinnen- und Schülerströme und schleust sie entlang der bestehenden Strukturen in die verschiedenen Abteilungen der Volksschule (Kronig 2012, 56) sowie in die Angebote des nachobligatorischen Ausbildungssystems.

Die Lenkung der Schülerinnen und Schüler in bestimmte Abteilungen und Niveaus der Sekundarstufe I basiert auf Selektionsentscheidungen von Lehrpersonen. Sie vertreten Regeln und Haltungen, die zu ihrem professionellen Tun gehören und eng an den Ort ihrer beruflichen Tätigkeit gebunden sind. Wenn Lehrpersonen Einschätzungen treffen, so tun sie dies als «Repräsentanten und Repräsentantinnen» (Bayard Walpen 2013, 99) der Institution Volksschule einerseits und der Schule, an der sie arbeiten, andererseits. Wird mit Volksschule die Makroebene angesprochen, fokussiert die Einzelschule die Mesoebene[26] der Gesellschaft, auf der Organisationen angesiedelt sind.

Der Gedanke der Lehrperson als Repräsentant/-in betont, dass Lehrpersonen – bewusst oder unbewusst – die kollektive Meinung ihrer Schule bei ihren Einschätzungen von Sachverhalten berücksichtigen. Diese kollektive Meinung widerspiegelt die geltenden Leitbilder der Schule, die Inhalte vergangener und aktueller Schulentwicklungsaufgaben sowie relevante Aspekte des Schulhausklimas und beeinflusst die Ausgestaltung der Rolle der Lehrpersonen.

4.1 Die Funktionen der Volksschule

Abbildung 1 illustriert die Funktionen der Volksschule und ihre Verflechtungen mit den anderen Teilsystemen der Gesellschaft. Funktionen sind eng verknüpft mit Erwartungen und Forderungen. So steht hinter der Qualifikationsfunktion die Erwartung, dass die Volksschule möglichst alle Heranwachsenden zur Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft befähigt. Insbesondere sollten Individuen am Ende der obligatorischen Schulzeit über Kompetenzen verfügen, die ihnen den Anschluss an die Berufsbildung oder eine weiterführende Schule ermöglichen. In den nachobligatorischen Ausbildungen gilt es, die bereits vorhandenen Fähigkeiten in einer beruflichen oder allgemeinbildenden Erstausbildung zur Expertise zu bringen. Die Zahl derjenigen, welche die obligatorische Schule verlassen, ohne eine qualifizierende Anschlusslösung (berufliche Grundbildung, Mittelschule[27]) zu haben, soll unter 5 Prozent liegen (EVD, EDI, EDK 2011, 3). Es besteht also die anspruchsvolle Forderung, dass möglichst alle in der Schweiz wohnhaften Heranwachsenden durch die Volkschule zur Ausbildungsfähigkeit[28] gelangen. Dieses bildungspolitische Ziel wird von der Wirtschaft gestützt, die verwertbare Kompetenzen als zwingendes Resultat des Unterrichts der Schule fordert. Dies widerspricht der pädagogischen Auffassung, Bildungsprozesse nicht nur als Leistungs-, sondern vor allem als Persönlichkeitsentwicklung zu verstehen (Rohlfs, Harring u. Palentin 2014, 14). Ein solches Bildungsverständnis beinhaltet, dass Schüler/-innen an die bestehende Kultur der Gesellschaft, für welche die Volksschule einzustehen hat, herangeführt werden. Das bezeichnen wir als den Kern der Sozialisationsfunktion.

Die Selektionsfunktion ist eine weitere zentrale Funktion der Volksschule. Leistungsbeurteilungen führen zu Selektionsentscheiden, durch die Schüler/-innen innerhalb der Volksschule zu verschiedenen Schularten (Regelschule, Sonderschule) und innerhalb der Sekundarstufe I zu Leistungsniveaus zugeteilt werden. Daraus resultieren unterschiedliche Zertifikate, die ihren Inhabern und Inhaberinnen zu bestimmten Plätzen im Sozialgefüge verhelfen sollen, was wir als Allokationsfunktion bezeichnen. Investitionen sollen sich lohnen: Wer viel lernt, Energie und Zeit in seinen Bildungsprozess investiert, soll die Berechtigung erhalten, einen oberen Platz in der Sozialstruktur zu erlangen. Erschwerend wirkt, dass das Ausbildungssystem an der Spitze wenig Plätze anbietet und so systembedingt «ein Teil der Menschen frühzeitig das Bildungssystem verlassen muss» (Leemann 2015, 118). Diese Verteilungsungleichheit in Bezug auf Bildungszertifikate wäre an sich wenig problematisch, bestände da nicht ein enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungszertifikaten, wie die Bildungsforschung seit Jahrzehnten nachweist (vgl. Kap. 2).

Aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler wird durch die Selektionsfunktion ein «Mechanismus der Chancenvernichtung bzw. Privilegierung» (Graf u. Graf 2008, 37) in Gang gehalten, der nicht gerecht funktioniert. Denn die aufgegliederte Sekundarstufe «kanalisiert Bildungschancen» (Hupka 2003, 54) entlang bekannter Merkmale wie familiale Herkunft, Nationalität, Ethnie, Geschlecht, Alter und Bildungsort.

Auf der Seite der Lehrkräfte führt der verordnete Selektionsauftrag zu Spannungen, die als «Anwalt-Richter-Dilemma» diskutiert werden. Es verdeutlicht, welchen äusseren Zwängen Lehrpersonen – trotz vermeintlicher Lehrfreiheit – unterliegen. Streckeisen und Mitautorinnen und -autoren untersuchen in ihrer Studie den Umgang der Lehrpersonen mit diesem Dilemma. Sie konnten fünf unterschiedliche Lehrpersonen-Typen entlang von Deutungs- und Handlungsmustern in Bezug auf Selektionsprozesse herausarbeiten. Bei all diesen Typen manifestiert sich eine je unterschiedliche «distinktive Grundhaltung», die mit der eigenen Klientel korrespondiert: So liess sich beim Typ 1 – in der Regel an Gymnasien tätig – eine starke Identifikation mit den «Selektionsgewinnerinnen und -gewinnern» feststellen. Beim Typ 5 hingegen – mehrheitlich an Sekundarschulen des tiefsten Niveaus erwerbstätig – liessen die Aussagen der Untersuchten eine starke Identifikation mit den «Selektionsverliererinnen und -verlierern» vermuten. So spricht sich Typ 1 («Auslese der Besten») vehement für die Selektionsfunktion der Volksschule aus, während Typ 5 («Fördern jenseits der Selektion») sich mit einer kritischen Haltung von dieser distanziert (Streckeisen 2015, 81). Diese Studie verdeutlicht, inwiefern der berufliche Alltag der Lehrpersonen die Wahrnehmung ihres von der Gesellschaft auferlegten Selektionsauftrags beeinflussen kann.


Als weitere Funktion der Volksschule gilt die Integrationsfunktion. In ihr «ist die Reproduktion von solchen Normen, Werten und Interpretationsmustern institutionalisiert, die zur Sicherung wünschenswerter Herrschaftsverhältnisse dienen» (Fend 2012, 163). Es geht darum, Heranwachsende zu befähigen, mündige Bürgerinnen und Bürger zu werden, was Loyalität gegenüber der bestehenden Gesellschaftsstruktur und ihrer Organisationsweise beinhaltet, aber auch kritische Reflexionsfähigkeit miteinschliesst. Dies sind wiederum zwei widersprüchliche Anforderungen: Gefördert werden soll bei Lernenden einerseits die Bereitschaft zu akzeptieren, wie die bestehende Gesellschaft strukturiert und organisiert ist, und andererseits ihre Befähigung zur Mündigkeit.

Was bedeutete dies für die Praxis? Dazu zwei Hinweise. Normen, Werte und akzeptierte Orientierungen können erstens wie beispielsweise «direkte Demokratie ist die beste Gesellschaftsform» gemäss dem Lehrplan 21 im Fachbereich «Natur, Mensch und Umwelt» gestützt werden. Zweitens ist die Volksschule als «Alltagswelt Schule» (Brake u. Bremer 2009) der Ort, an dem sich Kinder aus verschiedenen Milieus begegnen. Dadurch wird allen ihr Platz im gesellschaftlichen Gefüge erkennbar, denn obwohl Lernen, Wissen und Kompetenzaneignung im Vordergrund stehen, wirken im Hintergrund die Spielregeln der Gesellschaft stets mit. Es geht um soziale Ordnung, die aus Gegensatzpaaren wie z.B. «oben und unten», «anordnen und befolgen», «definieren und akzeptieren» besteht. Die Spielregeln des sozialen Felds Volksschule nicht zu kennen, nicht angemessen mit ihnen umgehen zu können oder gar das Spiel zu verweigern, wird zum individuellen (Leistungs-)Problem: Was Ausdruck unterschiedlicher Sozialisationserfahrungen im Herkunftsmilieu sein kann, wird der Schülerin, dem Schüler angelastet (Bourdieu 2001). So legitimiert das Bildungssystem die ungleichen Chancen bezüglich Bildungserfolg und auch bezüglich der ungleichen Verteilung von gesellschaftlich relevanten Gütern wie Besitz, Einkommen, Prestige und Macht. Diese «Vermittlung der Legitimität der politischen Herrschaftsstruktur» (Fend 2012, 164) bezeichnen wir als Legitimationsfunktion.

Dass die Volksschule obige Funktionen mit ihren widersprüchlichen Anforderungen erfüllen kann, bedingt das Akzeptieren von zwei Grundsätzen, denen wir uns nun widmen.

4.2 Welche Grundsätze begünstigen das Zusammenspiel der Funktionen?

Die Anerkennung der Menschenrechte und die Ausrichtung am meritokratischen Prinzip sind die Zielgrössen, die gelten müssen, damit die Volksschule die ihr auferlegten Funktionen erfüllen kann. So bestimmt Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Recht auf unentgeltliche «grundlegende Bildung bzw. Grundschulunterricht» für alle und die Ausrichtung der Bildung auf die «Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit […] und die Wahrung des Friedens» (Vereinte Nationen 1948, 5) und den Schutz vor Diskriminierung. Dieser Schutz ist auch Teil des meritokratischen Prinzips. Es verlangt, dass aufgrund von Leistungen und nicht von zugeschriebenen Merkmalen wie Geschlecht, Nationalität oder sozialer Herkunft der Platz in der Volksschule, im Bildungssystem und später die soziale Stellung in der Gesellschaft erreicht werden soll.

Dieser Orientierungsrahmen hat wiederum Implikationen: Erstens wird das Leistungsprinzip als objektives Selektionsmoment verankert. Zweitens setzt sich die Auffassung weltweit durch, Bildung als wichtig(st)e Staatsaufgabe zu betrachten (Rosenmund 2015, 35). Dies, weil Bildung der Demokratisierung von Gesellschaften und dem friedlichen Zusammenleben in und zwischen Gesellschaften zuträglich ist. Zudem ist es in der globalisierten Welt für eine Gesellschaft ein Wettbewerbsvorteil, über eine grosse Anzahl gut ausgebildeter Arbeitskräfte zu verfügen. Damit wächst auch das Bestreben, Bildungssysteme zu vergleichen und in periodischen Berichten deren Output zu publizieren. Drittens kann mit dem Messen des Outputs der Abstand vom Ist-Zustand zum Soll-Zustand bestimmt werden. So zeigen empirische Fakten, dass auch in der Schweiz Chancengleichheit eine Illusion ist (Bourdieu u. Passeron 1971). Denn die soziale Mobilität hat über die Generationen kaum zugenommen: Jüngere Generationen (1966–1974 Geborene) konnten nicht substanziell häufiger in der Sozialstruktur der Gesellschaft aufsteigen als ältere Generationen (1912–1935 Geborene); sie sind allerdings auch nicht häufiger abgestiegen (Falcon 2012, 165). Das Bildungssystem scheint bestehende Gesellschaftsstrukturen erfolgreich zu reproduzieren.[29] Viertens rückt die Absicht des Vergleichens die Messbarkeit von Bildungserfolg unweigerlich ins Zentrum.

Die Kompetenzorientierung ist das zurzeit vorherrschende Credo, um die Anschlussfähigkeit der heranwachsenden Generation an den permanent sich verändernden Arbeitsmarkt zu garantieren sowie die Leistungsfähigkeit der Volksschule insgesamt zu gewährleisten. Ausserdem soll sie die internationale Vergleichbarkeit dieser Leistungen bewerkstelligen können sowie die Ergebnisse – den Output der Volksschule – legitimieren. Letzteres ist eng verbunden mit der Frage nach Bildungsungleichheiten, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden.

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