Kitabı oku: «Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext», sayfa 5

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1 Begriffsübersicht

Diese chronologisch angelegte Übersicht ermöglicht einen Einblick in die Beständigkeit verschiedener Beschreibungstopoi, wie zum Beispiel dem der legitimen Anerkennung und der Unbekanntheit, bzw. dem der fehlenden Sichtbarkeit, die sich seit den ersten Benennungsinitiativen am Anfang des 20. Jahrhunderts etablieren.

Littératures à rayonnement limité – weniger verbreitete Literaturen

Paul van TieghemTieghem, Paul van, der erste Historiker der französischen Komparatistik, spricht bereits in seinem 1931 erstmals veröffentlichten Band La littérature comparée von littératures à rayonnement limité, also von weniger verbreiteten Literaturen. Bezeichnend für die erste Phase der Schule der französischen Komparatistik war der Fokus auf internationale und vergleichende Literaturgeschichtsschreibung. In seinem Buch plädiert van Tieghem für die gleichwertige Anerkennung weniger verbreiteter Literaturen, wenn er fordert, dass die vergleichende Literaturhistoriographie ihnen ihren gleichmäßigen Platz einräumen soll. Anstatt sie in Kurznotizen oder in Addenda-Kapiteln auszulagern, sollte der Beitrag kleiner Literaturen in der allgemeinen Entwicklung der Literatur hervorgehoben werden, indem man sie und ihre wichtigsten Vertreter konkret mit den großen modernen Literaturen in Zusammenhang bringt (Van Tieghem [1931] 1946: 205–206). Ein ähnlich inklusiver Ansatz wurde schon von Hugó von MeltzlMeltzl, Hugo von verfolgt, der zwischen 1877 und 1888 das erste komparatistische Journal Acta Comparationis Litterarum Universarum (kurz ACTA) in Cluj herausgegeben hat. Meltzls Grundidee war darauf ausgerichtet, das komparatistische Prinzip für Goethes kosmopolitische Konzeption von Weltliteratur fruchtbar zu machen und es so von den reduzierenden und nationalistischen Auffassungen, denen es in diesem Zeitalter nationaler Literaturgeschichtsschreibung unterworfen war, zu emanzipieren (DamroschDamrosch, David 2008: 48). Meltzl war sich der Konsequenzen, die der Machtkampf zwischen Europas führenden Literaturen für die Sichtbarkeit kleiner Literaturen hatte, bewusst und sah in der Vergleichenden Literaturwissenschaft ein geeignetes Mittel, diese auf der internationalen Ebene zu fördern. So schreibt er in der ersten Ausgabe der ACTA:

Our secret motto is: nationality as individuality of a people should be regarded as sacred and inviolable. Therefore, a people, be it ever so insignificant politically, is and will remain, from the standpoint of comparative literature, as important as the largest nation. The most unsophisticated language may offer us most precious and informative subjects for comparative philology. (Meltzl [1877] 2009: 45)

Die Gleichstellung der Literaturen der Welt, wie sie hier gefordert wird, spiegelt sich in der ACTA in der Nebeneinanderstellung von Essays und Volksliedern auf Armenisch, Gälisch und Aztekisch mit Texten aus den damals dominierenden Literatursprachen wider.

Wie in Meltzls Ausführungen dargestellt wird, ist der Topos der Unbekanntheit kleiner Literaturen, welcher sozioliterarisch betrachtet ein literatursystemisches und weltliterarisches Problem ist, nicht zuletzt dem Bekanntheitsgrad der jeweiligen Literatursprachen geschuldet, wie es die Formulierung ,literatures in lesser known languages‘ festhält. Letztere verdeutlicht die Korrelation zwischen dem Status und dem Bekanntheitsgrad der Sprachen und folglich der limitierten Sichtbarkeit von Literaturen in diesen Sprachen. Um zu veranschaulichen, wie die Verbreitung von Sprache und Literatur zusammenhängt, kann auf Abram de SwaansSwaan, Abram de Words of the World. The global language system (2001), eine linguistische Untersuchung zum ökonomischen Wert der Sprachen, hingewiesen werden. De SwaanSwaan, Abram de unterteilt die Sprachen der Welt in eine vierstufige Hierarchie und ordnet sie in den Kategorien ‚hyperzentrale‘, ‚superzentrale‘, ‚zentrale‘ und ‚periphere‘ Sprachen an. Als hyperzentrale Sprache identifiziert er das Englische, zu den superzentralen Sprachen zählen Arabisch, Chinesisch, Französisch, Deutsch, Hindi, Japanisch, Malaiisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Swahili und Türkisch. Über die etwa 100 zentralen Sprachen schreibt de Swaan, dass sie von 95 % der Weltbevölkerung gesprochen werden und allgemein in Bildungseinrichtungen, den Medien und der Verwaltung verwendet werden. Zudem handele es sich um die ‚nationalen‘ Sprachen unabhängiger Staaten. Als periphere Sprachen gelten 98 % aller Sprachen der Welt, die von weniger als 10 % der Weltbevölkerung gesprochen werden. Im Gegensatz zu den zentralen Sprachen sind periphere Sprachen als Sprech- und Erzählsprachen, nicht aber als Lese- und Schriftsprachen, als Gedächtnis- und Erinnerungssprachen, nicht aber als Aufzeichnungssprachen zu verstehen (De Swaan 2001: 4–6). Das von de Swaan angewandte Zentrum-Peripherie-Paradigma und die in ihm implizierten Dominanzstrukturen spielt, wie wir noch sehen werden, für die Untersuchungen zu der Verortung kleiner Literaturen in der Weltliteratur eine führende Rolle.

Littérature mineure – minor literature – ‚kleine Literatur‘

Der von Gilles DeleuzeDeleuze, Gilles und Félix GuattariGuattari, Félix geprägte Begriff der ‚littérature mineure‘ ist sowohl das bekannteste als auch das problematischste Konzept für die Erforschung kleiner Literaturen. In ihrem ‚landmark essay‘ (GrutmanGrutman, Rainier 2016: 171) Kafka. Pour une littérature mineure (1975) wird es konzeptualisiert und drei Charakteristika werden festgehalten. Ausgehend von Kafkas Überlegungen zu der Literatur kleiner Nationen definieren Deleuze und Guattari als ,littérature mineure‘ Literatur, die von einer Minderheit in einer großen (hyperzentralen, superzentralen) Sprache verfasst ist (Deleuze/Guattari 1975: 29). Ihre Auffassung begreift daher nicht prinzipiell Literaturen in kleinen (peripheren) Sprachen. Als Erkennungsmerkmale halten sie die Deterritorialisierung der großen Sprache, die Verzweigung individueller mit politischen Angelegenheiten und den Kollektivcharakter der Aussagen fest (ebd.: 29–33).

Die Wirkung des Begriffs in der Ausprägung durch die beiden französischen Philosophen ist, wie man weiß, beachtlich und hat die Herangehensweise an kleine Literaturen nachhaltig geprägt. Jede Anstrengung in Richtung einer Neukonzeptualisierung des Begriffs muss sich an ihren festgefahrenen Prämissen abarbeiten. Hervorragende Arbeit in diesem Sinne wurde bereits von Pascale CasanovaCasanova, Pascale (1997), Lise GauvinGauvin, Lise (2003) und Charles SabatosSabatos, Charles (2013) geleistet. Weiter unten will ich dagegen näher auf die Probleme eingehen, die sich aus der Anwendung des Begriffs ergeben.

Interregionale Literaturen / contact literatures

Der Begriff der Interregionalität wird Ende der 1980er Jahre von Johann StrutzStrutz, Johann entwickelt, um die spezifische sprachliche und kulturräumliche Situation der literarischen Kultur im Alpen-Adria-Raum zu beschreiben. Der Begriff erlaubt es, auf die konkreten vielschichtigen Interferenzen und Inkongruenzen zwischen den sprachkulturellen und politischen Zusammenhängen der Literatur(en) dieser spezifischen Region hinzuweisen (Strutz 1988: 201) und diese sowohl unterhalb (auf der Ebene der Region) als auch oberhalb der Nationalliteratur zu analysieren, ein Ansatz, der auch in dem von Andreas LebenLeben, Andreas geleiteten Forschungsprojekt zu ,überregionalen Interaktionsräumen‘ weiterentwickelt wurde.1 Im Mittelpunkt von Strutz’Strutz, Johann Untersuchungen stehen nicht Dominanzverfahren oder Fragen der internationalen Verbreitung, sondern Überlegungen zur Ausprägung von Interkulturalität und Mehrsprachigkeit. Beide Phänomene haben in der Erforschung großer, dominanter literarischer Kulturen seit einiger Zeit Hochkonjunktur und gehen hier auf das Aufkommen postkolonialer Literatur und Migrationsliteratur zurück. Strutz’Strutz, Johann Arbeiten unterstreichen dagegen, dass Verfahren der Interkulturalität und der Mehrsprachigkeit für kleine Literaturen immer schon relevant waren und es auch verstärkt noch immer sind.

Ähnlich regional wie StrutzStrutz, Johann verfährt auch der niederländische Komparatist Geert LernoutLernout, Geert, wenn er in Bezug auf kleine Literaturen von ,contact cultures‘ spricht. Bei Lernout wird der Einfluss anderer, großer Literaturen positiv gewendet:

The Low Countries, like the Alsace, Switzerland or Luxembourg, have always been ‘contact-cultures’, smaller cultural regions where often two or more national or linguistic cultures rub against each other. In that sense the cultural traditions in these regions have tended to be particularly open to other influences […]. (LernoutLernout, Geert 2014: 410)

Außerdem versteht LernoutLernout, Geert die Verarbeitung fremdliterarischer Einflüsse, wegen der kreativen Rezeption, die daraus erfolgt, nicht als einen Mangel an eigener Originalität oder Kreativität, sondern als Resultat literarischer und kultureller Vernetzungen in kleinen Literaturräumen:

In a small culture, it is difficult if not impossible to read the national literature without reference to its wider international artistic context, and writers in small countries themselves very often define their own poetics in terms of foreign influences. (ebd.: 417)

Dieses Selbstverständnis der kreativen Prozesse innerhalb kleiner Literaturen widersetzt sich der vor allem in der Weltliteratur lange anhaltenden Annahme, dass kleine Literaturen sich lediglich ‚reaktiv‘ zu den in den Zentren hervorgebrachten Neuerungen und Moden verhalten, selbst aber nur sehr wenig generatives Potential besäßen (Damrosch 2006: 214; D’haen 2012: 153).

Littératures de l’exiguïté – Literaturen der Kleinheit

Der Begriff wird 1992 von dem frankokanadischen Literaturwissenschaftler François ParéParé, François in seiner Studie Les littératures de l’exiguïté vorgeschlagen. ParésParé, François Begriff ist sehr weit angelegt und umfasst minoritäre Literaturen (wie die Literaturen verschiedener ethnischer Gemeinschaften Kanadas), koloniale Literaturen, Inselliteraturen und kleine nationale Literaturen. ParéParé, François hält für diese Literaturen fest, dass sie wenig verbreitet sind und dass ihr internationaler Stellenwert sich proportional umgekehrt zu dem Ansehen, das diese Literaturen in ihren Gesellschaften haben, verhält (GauvinGauvin, Lise 2003: 34). Relevant für Parés Studie ist, dass sie auf das literaturtheoretische Potential, das die Erforschung kleiner Literaturen bietet, verweist, besonders was das Hinterfragen von den aus den großen Literaturen abgeleiteten ästhetischen und literaturhistorischen Normativitäten anbelangt (Major 2001: 9).

Ultraminor literatures

In der neueren und vor allem in der systemisch angelegten Weltliteraturforschung wird auf eine terminologische Differenzierung zwischen groß/klein bzw. major/minor zurückgegriffen, um der Dynamik, dem Austausch und dem Wandel in dem in Zentren und Peripherien aufgeteilten Weltliteratursystem Rechnung zu tragen. Die Bezeichnung ‚kleine Literatur‘ findet hier eine breite, undifferenzierte Anwendung und wird sowohl für ,minority-group writing‘ als auch für die Literatur kleiner Länder verwendet (Damrosch 2009: 194). Des Weiteren gebrauchen die Forscher das Begriffspaar ,major/minor‘ in perspektivischer Sicht, was sich besonders gut am nordamerikanischen Kontext beobachten lässt. Mit ‚minor literatures‘ können hier folglich auch „works from languages and regions rarely represented on North American syllabi“ (ebd.) gemeint sein, also theoretisch gesehen auch solche, die in superzentralen Sprachen wie Swahili oder Türkisch geschrieben sind.

Einen letzten Begriff, den ich hier noch anführen möchte, ist das rezent von Bergur Rønne MobergMoberg, Bergur Rønne und David DamroschDamrosch, David vorgeschlagene Konzept der ,ultraminor literatures‘. Die Autoren nehmen Ausmaß und Raum als definierende Kriterien für ,ultraminor literatures‘ an. Räumlich verorten sie diese in ethnischen Enklaven und auf kleinen Inseln. Bezüglich des Ausmaßes heben MobergMoberg, Bergur Rønne und DamroschDamrosch, David hervor, dass

[…] the ultraminor size entails structural handicaps and a systemic lack of capacity and resources connected both to space and to time. In case of small islands, no hinterland, no metropolis, and perhaps not even any large towns, and for ultraminor communities generally, a sense of belatedness, clustered ideas, and a short historicity of modernity. (Moberg, Damrosch 2017: 134)

Neben diesen Defizit- und Prekaritäts-Kriterien werden Ausmaß der Sprachgemeinschaft, Alphabetisierungsrate, Vitalität mündlicher Traditionen, Zugang zu Publikations- und Archivierungsmöglichkeiten und Verbreitung als zusätzliche Kriterien angeführt.

Der analytische Nutzen des Konzeptes ergibt sich nach Aussage Mobergs und Damroschs ausschließlich, wie für die weltliterarische Perspektive üblich, im Vergleich mit größeren Literaturen. Die hier vorgeschlagenen Untersuchungsansätze sind spezifischer als der von DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix (siehe unten), da hier konkrete sozioliterarische Überlegungen mit soziohistorischen Fragestellungen verbunden werden. Andererseits ist, ähnlich wie bei DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix, die politische Dimension von Bedeutung, denn ,ultraminor literatures‘ sind nicht selten gefährdete Literaturen, die dazu gezwungen sind, Überlebensstrategien zu entwickeln.

Das Aufkommen des Begriffs der ,ultraminor literatures‘ kann als Reaktion auf die Kritik an der neueren Weltliteraturforschung gesehen werden. Beanstandet wurde unter anderem, dass trotz der Verlagerung von einer eurozentrischen zu einer globaleren und inklusiveren Auffassung des Weltliteraturbegriffs die neuen Forschungsansätze frühere Prinzipien der Exklusion, der Provinzialisierung, der Peripheralisierung und der Marginalisierung kleiner Literaturen aufrechterhalten (D’haen 2013).

2 DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix revisited

Wie oben bereits angedeutet, hat das von DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix entwickelte Konzept der ‚littérature mineure‘ die Perspektiven auf kleine Literaturen nachdrücklich geprägt. Wie ebenfalls bereits hervorgehoben, ist ihr Konzept insofern spezifisch, als es der Definition zufolge vor allem auf die Literatur, die eine Minorität in einer großen Sprache produziert, verweist. Folglich sind ihre Ausführungen überwiegend der Erforschung dieses sprachlichen Typus von Minoritätenliteratur förderlich.

Die vorangehende Übersicht der Begriffe hebt die terminologische Komplexität rund um das Phänomen der kleinen Literaturen deutlich hervor. Der Begriff ist demzufolge als Überbegriff nicht unproblematisch, besonders da im internationalen wissenschaftlichen Diskurs eine verwirrende Verquickung, oder, besser gesagt, Gleichsetzung, zwischen den Adjektiven klein – wie KafkaKafka, Franz es in seinen Überlegungen zu ,kleinen Literaturen‘ (Kafka 1998: 154) benutzt – und ‚mineur‘, bzw. minor-minder-Minorität, existiert. Diese Ver(w)irrung geht auf ein gleich zweifaches Übersetzungsproblem zurück. Wie Pascale CasanovaCasanova, Pascale in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem DeleuzeDeleuze, Gilles/GuattariGuattari, Félix-Text aufzeigt, geht deren Gebrauch von ‚mineur‘ auf die „ungenaue und tendenziöse“ (Casanova 1997: 240) Übertragung der Kafka-Übersetzerin Marthe Robert zurück, die Kafkas Formulierung ‚kleine Literaturen‘ mit ‚littérature mineure‘ übersetzt. Die deutsche Fassung des Essays Kafka. Für eine kleine Literatur vertieft das Übersetzungsproblem zusätzlich. Denn obwohl hier die von KafkaKafka, Franz benutzte Benennung ‚kleine Literatur‘ wieder aufgegriffen wird, ist das Adjektiv ‚klein‘ fortan mit der von Deleuze und Guattari entwickelten Bedeutung, Konzeptualisierung und dem Ideologieprogramm des ‚mineur‘ aufgeladen. Semantisch unterschiedliche Adjektive werden hier also gleichgeschaltet oder, anders gewendet, das deutsche Adjektiv ‚klein‘, das in erster Linie auf Umfang oder Quantität verweist, wird durch die im Französischen implizierte Unterordnung und Nichtebenbürtigkeit erweitert, eine Bedeutungsebene, die dann durch die Übersetzung in der deutschen Fassung des Konzepts festgeschrieben wird. In der Weltliteraturforschung lässt sich eine ähnliche Synonymverwendung zwischen ‚small‘ (klein) und ‚minor‘ (mineur) feststellen. Fraglich ist diese beliebige Verwendung der Begriffe allemal, überlagern sich in ihnen doch unterschiedliche Bedeutungen, die durch einen undifferenzierten Gebrauch verschleiert werden, etwa dann, wenn mit ,littérature mineure‘ bzw. ‚kleiner Literatur‘ zugleich die Literatur kleiner unabhängiger Staaten, die Literatur von ethnischen Minoritäten, die Literatur in kleinen Sprachen und die einer kleinen territorialen Gemeinschaft in einer großen Literatursprache gemeint sind.

An dieser Stelle bietet es sich an, eine zumindest vorläufige Typologie ‚kleiner Literatur‘ anzubringen; vorerst soll hier aber noch auf das von DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix genannte erste Erkennungsmerkmal – die Deterritorialisierung der Sprache – der ,littérature mineure‘ eingegangen werden. Aus der Sicht der Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit wird bezweifelt, dass Sprachen nur einen Wohnsitz haben, eine Annahme, die spätestens seit der postkolonialen Literaturforschung als problematisch anzusehen ist. Folglich ist das Merkmal der Deterritorialisierung auf seine Verwendbarkeit für kleine mehrsprachige Literaturen kritisch zu hinterfragen. Im Falle der Literatur eines unabhängigen mehrsprachigen Staates wird der Gebrauch einer großen Literatursprache nicht ausschließlich und auch nicht in erster Linie als ein deterritorialisierter Gebrauch von Sprache angesehen und auch das mehrsprachige Selbstverständnis von Autoren aus kleinen Literaturen lässt eine solche Interpretation nicht als allgemeingültig zu.

Dazu kommt, dass, obwohl die Autoren sich in Bezug auf Kafkas Werk mit einem mehrsprachigen Literaturraum befassen,Deleuze, GillesGuattari, Félix1 ihr Konzept sehr wenig Denkanstöße für die Erfassung kleiner mehrsprachiger Literaturen liefert. Es wäre falsch, ihnen das vorzuhalten, da Fragen zur literarischen Mehrsprachigkeit, wie wir sie heute verstehen, nicht im Vordergrund ihrer Untersuchung standen. Ihre Überlegungen bezüglich der Beziehung zwischen einer ,littérature mineure‘ und einer ,langue majeure‘ sind vielmehr dem politisch brodelnden Kontext Frankreichs der 1970er Jahre geschuldet (Casanova 1997: 233–247): Demnach zielt ihre Untersuchung eher auf das Herausarbeiten der Beziehung von Sprache zum Politischen und zum Machtapparat ab, während sie die Literatur ausdrücklich auf der Seite der Subversion situiert und als ein Mittel, sich der Sprache der Macht zu widersetzen, stilisiert. Folglich, und das ist wichtig hervorzuheben, verweist das Adjektiv ‚mineur‘ im Zuge ihrer Ausführungen nicht nur auf den Ist-Zustand einer (minoritären) Literatur an sich, sondern beschreibt darüber hinaus eine (sprachliche) Abgrenzungsstrategie gegenüber großen, ideologischen und machtkonformen Literaturen:

So gefasst, qualifiziert das Adjektiv ‚klein‘ [eigentlich ‚minder‘] nicht mehr bloß bestimmte Sonderliteraturen, sondern die revolutionären Bedingungen jeder Literatur, die sich innerhalb einer sogenannten ‚großen‘ (oder etablierten) Literatur befindet. (Deleuze/Guattari 1976: 27)

Das Adjektiv ‚mineur‘ bezeichnet hier eben nicht die Sprache oder Literatur einer ethnischen oder kulturellen Minorität, sondern die Sprache, die jede Literatur sich erst erschaffen muss, um sich der durch den Machtapparat besetzten Sprache zu entziehen und die Kooptation durch den Machtapparat wiederum zu unterminieren. So lässt sich die komplexe räumliche Metaphorik, die zur Beschreibung des Prinzips der Deterritorialisierung bei KafkaKafka, Franz verwendet wird, zumindest deuten:

[…] schreiben wie ein Hund sein Loch buddelt, wie eine Maus ihren Bau gräbt. Dazu ist erst einmal der Ort der eigenen Unterentwicklung zu finden, das eigene Kauderwelsch, die eigene dritte Welt, die eigene Wüste. (ebd.)

Wie diese Ausführungen belegen, ist das Konzept von DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix zwar für Minoritätenliteraturen in hyper- und superzentralen Sprachen sicherlich immer noch von Relevanz, jedoch keineswegs als allgemeingültig für die verschiedenen Typen von kleinen Literaturen zu verwenden. Die Anwendung des Konzeptes ist nicht nur wegen der reduzierenden Politisierung von Literatur problematisch, sondern auch weil es schlicht und ergreifend nicht darauf angelegt ist, Auskunft über die literaturhistorische und ästhetische Eigengesetzlichkeit kleiner Literaturen zu geben.

In ihrem Werk La république mondiale des lettres (1999) kritisiert die französische Komparatistin Pascale CasanovaCasanova, Pascale die Politisierung kleiner Literaturen durch das ,littérature-mineure‘-Konzept (Casanova 1999: 279–281). Ihre eigene Analyse von Macht- und Dominanzstrukturen in einer Zentrum-Peripherie-Optik ist jedoch nicht weniger problematisch. Wie bei DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix ist es wiederum ein Blick von außen, der an die Literaturen herangetragen wird und der hier verstärkt mit ‚zentralen‘ Normvorstellungen arbeitet und dementsprechend hauptsächlich auf die angebliche ‚Nicht-Konformität‘ kleiner Literaturen aufmerksam macht. Letztere werden darüber hinaus ausschließlich in ihrer ‚Mittel- und Machtlosigkeit‘ und in ihrem ‚Kampf um internationale Sichtbarkeit‘ gesehen, beziehungsweise darauf reduziert. Die Begrifflichkeiten sind einer negativen Semantik verpflichtet und akzentuieren das scheinbar ‚A-normale‘, die ‚Abweichungen vom Standard‘:

[…] die (literarisch, politisch, sprachlich) Mittellosen sind nicht nur nie ,adäquat‘, d.h. nie konform, nie an ihrem Platz, nie wirklich im literarischen Universum zu Hause, sondern ihre Unangemessenheit […] stellt ein unentwirrbares Netz an Verwünschungen, Unglück, Wut und Revolte dar. (Casanova 1999: 253)2

Bei CasanovaCasanova, Pascale ist eine Ausweitung des semantischen Feldes dahingehend zu beobachten, dass sie die Begriffe ,petit‘ und ,mineur‘ mit endemischen Defizitmerkmalen assoziiert. Während das Gewicht bei DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix auf dem Ideologischen, dem Politischen liegt, befindet es sich bei Casanova auf dem Nationalen, etwa wenn die Funktion kleiner Literaturen (von unabhängigen Staaten) ausschließlich auf ihre Partizipation am ontologischen Nationenbildungsprozess beschränkt wird:

In mittellosen Räumen sind die Schriftsteller zu einer nationalen oder völkischen Thematik verdammt: sie müssen die Abenteuer, die Geschichte und die nationalen Kontroversen entwickeln, verteidigen, darstellen und kritisieren. Weil sie darauf bedacht sind, eine Idee ihres Landes zu verteidigen, sind die Schriftsteller in die Ausarbeitung der nationalen Identität eingebunden. (ebd.: 262)

Genau gegen Festschreibungen wie diese wehrt sich Milan KunderaKundera, Milan, wenn er die von außen vorgebrachten Fixierungen kleiner Literaturen auf das Nationale kritisiert:

Die kleinen europäischen Staaten (ihr LebenLeben, Andreas, ihre Geschichte, ihre Kultur) sind sehr wenig bekannt und bleiben hinter ihren unzugänglichen Sprachen verborgen. Gemeinhin wird angenommen, dass gerade dieser Umstand das Handicap ihrer mangelnden internationalen Anerkennung ausmacht. Das Gegenteil aber ist der Fall: ihre Kunst ist gehandicapt, weil alle Welt (die Kritik, die Historiographie, die Landsmänner wie die Ausländer) sie auf die große Photographie der nationalen Familie festklebt und sie da nicht rauslässt. (Kundera 1993: 231)

In der Tat ist die Annahme, dass sich die Literaturproduktion in kleinen Staaten ausschließlich einem nationalliterarischen Projekt widme, problematisch, da sie unter anderem die postnationale Phase und folglich die veränderte Auffassung zur (gesellschaftlichen) Rolle/Funktion von Literatur einfach ausklammert. Die Festschreibung auf das Nationale verstellt zudem, wie von KunderaKundera, Milan beanstandet, den Blick auf einige Eigenthematiken wie die interkulturellen Beziehungen und Mehrsprachigkeitsphänomene, die, je nach geokultureller Verortung, den Diskurs der literarischen Kultur kleiner Staaten maßgeblich prägen.

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