Kitabı oku: «Kompetenzorientierter Unterricht auf der Sekundarstufe I», sayfa 5
Der japanische Unterricht (und vergleichbarer Unterricht an südostasiatischen und osteuropäischen Standorten) gilt nach wie vor als in hohem Masse übereinstimmend mit der konstruktivistischen, kompetenzorientierten Vorstellung von gutem (Mathematik-)Unterricht. Seine Kennzeichen sind: (a) zeitintensive, gründliche Auseinandersetzung mit (b) wenigen, aber kognitiv anspruchsvollen, mehrheitlich komplexen Aufgaben mit Lebensweltbezug, die (c) (im Mathematikunterricht) häufig mit angewandten Aufgaben (und Beweisen) verbunden sind, (d) eine anspruchsvolle Bearbeitungsqualität (Beziehungen herstellen statt auswendiggelernte Prozeduren ausführen) und (e) ein hoher Anteil problemlösender Aktivität während der Schülerarbeitsphasen (z.B. Pauli u. Reusser 2006). Der aktuelle Forschungsstand weist aus, dass «ein kognitiv herausfordernder Unterricht [...] (er fördert die Leistungsentwicklung)» (Klieme, Steinert u. Hodweber 2010, 250) – zusammen mit einem unterstützenden Lehrerverhalten (Krammer 2009), das die Motivationsentwicklung begünstigt – entscheidend ist für die Leistungsentwicklung und die Lernmotivation. Auch die Metaanalyse von Seidel und Shavelson (2007) zeigt, dass für tiefes Verstehen als Ziel des Unterrichts (a) kognitiv herausfordernde, gut strukturierte Lernangebote ausschlaggebend sind, verbunden mit (b) einer lernprozessbezogenen, adaptiven Lernbegleitung und (c) einer wirksamen Klassenführung mit gutem Zeitmanagement für hohe Time-on-task-Anteile der Lernenden.
6.5 Lernaufgaben als Dreh- und Angelpunkt des kompetenzorientierten Unterrichts
Die Zeichen stehen spätestens nach PISA wohlbegründet auf Veränderung:
«Noch kaum je in der Geschichte der Volksschule haben sich die Ansprüche an Schule und hat sich die didaktische Gestalt des Unterrichts so schnell und so sichtbar verändert, wie dies aktuelle Entwicklungen in Richtung eines methodisch variablen binnendifferenzierenden, individuell förderorientierten und verstärkt personalisierten Lernens manifestieren.» (Reusser 2014b, 77)
Bei dieser «Entverselbstverständlichung» (Blumberg 1981, zit. nach: Reusser 2014b, 77) «des bis anhin selbstverständlichen Funktionierens von Schule und Unterricht» spielen Aufgaben als Aufforderung zur gezielten Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand eine zentrale Rolle. Als für das betreffende Fach bedeutsame Lernaufträge bilden sie in Form von Einstiegs-, Vertiefungs-, Übungs-, Anwendungs- und Prüfungsaufgaben als «Aktivierungs- und Gestaltungsmittel das Rückgrat» von (fach-)didaktischen Lernarrangements und eines schüleraktivierenden Unterrichts. Mit dem kompetenzorientierten Unterricht
«sind wir bei jenem Punkt angelangt, bei dem die Funktion und Qualität von Aufgaben und ihrer angeleiteten und selbstständigen Bearbeitung in Hinsicht auf den mit heterogenen Lerngruppen zu erreichenden Bildungsauftrags hervortreten: als Lernaufgaben im Dienste des Aufbaus und der Förderung fachlicher und überfachlicher Kompetenzen in allen Inhaltsbereichen und als in Tests eingebetteten Leistungsaufgaben, die der Überprüfung von Bildungsstandards bzw. der Evaluation der Zielerreichung (ob die erwünschten Kompetenzen erworben wurden, M. B.) dienen». (Ebd., 79)
Im oben dargestellten Sinn sind Lernaufgaben Aufforderungen zur gezielten kognitiv und motivational/emotional (eigen-)aktiven (und kooperativen) Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand mit dem Ziel, Kompetenzen zu erwerben.
Die erwähnten TIMSS Video Studies machten international bereits Jahre vor PISA Forschungskreise auf schockierende Defizite aufmerksam, auch – aber nicht nur – im deutschsprachigen Raum (Reusser u. Pauli 2003). Von nicht weniger als 15000 (!) untersuchten Aufgaben aus 700 videografierten Mathematikstunden entfielen mit Ausnahme von Japan 66 Prozent auf blosses «Using Procedures», 12 Prozent auf «Stating Concepts» und 22 Prozent auf «Making Connections», der anspruchsvollsten der drei Kategorien, bei der es um sachlogisch richtige In-Beziehung-Setzungen geht, was tiefes Verstehen und richtiges Anwenden von Wissen erfordert. Der Anteil solcher Aufgaben ist im japanischen Unterricht mit 54 Prozent wesentlich höher! Ebenfalls zugunsten Japans mit nur 17 Prozent macht der Anteil repetitiver Übungsaufgaben in der unterrichtlichen Stillarbeit dagegen 83 Prozent aus. «Die Diskussion entbrannte, was von einer mathematikdidaktischen Aufgaben(bearbeitungs)kultur zu halten ist, in der zum grossen Teil repetitive Aufgaben auf niedrigsten Komplexitätsstufen gelöst werden» (Reusser 2014b, 81). Dies und weitere Gründe (vgl. ebd.) haben dazu geführt, dass qualitativ gute Lernaufgaben der gegenwärtig prominenteste, weit über den Mathematikunterricht hinausreichende Gegenstand der fachdidaktischen Unterrichtsentwicklung sind. Reusser bringt dies wie folgt zum Ausdruck (ebd.):
«Attraktive – inhaltlich und methodisch durchdachte – fachliche Probleme und Lernaufgaben, seien es Einstiegs-, Vertiefungs-, Übungs- oder Testaufgaben, bilden das Rückgrat eines schüleraktivierenden Unterrichts – als Quellen der Motivation und Ausgangspunkt für Schülerinnen und Schüler, sich auf Gegenstände einzulassen und dabei fachliche und überfachliche Kompetenzen auszubilden.»
Gute Lernaufgaben nach Reusser (2013, 2014b, 81) …
•repräsentieren fachliche Kernideen und erfordern zu ihrer Bearbeitung fachspezifische Kompetenzen,
•eröffnen Zugänge zur Erfahrung und Übung fachspezifischer Strukturen, Standards und Denkformen und regen Lernprozesse an, die in die Tiefe des Wissens und Denkens eines Faches gehen,
•wecken Neugier und motivieren, sich auf einen Gegenstand einzulassen (durch Handlungs- und Alltagsnähe, Anschaulichkeit, Authentizität, Spielcharakter, Überraschungsmomente, kognitiven Konflikt),
•sind in Lernumgebungen eingebettet und funktional auf Kompetenzziele und curriculare Inhalte ausgerichtet bzw. bezogen,
•laden ein zu tiefem Verstehen und Problemlösen und zum Austausch darüber,
•erlauben multiple Zugänge, Denk- und Lernwege und lassen sich auf unterschiedlichen Niveaus lösen,
•sind lerngruppengerecht, haben Differenzierungseigenschaften und eignen sich gleichermassen für schwächere und starke Schülerinnen und Schüler,
•ermöglichen schüleraktives (individuelles und kooperatives) Lernen und trainieren damit fachliche und überfachliche (soziale, methodische, personale) Kompetenzen,
•ermöglichen den Austausch von Ergebnissen, das Vergleichen, Strukturieren, In-Beziehung-Setzen und Einordnen von Ideen und Konzepten, einschliesslich variable Formen des Festhaltens und der Dokumentation von Erkenntnissen,
•lassen Raum für Mitbestimmung und Mitgestaltung bei Lerninhalten und Lernwegen (enge, halboffene und offene Aufgabenstellungen).
Darauf hinzuweisen ist, dass selbstverständlich nicht jede Lernaufgabe alle genannten Merkmale erfüllen kann und muss, einige der Merkmale so anspruchsvoll sind, «dass sie ihr Potenzial vor allem in den höheren Stufen der Bildungsgänge entfalten dürften» (ebd., 82), und dass «die angestrebten Kompetenzniveaus über die Elementarstufen des reproduktiven und des rezepthaften Könnens hinausgehen sollen; nicht Auswendiglernen, nicht das mechanische Abarbeiten von Aufgabenserien nach dem gleichen Schema ist das Ziel, sondern sich kognitiv und emotional engagiert auf die Gegenstände einlassen, nachdenklich werden, Dinge verstehen und in sie eindringen wollen» (ebd.).
6.6 Adaptivität: Wissen und Können auf unterschiedlichen Niveaus
«Kompetenz gibt es», wie dargestellt, «auf verschiedenen Stufen» (Ziegler, Stern u. Neubauer 2012, 14). Unterschiedliche Anspruchsniveaus liegen als wegleitende Idee bereits der «Taxonomie von Lernzielen» zugrunde, die der amerikanische Erziehungswissenschaftler Benjamin Bloom (1913–1999) 1956 vorlegte (Bloom et al. 1956). Zwar spricht er von Lernzielstufen, der Schritt hin zu Kompetenzstufen ist aus heutiger Sicht jedoch naheliegend. In aufsteigender Ordnung unterschied er (1) einfaches Erinnern und Können, (2) Verstehen, (3) Anwenden, (4) Analysieren, (5) Urteilen und (6) Entwickeln. Reusser (2014a, 329–330) entwickelt Blooms Taxonomie zu einem brauchbaren Instrument für Lernaufgaben für den kompetenzorientierten Unterricht weiter (und illustriert Blooms Idee am Beispiel des Epochenbegriffs «Weimarer Republik»). «Verallgemeinernd sind es folgende kognitive Tätigkeiten und Operationen niedrigerer und höherer Ordnung, die sich im Unterricht der meisten Fächer beobachten lassen und an deren Vorkommen und Verteilung man ablesen kann, auf welchem Kompetenzniveau sich das geistige Leben in einer Lerngruppe abspielt bzw. durch welches Niveau von Lerngelegenheiten sich eine fachdidaktische Aufgabenkultur auszeichnet» (ebd., 329):
Einfaches Kennen und Können: Die Lernenden können Informationen abrufen und wiedergeben.
•Wiedererkennen, Identifizieren, Abschreiben, Kopieren
•Benennen, Abrufen, (wörtliches) Wiedergeben, Aufzählen von Fakten, Formeln, Definitionen
•Ausführen von elementaren Automatismen, Prozeduren, Fertigkeiten
•Auffinden von Informationen im Internet
Verständnis im engeren Sinn: Die Lernenden verstehen eine Sache, wenn sie ihre Bedeutung rekonstruieren können.
•Sich ein inneres Vorstellungsbild einer Situation machen
•Eine Sache, einen Zusammenhang in eigenen Worten ausdrücken, paraphrasieren einordnen, zusammenfassen, auf den Punkt bringen
•Erklären: jemand anderem, sich selbst (Selbsterklärung)
•Exemplifizieren, Erläutern an Beispielen, modellhaftes Darstellen
Anwendung: Die Lernenden können das erworbene Wissen in einer gegenüber der Lernsituation neuen, veränderten Situation anwenden.
•Informationen zur Lösung von Problemen nutzen, Wissen in einen neuen Zusammenhang einbauen, Fertigkeiten in veränderten (praktischen) Situationen anwenden
•Verknüpfungen und Beziehungen erkennen
•Situationsgerechtes Transformieren, Anpassen von Wissen und Fertigkeiten an neue Anforderungen
•Mit dem Wissen argumentieren, diskutieren
Analyse: Die Lernenden können das, was sie wissen, in seine Elemente und Beziehungen zerlegen und tiefer analysieren.
•Struktur zerlegen um im Einzelnen darlegen, Verarbeitungstiefe suchen
•Zu den Elementen, den logischen und semantischen Beziehungen eines Begriffs/eines Zusammenhangs vorstossen
•Unter verschiedenen Gesichtspunkten, Perspektiven einen Sachverhalt in seiner Struktur durchschauen
•Eine Struktur vergleichend mit einer anderen Struktur betrachten
Evaluation, Urteil, Synthese: Die Lernenden können Situationen reflektieren, beurteilen und kritisch prüfen.
•Gedanklich oder real experimentierend eine Sache prüfen, sich ein Urteil bilden
•Situationen vor dem Hintergrund von Normen und Wertgesichtspunkten prüfen, beurteilen, infrage stellen
•Positionen vergleichend darstellen, kritisieren oder verteidigen
•Sachverhalte abwägen, kriteriengeleitet und perspektivenbezogen erörtern
Entwicklung: Die Lernenden entwickeln neue Ideen, neues Wissen und darauf aufbauende Techniken und Produkte.
•Planen, Entwerfen, Entwickeln, Erfinden, Konstruieren
•Design von Produkten aus der kreativen Kombination von Dingen und Ideen
•Nutzung von Einsichten zur Herstellung neuer gedanklicher Strukturen
•Gestalten, Weiterentwickeln von Techniken, Abläufen und Produkten
Den dank unterschiedlich herausfordernden Lernaufgaben adaptiven Unterricht (Beck et al. 2008; Brühwiler 2014), der aus heutiger Sicht zudem auf den Erwerb von Kompetenzen ausgerichtet ist, beurteilten Helmke und Weinert schon im Jahre 1997 als zukunftsträchtig:
«Das gleichermassen variable wie flexible Modell des adaptiven Unterrichts ist gegenwärtig das wissenschaftlich fundierteste und didaktisch aussichtsreichste unterrichtliche Konzept, um auf die grossen und stabilen interindividuellen Unterschiede der Schüler in didaktisch angemessener Form zu reagieren.» (Helmke u. Weinert 1997, 137)
7 Kognitiv-(sozial-)konstruktivistisches Verständnis von Lehren und Lernen im kompetenzorientierten Unterricht
Der adaptive, kompetenzorientierte Unterricht beruht auf dem heutigen kognitiv-(sozial-)konstruktivistischen (auch ko-konstruktivistischen) Verständnis von Lernen und Lehren, wie nachfolgend dargestellt wird.
Dass dem Erwerb von Wissen und Können konstruktive Prozesse zugrunde liegen, geht zurück auf die Erkenntnistheorie von Immanuel Kant (1724–1804) und auf Piagets genetischen Konstruktivismus als entwicklungspsychologische Weiterentwicklung von Kants Erkenntnistheorie. In die weitere Entwicklung bis zum heutigen kognitiv-(sozial-)konstruktivistischen Verständnis geht die soziokulturelle Theorie des russischen Psychologen Lew Semionowitsch Wygotski (1896–1934) ein. Der Aspekt des Sozialen und Kulturellen ist für Wygotski beim Lernen zentral; Lernen findet immer in einem soziokulturellen Kontext statt, das heisst unterstützt durch andere, die mehr wissen und können als der Lernende. Sein Begriff «Zone der proximalen (= nächsten) Entwicklung» bezeichnet «die Distanz zwischen dem aktuellen Niveau der Entwicklung, das sich in der Fähigkeit manifestiert, selbstständig Probleme zu lösen, und dem Niveau potenzieller Entwicklung, das durch die Fähigkeit bestimmt ist, Probleme unter der Anleitung eines Erwachsenen oder in Zusammenarbeit mit einem Mitschüler zu lösen» (Vygotsky 1978, 86).
In der Kritik der reinen Vernunft (1787) fragt Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens (der Welt) durch den Menschen, mithin noch den beim Subjekt vorliegenden Voraussetzungen für Erkenntnis. Nach Kant ordnet der Mensch die Erfahrung der Welt, die er mit den Sinnen erfährt, spontan nach angeborenen Kategorien und Anschauungsformen, den «a priori». Indem diese die sinnlichen Eindrücke nach ihnen innewohnender Art spontan ordnen, «konstruieren» wir unsere Erkenntnis von der Welt. Erkennbar ist dies beispielsweise bei optischen Täuschungen. Was vor den Augen steht, ist nicht dasselbe, wie was tatsächlich wahrgenommen wird. Der «rohe Stoff der sinnlichen Erfahrung» wird durch das «System aller Prinzipien der reinen Vernunft» in eine spontan entstehende Ordnung gebracht, was Kant wie folgt zum Ausdruck bringt:
«[…] so gibt die Vernunft nicht demjenigen Grund, der empirisch gegeben ist, nach […], sondern macht mit völliger Spontaneität[22] eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hineinpasst […].» (Kant 1787, Kapitel 109)
Dies bedeutet, weiter ausgeführt:
«Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung [d.h. mit dem rohen Stoff sinnlicher Eindrücke; M. B.] anfange, daran ist gar kein Zweifel […]. Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an […]. Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum noch nicht eben aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, dass selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen [durch sinnliche Eindrücke bloss veranlasst; M. B.] aus sich selbst hergibt.» (Kant 1787, Kapitel 6)
Mit heutiger Sprache gesprochen: Die Bedeutung, die den in den Sinneskanälen einkommenden Daten zugeordnet wird, ist nicht an sich gegeben, sondern wird von der wahrnehmenden Person in Abhängigkeit von ihren kognitiven und wissensmässigen Voraussetzungen festgelegt. So etwa sieht ein Experte in einem Gegenstand mehr, anderes, Differenzierteres, Tieferes, Präziseres. Mit Kant gesprochen: «Wir erkennen von den Dingen a priori nur das, was wir selbst in sie hineingelegt haben» (Kant 1787, Prolegomena). In der Folge ist jeder nachfolgende Wissensaufbau, der auf den eigenaktiv von der Person konstruierten Bedeutungen basiert, ein weiterer eigenaktiver Konstruktionsprozess. Zum Wissen wird die Erkenntnis, wenn sie unabhängig vom erkennenden Subjekt gültig ist.
Kants Erkenntnistheorie aufnehmend, zeigte Piaget in seiner als genetischer Konstruktivismus bezeichneten Theorie auf, wie die Wissens- und Handlungsstrukturen des Menschen das Ergebnis eines vom Individuum selber ausgeführten, zunehmend verinnerlichten und systematisierenden kognitiven Prozesses sind. Entwicklungspsychologisch gesehen, beginnt dieser mit den angeborenen Reflexen (analog zu Kants angeborenen a priori) und entwickelt sich über das präoperationale, das sensomotorische und das konkret-operatorische zum formal-operatorischen Denken des jungen Erwachsenen (Piaget 1973; 1974a; 1974b). Erworbene Begriffe, Konzepte, Theorien, Auffassungen und mentale Vorstellungen werden zu Instrumenten des Denkens, die analog zu Kants a priori die Erfahrung der Welt ordnen.
Wissen wird durch Assimilation erworben – denjenigen Prozess, durch welchen jeder Mensch die Gegebenheiten der Welt mental nachbaut und neue Wissens- und Handlungsstrukturen in seine schon bestehenden Wissens- und Handlungsstrukturen integriert. Gelingt die Assimilation nicht, weil die passenden Assimilationsschemata (das Wissen und Können) fehlen, ist deren Akkommodation erforderlich, die Anpassung vorhandener Wissens- und Handlungsstrukturen an die Erfordernisse, welche die zu assimilierende Gegebenheit der Welt an das assimilierende Subjekt stellt. Durch die Akkommodation werden neue Assimilationsschemata verfügbar als Voraussetzung für Assimilation. Äquilibration (Gleichgewicht) zwischen Assimilation und Akkommodation besteht immer dann, wenn es gelingt, die Gegebenheiten der Welt mit den verfügbaren Wissens- und Handlungsschemata zu erfassen. Gelingt dies nicht, besteht ein Disäquilibrium, und dieses Ungleichgewicht ist als kognitiver Konflikt für das Subjekt Anlass, vorhandene Wissens- und Handlungsstrukturen so zu verändern (und damit zu lernen), dass die Gegebenheit der Welt assimilierbar wird (Piaget 1973; 1974a; 1974b).
Dass jeder sein Weltbild aufbauen – (nach-)konstruieren – muss, meint zusammenfassend also, dass die Bedeutung, die den über die Sinneskanäle einkommenden Daten zugeordnet wird, nicht an sich gegeben ist, sondern von der wahrnehmenden Person in Abhängigkeit von ihren kognitiven (auf Vorkenntnissen beruhenden) Voraussetzungen konstruiert wird und dass jeder weitere Erkenntniserwerb ein weiterer aktiver Konstruktionsprozess ist. Selbst radikale Konstruktivisten wie z.B. von Glasersfeld (1996) und Maturana und Varela (1987) stellen nicht in Abrede – wie oft unterstellt wird –, dass es eine «objektive Realität» gebe, weil jeder sein eigenes, subjektives Weltbild aufbaut. 2+2 sind (im dekadischen System) für alle = 4 und nicht = 5. Lernen setzt vielmehr bei jedem Individuum mentale Aktivitäten voraus, durch welche es seine (neuen) Wissens- und Handlungsstrukturen aufbaut bzw. bestehende differenziert und präzisiert (Renkl 2008, 109–153). Jeder, der lernt, muss den Lerngegenstand individuell (= eigenaktiv) mental erfassen, dessen «Sachverhältnisse» für sich nach-konstruieren (Piagets «mise en relation»), um ihn assimilieren zu können. So muss beispielsweise jede/r selber in-Beziehung-setzend nachvollziehen, dass und warum 2+2 nicht = 5 sind, sondern = 4. Hans Aebli (1923–1990), ursprünglich Zürcher Volksschullehrer und Schüler Piagets, hat diesen Gedanken in seiner als Dissertation bei Piaget entstandenen psychologischen Didaktik als einer der Ersten für den Unterricht didaktisch nutzbar gemacht (Aebli 1951; z.B. Baer et al. 2006).
Nach den Angebots-Nutzungs-Modellen des Unterrichts (Fend 1981; Helmke 2012, 71; Reusser u. Pauli 2010, 18) geht es im Unterricht darum, Lernangebote bereitzustellen, welche die Lernenden kognitiv und motivational-emotional je (möglichst) günstig herausfordern, damit sie alle entsprechend ihren heterogenen Voraussetzungen individuell die erforderlichen mentalen Prozesse vollziehen und so das Lernangebot nutzen können. Je adaptiver das Angebot ist, desto besser ist der individuelle Lernerfolg (Beck et al. 2008; Rogalla u. Vogt 2008; Brühwiler 2014). Für den motivational-emotionalen Aspekt des Lernangebots gilt, dass Lernende das Angebot auch nützen wollen müssen: Lernen setzt die Bereitschaft voraus, sich auf das Lernangebot einzulassen. Oft vorerst volitional veranlasst («Ich will mich mit der Sache auseinandersetzen.»), wird es motivational-emotional in der Regel zunehmend einfacher, (weiter-) zu lernen.
Wie eigenständig oder wie angeleitet das Lernen erfolgt und damit wie ausgeprägt seine (fach-)didaktische Steuerung durch die Lehrperson ist, kann variieren. Bei einem Lehrervortrag oder einem Unterrichtsgespräch etwa ist die Steuerung der Lehrperson gross. Sollen Lernende dagegen fähig werden, (möglichst) eigenständig zu lernen, müssen sie Gelegenheit haben, nicht nur eigenaktiv die mentalen Konstruktionsprozesse zu vollziehen, sondern sich auch selber zu ihrem Vollzug anzuleiten, das heisst, das eigene Lernen (weitgehend) selber zu steuern. Sicher ist, dass die Steuerung des eigenen Lernens nicht einfach den Schülerinnen und Schülern überlassen werden kann. Gerade schwächere Lernende wären rasch und mit erheblichem Nachteil für ihren Lernerfolg überfordert.
Wie eigenständiges Lernen, wie der Erwerb von metakognitivem Wissen als Voraussetzung dafür – ohne Einbusse beim fachlichen Lernen – im Unterricht gefördert werden kann, wurde in einem Nationalfondsprojekt der Pädagogischen Hochschule St. Gallen bereits vor geraumer Zeit praxisnah untersucht (z.B. Beck, Guldimann u. Zutavern 1991). Ziel des kompetenzorientierten Unterrichts nach Lehrplan 21 ist es, vom vorherrschenden lehrerzentrierten, fragend-entwickelnden Klassenunterricht wegzukommen; hin zum adaptiven, problemlösenden, lernprozessbezogenen eigenständigen oder eigenständig-kooperativen und damit schülerzentrierten Unterricht, durch den Kompetenzen erworben werden. Da Lernen kognitive Eigentätigkeit erfordert, will der kompetenzorientierte Unterricht sowohl die Verantwortung der Lernenden für ihr Lernen (ihre Nutzung des Lernangebots) als auch die Fähigkeit für kooperatives Lernen fördern bzw. stärken. Darum sollen gemäss Lehrplan 21 die Lernenden auch überfachlich kompetent werden. Wie dies alles auf wissenschaftlicher Grundlage praxistauglich und mit guter Unterrichtsqualität gestaltbar ist, wird in einem aktuellen Nationalfondsprojekt untersucht (Baer et al. 2014).
Die nach PISA intensivierte internationale Unterrichtsforschung zeigt, dass die Oberflächenstruktur des Unterrichts (angeleitetes oder eigenständiges Lernen) nicht der zentrale Punkt ist. Wesentlich ist, ob im Unterricht individuell die tiefenstrukturellen Konstruktionsprozesse vollzogen werden (können). Ermöglichen kann dies zwar auch ein guter Lehrervortrag als Beispiel für (stark) angeleitetes Lernen. Wird im Unterricht aber nicht auch die Eigenständigkeit beim Lernen gefördert, bleiben die Lernenden abhängig von einer Lehrperson, was auf Dauer nicht das Ziel sein kann – daher die Notwendigkeit des individuellen Aufbaus «von überfachlichen, transversalen (methodischen, sozialen, personalen) Kompetenzen» (Reusser 2014b, 86).
Es besteht kein Entweder-oder. Lernen erfolgt nie vollständig eigenständig, und es kann sein, dass erst die zum richtigen Zeitpunkt erfolgte Erklärung (die Instruktion) der Lehrperson hilft, damit (schwächere) Schülerinnen und Schüler verstehen oder Wissen erfolgreich nützen können. Ebenso wichtig – und längerfristig gesehen wichtiger – ist, dass die Lernenden zunehmend unabhängig von einer Lehrperson zu lernen vermögen (eigenständiges Lernen), nicht zuletzt in emotional-motivationaler und volitionaler Hinsicht. Während es Piaget um die autonome individuelle Konstruktion von Wissens- und Handlungsstrukturen geht, betont Wygotski die gemeinsame soziokulturelle Konstruktion. Misst Ersterer dem sozialen und kulturellen Einfluss auf die kognitive Entwicklung – der Anleitung zum Lernen durch eine Lehrperson etwa – kaum Bedeutung bei, ist dieser Einfluss – und damit die Anleitung und die Kooperation mit anderen, Erfahreneren, Wissenderen (wozu auch Lehrpersonen gehören) – bei Wygotski so gross wie nötig (scaffolding) und nimmt zunehmend ab. Der sozialkulturelle Faktor ist – wie es Reusser ausdrückt – bei Piaget Stimulans bzw. Katalysator der kognitiven Entwicklung, bei Wygotski (und Aebli) dagegen ihr Taktgeber.
Betont Piaget die Selbstentfaltung, die eigenständige und von seinem Inneren her bestimmte Entwicklung des Kindes (eigenständiges Lernen), sieht Wygotski in der ontogenetischen Entwicklung das gemeinsame Werk von Kind, Erwachsenem (angeleitetes Lernen) und anderen Kindern/Jugendlichen (kooperatives Lernen). Beides ist stets geprägt von den jeweiligen soziokulturellen Umständen. Nach Piagets kognitiv-konstruktivistischem Lehr- und Lernverständnis erwirbt das Kind kognitive Strukturen (Begriffe, Wissen, Handlungen, Denkweisen) eigenständig und/oder kreiert sie selbsttätig. Wygotski und die heutigen Protagonisten des sozial-konstruktivistischen (ko-konstruktiven) Lehr- und Lernverständnisses vertreten demgegenüber die Auffassung, dass nahezu alle kognitiven Strukturen und Fähigkeiten aus soziokulturellen Umständen hervorgehen, das heisst, ursprünglich in Interaktion mit anderen (kompetenteren) Personen erworben und dann internalisiert wurden. Die kognitive Entwicklung verläuft danach vom Inter- (dem gemeinsamen Anliegen von Lehrperson und Schüler/in bzw. von Lernpartnern) zum Intramentalen (und damit eigenen mentalen Angelegenheit).
So gilt es, im kompetenzorientierten Unterricht sowohl angeleitetes als auch eigenständiges Lernen zu ermöglichen und dabei der Heterogenität der Lernenden mit kognitiv aktivierenden Lernaufgaben, die problemlösend bearbeitet werden, adaptiv Rechnung zu tragen. Zunehmend tritt das angeleitete zugunsten des eigenständigen bzw. eigenständig-kooperativen Lernens zurück (fading). Denn das Ziel sind Lernende, die kompetent sind, in einer demokratischen Gesellschaft eigenständig und/oder in Kooperation mit anderen die Herausforderungen des (Schul- und Berufs-)Lebens erfolgreich und verantwortlich zu bewältigen und somit teilhaben, mitwirken und mitgestalten können.
Weiterdenken
•Was kennzeichnet professionelles Handeln?
•Wie lässt sich der Begriff «Kompetenz» beschreiben?
•Inwiefern spiegelt sich der Begriff «Kompetenz» im Lehrplan 21 und in seinen drei Zyklen?
•Was heisst es, kompetenzorientiert zu unterrichten? Auf welche Punkte kommt es an, wenn Schülerinnen und Schüler durch den Unterricht Kompetenzen erwerben können sollen?
•Was sind gute Lernaufgaben? Illustrieren Sie eine gute Lernaufgabe mit einem Beispiel.
•Was wird unter ko-konstruktivistischem Lehr- und Lernverständnis verstanden, und was bedeutet dieses Lehr- und Lernverständnis für das Unterrichten?