Kitabı oku: «Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext», sayfa 6
3 Typologie kleiner europäischer Literaturen1
In der Vergangenheit wurde aber nun der Begriff der kleinen/mineure/minor Literaturen (meist in der DeleuzeDeleuze, Gilles-GuattariGuattari, Félix’schen Ausprägung) für sehr unterschiedliche Typen verwendet, die hier in einer vorläufigen Übersicht zusammengeführt werden:
Literaturen kleiner Staaten: Belgien, Estland, Island, Lettland, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Slowenien, u.a.
Minoritätenliteraturen in Einheitsstaaten: Katalonien, Friesland, Mazedonien, Schlesien, u.a.
Interregionale Literaturen: Griechenland-Zypern-Türkei und Istrien (Italien-Kroatien-Slowenien)
Literaturen in kleinen (peripheren) Sprachen ohne externes Referenzsystem: Baskisch, Estnisch, Gälisch, Lettisch, Luxemburgisch, Maltesisch, Rätoromanisch, Walisisch, u.a.
Kleine Literaturen in großen (hyper-, super- und zentralen) Sprachen: Luxemburg (Deutsch, Französisch, Englisch), Belgien (Französisch, Deutsch), Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch), Italien (Deutsch), etc.
Diese vorläufige Typologie macht die Homogenisierung eines de facto sehr heterogenen Untersuchungsgegenstandes sichtbar. Dabei ist es aber notwendig, die Spezifität der verschiedenen Typen zu beachten.
Im Fall von Literaturen kleiner Staaten kann man annehmen, dass es sich um legitim anerkannte Literaturen handelt, dass Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozesse sowie national geförderte Lehrprogramme, Forschungs- und Archivierungseinrichtungen vorhanden sind und dass man auf ein im Aufbau begriffenes Literaturfeld schließen kann. Im Fall von Minoritätenliteraturen sind gerade diese Elemente nicht als selbstverständlich vorhanden anzunehmen, besonders, wenn sie sich am Rande oder innerhalb eines dominierenden Literaturfeldes befinden und der Kampf um die legitime/offizielle Anerkennung und die politischen und kulturellen Rechte der Sprachgemeinschaft nicht abgeschlossen ist.
Durch diese undifferenzierte Verwendung des Begriffs wird zumeist die Spezifität soziohistorischer und politischer Situationen kleiner literarischer Kulturen verflacht und ihre Eigengesetzlichkeit ignoriert. Des Weiteren riskieren Thematiken, Diskurse, literaturästhetische Eigenheiten, und gegebenenfalls das Schreiben in einem mehrsprachigen Literaturfeld aus dem Blickfeld zu fallen. Wie problematisch die Anwendung des Begriffs im DeleuzeDeleuze, Gilles-Guattari’schenGuattari, Félix Verständnis in Bezug auf kleinere unabhängige Staaten ist, soll hier am Fall der mehrsprachigen Luxemburger Literatur kurz dargestellt werden. Die luxemburgische Literatur ist seit ihrer Entwicklung im 19. Jahrhundert eine mehrsprachige Literatur auf Deutsch, Französisch und Luxemburgisch. Zu diesen Literatursprachen wird rezent auch das Englische gezählt. Viele Luxemburger Autoren schreiben in zwei, manche auch in drei Sprachen. Anders als es in Belgien oder der Schweiz der Fall ist, geht die Mehrsprachigkeit des Literaturfeldes nicht auf unterschiedliche Sprachgemeinschaften zurück, sondern ergibt sich aus der geokulturellen Lage des Landes und, eng daran gekoppelt, der sprachpolitischen Förderung der Mehrsprachigkeit seit Mitte des 19. Jahrhunderts (Fehlen 2008). Wie im Folgenden von Marie-Anne Hansen-PaulyHansen-Pauly, Anne-Marie ausgeführt wird, ist der von Deleuze und Guattari konzeptualisierte Begriff wegen seiner politischen Dimension für den Luxemburger Fall nicht anwendbar:
[…] the term minority, as it is often found in literary theory, has a number of connotations that do not really reflect the situation in Luxembourg. It suggests difference, but also exclusion, dissonance, oppression, postcolonialism, whereas Luxembourg, unlike most cultural minorities in Europe or elsewhere, is an independent nation. The adjective ‘minor’, being a comparative, implies the presence of a majority. It usually refers to a subordinate cultural or ethnic group within a larger community. Most Luxembourgers would probably prefer to speak of a ‘small’ or less widely diffused literature. (Hansen-Pauly 2002: 150)
Das auf die Sprache fokussierte Merkmal der Deterritorialisierung allein vermag es nicht, der Komplexität des mehrsprachigen Schaffens und der Interaktion der Literatursprachen im literarischen Feld und darüber hinaus Rechnung zu tragen.
Diese Vorüberlegungen machen deutlich, wie wichtig es ist, den Begriff der ‚kleinen Literaturen‘, wie er bislang gemeinhin verwendet wurde, zu überdenken und mit einem neuen, aktualisierten Verständnis aufzuladen. Dies bedarf ausgedehnteren Ausführungen als sie hier aus Platzgründen möglich sind und daher beschränke ich mich im Folgenden lediglich auf einige mögliche Ansatzpunkte. Was das Adjektiv ‚klein‘ betrifft, bietet es sich an, es in seiner ersten quantitativen Bedeutung für die Definition ‚kleiner Literaturen‘ wesentlich fruchtbarer zu machen, als das bisher der Fall war. Das Wort ‚klein‘ hat zudem den Vorteil, relativ neutral zu sein: Das Adjektiv verweist, anders als von DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix festgehalten (Deleuze/Guattari 1980: 95–139), nicht per se auf ein unterordnendes Prinzip, sondern bezieht sich in erster Linie auf die Ausmaße des Literatursystems, die anhand einiger Indikatoren – Anzahl an Autoren, Quantität der literarischen Produktion, Anzahl der Institutionen, des (internationalen) Bekanntheitsgrads usw. – objektiv beschreibbar sind. Folglich bietet es sich an, für die Erfassung ‚kleiner Literaturen‘ von quantitativen/empirischen Kriterien auszugehen, um darauf aufbauend die spezifischen Diskurse, Thematiken und Problematiken herauszukristallisieren und zu analysieren. Diese Erweiterung der analytischen Ansätze führt zu einer Verlagerung der Frage nach dem Ausmaß der Literatursprache (major/minor language), die hier dann nicht mehr wie bei Deleuze und Guattari als dominierendes Kriterium, sondern als eines unter mehreren entscheidenden Merkmalen kleiner Literaturen fungiert.
Welche Erkenntnisse lassen sich aus dieser Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten gewinnen? Da wären zum einen die verschiedenen methodischen Ansatzpunkte aus dem Bereich der Literatursoziologie, der Mehrsprachigkeits- und Interkulturalitätsforschung und der systemisch angelegten Weltliteraturtheorie zu nennen. Es kann festgehalten werden, dass das Zentrum-Peripherie-Paradigma überwiegt, das oft eine Darstellung der Dynamiken und Dominanzstrukturen im Weltliteratursystem verfolgt. Dies hat zuweilen eine Reduzierung auf marktökonomische Themen zur Folge, erlaubt aber anderseits eine Diskussion über die Wichtigkeit der Übersetzungen als Garant für eine bessere internationale Sichtbarkeit.
Letztlich zeigen diese Ausführungen aber auch, dass es an der Zeit ist, die Forschung ‚von innen‘ verstärkt der Evaluierung ‚von außen‘ entgegenzusetzen und sie in den theoretischen Diskurs miteinzubringen. Notwendig ist daher eine komparatistisch angelegte Forschung, die sich mit der grundlegenden Frage auseinandersetzt, ob kleine Literaturen auch außerhalb der Idee eines Zentrums und über ein größeres Vergleichselement (die großen Literaturen) hinaus gedacht werden können (GauvinGauvin, Lise 2003: 33). Als weitere Schwerpunktsetzung bietet es sich an, außerhalb von nationalen und einsprachigen Prämissen zu denken. Außerdem sollte nachdrücklicher darauf hingewiesen werden, dass kleine Literaturen andere Dynamiken und Eigenheiten und womöglich eine eigene Ästhetik besitzen, welche durch die von den Zentren ausgehenden Normen allein nicht erfasst werden können (Provenzano 2011). Zudem wäre es wichtig, auch das literaturtheoretische Potential kleiner Literaturen im Bereich einer pluralistisch angelegten Literaturentwicklung verstärkt hervorzustreichen.
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Zum Modell und Begriffsfeld des überregionalen literarischen Interaktionsraums (ausgehend von der Literatur der Kärntner Slowen_innen)
Andreas Leben (Graz)
Abstract: The article discusses the concept and the use of the term ‘sphere of literary interaction’ that was developed within a research project on the contemporary bi- and multilingual literary practice of the Slovenes in Carinthia. Due to the participative and productive relation of this literature to several (poly)systems – in particular that of Austria and Slovenia – and to the heterogeneous writing practices, the concept addresses the fact that national, ethnic and linguistic affiliation have become doubtful categories. The model presented here seeks to reflect the changes with respect to the conditions of ‘deregionalised’ literary production and reception, and to the interaction with authors and institutions that previously were not related to the Carinthian bilingual literary field. Therefore, the sphere of interaction is conceptualised as an open space in progress, avoiding essentialist or reductionist categorisation since it is based on the collection of empirical data.
Keywords: theory of space, literary interaction, multilingualism, transculturality
Das hier präsentierte Modell eines überregionalen literarischen Interaktionsraums wurde im Rahmen des an der Universität Graz durchgeführten Forschungsprojekts zur Literatur der Kärntner Slowen_innen nach 1991Köstler, ErwinSrienc, DominikLeben, Andreas1 entwickelt und geht auf zwei grundlegende Fragen zurück, die bereits bei den ersten Überlegungen für eine integrierte Beschreibung zweisprachiger literarischer Praxis zu stellen waren: Wie soll man eine Literatur benennen, für die Sprache, ethnische Zugehörigkeit und regionale Gebundenheit keine verbindlichen Kriterien mehr sind, und wie kann der Raum bestimmt werden, in dem diese Literatur entsteht?
1 Zur Problemstellung
Im Allgemeinen wird unter der Bezeichnung ‚Kärntner slowenische Literatur‘ die literarische Produktion der slowenischen Minderheit in Kärnten verstanden, die üblicherweise sowohl dem österreichischen als auch dem slowenischen literarischen Feld zugerechnet wird. In Slowenien gilt die Literatur der Kärntner Slowen_innen aufgrund sprachlicher, kultureller, ethnischer und historischer Gemeinsamkeiten als integraler Teil der ‚gesamtslowenischen‘ Literatur, einem Konzept, das auch von der slowenischen Literaturgeschichte vermittelt wird (vgl. Grafenauer 1946: 284; Paternu 1973: 95) und das mit der heute noch verbreiteten Vorstellung von der Existenz eines ‚gemeinsamen slowenischen Kulturraums‘ (skupni slovenski kulturni prostor) korreliert (vgl. Vidmar 1984: 216–218). Die Zugehörigkeit dieser Literatur zur slowenischen Literatur wurde nie in Zweifel gezogen, jedoch attestierte man ihr aufgrund der Trennung vom zentralslowenischen Raum und der unterschiedlichen Entwicklung nach 19201 eine gewisse Eigenständigkeit (vgl. Kmecl 1973, Kmecl 1979), die an sprachlichen, stilistischen, typologischen und thematischen Besonderheiten festgemacht werden kann (vgl. Detela 1992). Seit den 1970er Jahren wird sie zudem unter dem Sammelbegriff ‚slovensko zamejsko slovstvo‘ (Pogačnik 1972: 5–6) geführt, der die ans slowenische ‚Mutterland‘ (matica) angrenzenden Literaturen der in den Nachbarländern (‚hinter den Grenzen‘) lebenden slowenischen Minderheiten bezeichnet.Strutz, Johann2 Auch die österreichische Slowenistik umriss die Literatur der Kärntner Slowen_innen als Teil des regionalen kulturellen Lebens der autochthonen Volksgruppe, die sich um Kontakt zum österreichischen wie auch zum slowenischen Literaturraum bemühte (Prunč/Hafner 1976: 671–683; Zablatnik 1985: 212–213). Mit dem politischen Umbruch in Europa und dem Zerfall Jugoslawiens wurde der Sinn einer strikten Trennung der slowenischen Literatur entlang von Staatsgrenzen zwar hinterfragt, jedoch wurde am Modell, dass es sich bei der Literatur der Kärntner Slowen_innen „um eine der regionalen Spielarten der gesamtslowenischen literarischen Kultur“ (Paternu 1991: 154) handle, festgehalten. Wie in den 1980er Jahren, dem „Goldenen Dezennium“ (Hafner 2009: 140) der Kärntner slowenischen Literatur, machen sich innerhalb dieser Kultur vor allem jene Autor_innen einen Namen, die in slowenischer Sprache schreiben. Die einzige Ausnahme ist Maja HaderlapHaderlap, Maja, deren deutschsprachiges Schaffen im slowenischen Zusammenhang aufgrund der vorhandenen Übersetzungen ins Slowenische in jüngster Zeit viel Beachtung findet, sich aber auch nahtlos in die Diskussion um eine Erweiterung des Begriffs ‚slowenische Literatur‘ einfügt.Hladnik, Miran3
Da vor allem die jüngeren zweisprachigen Kärntner Autor_innen die Möglichkeit nutzten, in beiden Sprachen zu schreiben und zu publizieren, sprach Johann StrutzStrutz, Johann bereits in den 1990er Jahren von einer ‚Entregionalisierung‘ der slowenischen Literatur in Kärnten, die auch Rückwirkungen auf die literarische Produktion habe (Strutz 1998: 27–28). Heute lässt sich diese Deregionalisierung in ihrer vollen Ausprägung beobachten. Will man die Literatur der Kärntner Slowen_innen in allen ihren Formen erfassen, reicht es daher nicht mehr aus, sie als Produkt einer ethnischen, sprachlichen, regional verankerten Minderheit zu beschreiben, die an den Schnittstellen des österreichischen und des slowenischen Literatursystems verortet ist. Die veränderten Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen, die allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen, die neuen kommunikationstechnologischen und medialen Möglichkeiten sowie die gesteigerte Mobilität von Autor_innen führen auch dazu, dass man im Grunde nur noch bedingt von ‚der‘ oder ‚einer‘ Kärntner slowenischen Literatur sprechen kann. Auch erscheint es keineswegs klar, welche Autor_innen oder Einzeltexte ihr zugezählt werden können, zumal vorübergehend oder auf Dauer in Kärnten lebende Autor_innen aus Slowenien maßgeblich an der slowenischen Literaturproduktion beteiligt sind, während einige Kärntner slowenische Autor_innen (fast) nur auf Deutsch schreiben und ihren Lebensmittelpunkt seit geraumer Zeit nicht mehr in Kärnten haben. Hinzu kommen Autor_innen verschiedenster Provenienz, die nicht slowenischsprachig sind, die aber in ihren Texten auf den zweisprachigen Raum, die Lebenswelt, die Geschichte, die Erinnerungsnarrative und die Literatur von Kärntner Slowen_innen Bezug nehmen und in ihren Texten Verfahren literarischer Zwei- und Mehrsprachigkeit anwenden.Srienc, DominikKöstler, Erwin4
2 Der Begriff des ‚überregionalen literarischen Interaktionsraums‘
Es ist evident, dass eine integrierte Darstellung der zweisprachigen literarischen Praxis der Kärntner Slowen_innen diese Diversität, Heterogenität und Überregionalität berücksichtigen muss. Um den Raum, der für die Beschreibung dieser Literatur relevant ist und der prospektiv weder sprachlich noch topographisch eingegrenzt werden kann, konzeptuell zu erfassen, wurde der Begriff des ‚überregionalen literarischen Interaktionsraums‘ eingeführt. Er sollte einen grundsätzlich abstrakten, offenen, transnationalen Raum bezeichnen, als dessen Teil die Literatur der Kärntner Slowen_innen erachtet werden kann, die nicht allein auf das regionale zweisprachige, das österreichische und das slowenische literarische Feld beschränkt ist, sondern produktiv wie rezeptiv weit über den regionalen Zusammenhang hinausreicht.
Als Ausgangspunkt dienten die Arbeiten und konzeptuellen Überlegungen von Johann StrutzStrutz, Johann zu einer literarischen Komparatistik der Alpen-Adria-Region, die auf die lebensweltliche und textuelle Interkulturalität im Regionalraum fokussieren (Strutz 2003: 351–352).Strutz, Johann1 Die von ihm beschriebene polyphone und transkulturelle „écriture der Region, die den exklusiven nationalen Nexus in Frage stellt, ohne dabei bestimmte Traditionen aufzugeben, indem sie den nationalen Rahmen zugleich unter- und überschreitet“ (Strutz 2010: 178), und die „spezifischen lnteraktionsformen der Alpen-Adria-Kulturen“ (ebd.: 191) bilden auch insofern eine wichtige Basis für das Konzept des Interaktionsraums, als sein Beschreibungsmodell die vielschichtigen lnterferenzen und Differenzen zwischen den sprachlichen, kulturellen und politischen Zusammenhängen berücksichtigt und die generelle Zwei- oder Mehrsprachigkeit der minoritären Kulturen nicht außer Acht lässt. Letztere „ermöglicht nämlich nicht nur die ‚luxurierende‘, ‚nomadische‘ Teilhabe an mehreren Kulturen, sondern bietet auch die Möglichkeit einer ‚ersatzweisen‘ literarischen Sozialisation durch partielle Übernahmen aus den jeweiligen größeren Nachbarliteraturen“ (Strutz 2010: 191).
Im Unterschied zu StrutzStrutz, Johann, der den Begriff „Regionalität“ nicht nur als thematische, semantische oder sprachlich-stilistische Kategorie auffasst, sondern ihm neben dem „Aspekt der (alltäglichen) sozialen und kulturellen Praxis“ auch ein „geographisches, raumkulturelles Bezugsmoment von Nähe und Nachbarschaft“ (Strutz 2003: 70) zugrunde legt, verfügt der hier diskutierte Interaktionsraum jedoch über kein ‚echtes‘ geographisches Korrelat. Der überregionale literarische Interaktionsraum darf also nicht mit dem Regionalraum verwechselt werden, in dem die Literatur der Kärntner Slowen_innen einen Teil des Systems der Literaturen im Alpen-Adria-Raum darstellt. Der räumliche Kontakt zwischen Sprachen und Kulturen in synchroner wie diachroner Perspektive ist auch hier von Bedeutung, sowohl auf der Ebene der praktischen Organisation des literarischen Lebens als auch auf der Textebene, doch hat die ‚Entregionalisierung‘ dieser Literatur aus überregionaler Perspektive eine Verschiebung von den intrasystemischen Relationen, Kontakten, Interferenzen und Transfers zwischen den Literaturen der Alpen-Adria-Region zu den intersystemischen Interaktionen insbesondere im deutsch- und slowenischsprachigen Raum zur Folge. Der räumlich-geographische Aspekt muss aber auch überschritten werden, um die Migration von Personen, das Zirkulieren von Texten und deren globale Verfügbarkeit sowie Phänomene wie Intertextualität, Intermedialität und die Verlagerung von Literatur in virtuelle Räume als Elemente literarischer Interaktion aufeinander beziehen und die systemische Position der rezenten zweisprachigen Literatur der Kärntner Slowen_innen bestimmen zu können.2
Im Übrigen sind die theoretisch-methodischen Grundlagen für die Beschreibung des überregionalen literarischen Interaktionsraums weitgehend dieselben, wie sie von StrutzStrutz, Johann für die literarische Komparatistik der Alpen-Adria-Region herangezogen wurden: das Konzept „kleiner Literaturen“ in der Nachfolge von GuattariGuattari, Félix und DeleuzeDeleuze, Gilles (1976), die Kultursemiotik LotmansLotman, Jurij (2010) unter Bezug auf BachtinsBachtin, Michail metalinguistischen Sprach- und Dialogizitätsbegriff und die Polysystemtheorie Itamar Even ZoharsEven-Zohar, Itamar (1990) (vgl. Strutz 2003: 23–67, 2010: 184–191). Als besonders anwendbar für die Konzeption und Beschreibung des Interaktionsraums erwiesen sich die Instrumentarien und Begriffe der Polysystemtheorie, die auf sozialen Relationen beruhende Feldtheorie BourdieusBourdieu, Pierre Félix (1999), die bei Strutz nur am Rande Erwähnung findet, und das LotmanLotman, Jurij’sche Modell der Semiosphäre. Letzteres erlaubt es, den Interaktionsraum auch als abstrakten, diskursiven semiotischen Raum zu begreifen, der mit gegebener kultureller Bedeutung operiert und neue kulturelle Bedeutungen hervorbringt, indem in ihn verschiedene, sich überlagernde, zwei- oder mehrsprachige Grenzen (sowohl gegenüber dem inner- als auch dem außer- und anderssemiotischen Raum) eingeschrieben sind, an denen es aufgrund ständiger Einflüsse von außen zu besonders intensiven semiotischen Prozessen kommt (Lotman 2010: 182, 184, 189). Einen weiteren Bezugspunkt bildete die österreichische regionalgeschichtliche Literaturraumforschung (vgl. Schmidt-Dengler/Sonnleitner/Zeyringer 1995), insofern sie Kulturraum als „eine Zone spezifischer, hoher Verdichtung von menschlicher Interaktion“ (Thum 1980: 81) begreift und die Institutionengeschichte sowie die Produktions- und Rezeptionsbedingungen untersucht (vgl. Amann 2007).
Die wichtigste Grundlage für die analytische Arbeit bildeten jedoch die zu erhebenden empirischen Daten zu den im überregionalen und sprachübergreifenden Zusammenhang relevanten Autor_innen und Akteur_innen, Texten und Translaten sowie den Produktions- und Rezeptionsprozessen (vgl. Köstler/Leben 2018: 148–151). Erstellt wurde eine umfassende Datenbank mit mehr als 18.500 Einträgen, beruhend auf den nach 1990 erschienen Buchpublikationen (Primärtexte, Übersetzungen, Anthologien, Werkausgaben usw.), der Auswertung von annähernd 60 österreichischen, slowenischen und italienischen Literatur- und Kulturzeitschriften sowie der Bestandsaufnahme der für den Untersuchungsbereich relevanten Kulturpublizistik und wissenschaftlichen Literatur, aber auch von Internetportalen, Webseiten und Blogs. Es wurden Interviews mit mehr als 40 Personen geführt, die im zweisprachigen literarischen Feld tätig sind (Autor_innen, Übersetzer_innen, Herausgeber_innen, Theatermacher_innen, Filmemacher_innen, Musiker_innen, Literaturwissenschaftler_innen, Kulturmanager_innen und Journalist_innen), und umfassende Bibliographien zu einzelnen Autor_innen angelegt, ebenso wurden Daten zu den slowenischen, zwei- oder mehrsprachigen literarischen Institutionen in und außerhalb Kärntens gesammelt (Verlage, Veranstalter, Veranstaltungsorte, Literaturvereinigungen, Literaturpreise, Kulturvereine usw.). Um dem Transfer von Repertoires und Modellen,3 einer der zentralen Fragen literarischer Interaktion, im Detail nachgehen zu können, wurden darüber hinaus mehr als 300 Textbeschreibungen angefertigt, die auch Auskunft über die Statik bzw. Dynamik von Kanonisierungsprozessen geben. Erst anhand dieser Daten, von denen anzunehmen ist, dass sie die Verhältnisse und Veränderungen im untersuchten Zeitraum abbilden, war es möglich, den überregionalen literarischen Interaktionsraum in Relation zu den Feldern der österreichischen und der slowenischen Literatur zu stellen sowie Aussagen über seine Beschaffenheit und Stabilität zu treffen. Folglich bildet er sich erst durch die belegbaren interlingualen und transkulturellen Relationen zwischen Akteur_innen und Texten heraus, die für einen bestimmten Zeitraum evidentiert werden können. Da Texte auch Teil oder Gegenstand von intermedialen Prozessen und Transformationen sein können, wurden außerdem Daten aus anderen künstlerischen Bereichen, insbesondere dem Theater, herangezogen.