Kitabı oku: «Mehrsprachigkeit und das Politische», sayfa 5
Die neuen SchriftsprachenSchriftSchriftsprache, die sich auf diese Weise herausbildeten, übten ihren Einfluss auch auf den mündlichenMündlichkeitmündlich Gebrauch dieser Sprachen aus, der Wortschatz der gesprochenen SprachenSprache, gesprochene veränderte sich, neue Begriffe wurden geprägt, alte Begriffe gerieten infolgedessen außer Gebrauch, grammatikalischeGrammatikgrammatikalisch und syntaktische Konstruktionen änderten sich.
Während im schriftlichenSchriftschriftlich Gebrauch eine deutlichere Hierarchie der Sprachen existierte, war im mündlichenMündlichkeitmündlich Gebrauch der Sprachaustausch lebhafter, Übergänge waren fließender, je nach Verwendungssituation und der sozialen Position der Sprecher, bis zu den Zwischen- oder Übergangsformen wie DeutschbaltischDeutschbaltenDeutschbaltisch, Kleindeutsch, HalbdeutschDeutschlandHalbdeutsch bzw. WacholderdeutschDeutschlandWacholderdeutsch, wie man das fehlerhafte DeutschDeutschlandDeutsch der sich assimilierenden Esten nannte. Rund 25 % der estnischenEstland/Estoniaestnisch Wortstämme sind Entlehnungen aus dem NiederdeutschenDeutschlandNiederdeutsch. Der Einfluss des HochdeutschenDeutschlandHochdeutsch (zugleich der späteren deutschbaltischenDeutschbaltendeutschbaltisch Sprache/MundartDialekt/Mundart) auf die Sprachen der Esten und Letten ist viel geringer. Nicht selten wurde das eine oder andere Wort aus dem NiederdeutschenDeutschlandNiederdeutsch auf dem Umweg über das EstnischeEstland/EstoniaEstnisch/Estonian oder das LettischeLettland/LatviaLettisch/Latvian sogar ins DeutschbaltischeDeutschbaltenDeutschbaltisch zurückentlehnt. Auch in das deutschbaltischeDeutschbaltendeutschbaltisch Sprachgut sind viele Lehnwörter aus dem EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian bzw. LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian, aber auch aus dem RussischenRusslandRussisch/Russian eingeflossen.
Dass viele deutschbaltischeDeutschbaltendeutschbaltisch Kinder adligen Geblüts unter der Obhut estnischer und lettischerLettland/Latvialettisch Ammen und Dienstleute das EstnischeEstland/EstoniaEstnisch/Estonian bzw. LettischeLettland/LatviaLettisch/Latvian als ErstspracheErstsprache erwarben, ist ein in der deutschbaltischenDeutschbaltendeutschbaltisch Literatur verbreitetes Motiv. Wie dem auch sei, unvermeidlich war die ZweisprachigkeitZweisprachigkeit bestimmt für die baltischenBaltikumBaltisch Literaten (wie Bildungsbürger im lokalen SprachgebrauchSprachgebrauch üblicherweise hießen), deren begehrtestes Ziel es war, eine Pastorenstelle zu bekommen, die man ohne Kenntnis der lokalen Sprachen nicht ausüben konnte (noch durfte). Andererseits war das DeutscheDeutschlandDeutsch auch für die Akademiker estnischer bzw. lettischerLettland/Latvialettisch Herkunft die BildungsspracheBildungssprache schlechthin, so dass gebildetere bzw. sozial aufgestiegene Esten und Letten auch zu Hause meistens zum DeutschenDeutschlandDeutsch wechselten. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bediente man sich in gebildeten Kreisen oft des DeutschDeutschlandDeutsch(baltisch)en. Im Jahre 1891 schrieb Oskar Kallas, ein namhafter Folklorist, später auch Journalist und Botschafter der Republik EstlandEstland/Estonia in London, in seinem (auf DeutschDeutschlandDeutsch verfassten) Tagebuch, dass er keine estnischeEstland/Estoniaestnisch Familie kenne, in der man unter sich EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian spreche. Die bekannteste estnischeEstland/Estoniaestnisch Lyrikerin Marie UnderUnder, Marie machte ihre ersten Schritte auf ihrem Dichterweg auf DeutschDeutschlandDeutsch und fing erst später, auf Anraten ihres Freundes, des Künstlers Ants Laikmaa (Laipmann), an, auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian zu dichten.
2 MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in der Literatur
BaltischeBaltikumBaltisch Literaten waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fast immer mindestens zweisprachigZweisprachigkeitzweisprachig, ungachtet ihrer nationalenNationnational oder ethnischenEthnieethnisch Herkunft. Ihre BildungsspracheBildungssprache war in der Regel DeutschDeutschlandDeutsch, außerdem verstanden bzw. sprachen sie, lebten sie im nördlichen Teil LivlandsLivland oder in EstlandEstland/Estonia, meistens mehr oder weniger gut Süd- oder Nordestnisch, im lettischsprachigen Teil des BaltikumsBaltikum LettischLettland/LatviaLettisch/Latvian oder LettgallischLettgallisch, mitunter konnten sie sich auch einer dieser Sprachen schriftlichSchriftschriftlich bedienen. Ihr lokales, tägliches DeutschDeutschlandDeutsch stand unter dem Einfluss dieser Sprachen bzw. deren MundartenDialekt/Mundart. MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, die Fähigkeit, sich sowohl schriftlichSchriftschriftlich als auch mündlichMündlichkeitmündlich verschiedener Sprachen zu bedienen, war ein wichtiger Charakterzug dieses Kulturraumes. Selbstverständlich kommt dies auch in der Literatur zum Ausdruck.
Im Folgenden werde ich einige Beispiele für den Gebrauch der MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in der Literatur des BaltikumsBaltikum anführen. Ich gehe dabei von der von Jaan Undusk im Jahre 1992 entworfenen, immer noch durchaus aktuellen Typologie des estnisch-deutschenDeutschlanddeutsch LiteraturtransfersLiteraturtransfer (Undusk 1992) aus, die zwischen Formen verschiedenster Kontakte literarischer Art unterscheidet. Mich interessieren an dieser Stelle jedoch lediglich die Kontakte, die sich mit dem Phänomen der ExophonieExophonie (oder ZweisprachigkeitZweisprachigkeit im weiteren Sinne) in Verbindung bringen lassen. Es lässt sich zwischen einer sprachinternen, textinternen und autorinternen Zweisprachigkeit unterscheiden.
2.1 Mit sprachinterner Zweiprachigkeit meine ich Texte, die in einer MischspracheMischsprache entstanden sind. Der deutschbaltischeDeutschbaltendeutschbaltisch DialektDialekt/Mundart ist selbst schon gewissermassen eine solche Mischsprache, in die estnischeEstland/Estoniaestnisch bzw. lettischeLettland/Latvialettisch, russischeRusslandrussisch oder französische Wörter eingebettet sind.
Ein frühes Beispiel ist ein kleines Fragment aus dem Gedicht „Lieffländische Schneegräfin“ (FlemingFleming, Paul 1638) von Paul Fleming (1609–1640), wo HochdeutschDeutschlandHochdeutsch, NiederdeutschDeutschlandNiederdeutsch und EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian sich mischen
Die Braut/bald rot/bald blaß, fing endlich an zu reden:
„Wat schal ich arme Kind? Gott weht, wat sy my theden!“
Das ander/Ycks /Kacks /Koll1 hub sie auff Undeutsch an,
Das ich noch nicht versteh’, und auch kein Gott nicht kan.
Literarische Texte im deutschbaltischenDeutschbaltendeutschbaltisch DialektDialekt/Mundart wurden jedoch selten verfasst, in der Regel geschah dies nur in ‚niedrigen‘ Literaturgattungen, wobei das DeutschbaltischeDeutschbaltenDeutschbaltisch die Funktion von Parodie, Ironie oder Witz innehatte. Das DeutschbaltischeDeutschbaltenDeutschbaltisch (mit all seinen Jargons) wurde dem Bereich des Komischen zugeordnet und kam am systematischsten zum Einsatz in der sogenannten halbdeutschDeutschlandHalbdeutschsprachigen Dichtung — in der makkaronischenmakkaronisch Dichtung2 des BaltikumsBaltikum vor allem des 19. Jahrhunderts. In dieser Gattung werden zwei Sprachen zur Erzielung eines komischen oder parodistischen Effektes vermischt, indem Morphologie und Syntax der deutschenDeutschlanddeutsch Sprache auf den Wortschatz des EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian bzw. des LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian übertragen werden, wobei die Phonologie dem EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian angepasst wird, z.B. werden die stimmhaften Konsonanten durch die stimmlosen und Doppelkonsonanten durch einen Konsonant ersetzt, das h weggelassen usw. (Über die Merkmale des HalbdeutschenDeutschlandHalbdeutsch siehe Ariste 1981).
Die Oberpahlsche Freundschaft (1818/1857) des Tallinners Jacob Johann MalmMalm, Jacob Johann (1796–1762) ist das erste und bekannteste, geradezu wegweisende Gedicht dieser Gattung gewesen (siehe dazu Lehiste 1965).
Vart’, tenkt’ ich mal in meine Sinn,
Willst wahren toch heinmal
Su Wreind nach Oberpalen in!
Und ging nu in tas Tall3
Und nehmt tas Wuchs mit lange Wanz
Und pannt tas wor tas Saan4;
Tann nehmt’ ich meine Mütz und Ans
Und wangt’ su jagen an;
Und nu katsait turch Tuchk und Tolm’5
Ich tuhhat neljad6 wort.
Und wie tas Wind war üks, kaks, kolm7
Ich an tas Tell und Ort.
Vart’, tenkt ich, willst toch machen Paß
Mit oberpalse Wreind!
Tu willst ihm trehen lange Nas’;
Laß sehn, was tas toch meint!
(MalmMalm, Jacob Johann 1861: 3)
Auch in der estnischenEstland/Estoniaestnisch Literatur ist dieser Typus bekannt. Ein DialogDialog aus der Erzählung Veli Henn (1901) von August KitzbergKitzberg, August (1863–1955, Kitzberg 2002: 271) klingt wie folgt:
Kniks-Mariihen: „Bitte,“ ütles Mariihen. „Astuge aita, sääl on toolisid, ja võite ennast natuke erhoolida.“
„Herr Lehepuu, üks väga peenike kawalier, – herr Birkenbaum, minu Freundini Bräutigam, – herr Sissa, minu Tänzer, kui Vereinis ball oli, – herr Enilane, ka üks hää Tänzer…“
Anders als bei MalmMalm, Jacob Johann ist hier die syntaktische und grammatikalischeGrammatikgrammatikalisch Basissprache EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, in das deutscheDeutschlanddeutsch Wörter oder Ausdrücke eingebettet und grammatischGrammatikgrammatisch angepasst sind. Jedes zweite Wort in der Rede von Kniks-Mariihen ist deutschDeutschlanddeutsch: Bitte, erhoolida (erholen), Herr, Kawalier, Freundin, Bräutigam, Tänzer, Verein, Ball.
Ungeachtet der Basissprache wird in dieser Dichtung ein bestimmter sozialer Typus dargestellt, ein ‚Emporkömmling‘ meistens estnischer bzw. lettischerLettland/Latvialettisch Abstammung oder aber auch ein sozial heruntergekommener DeutscherDeutschlandDeutsche (ein sogenannter Klein-DeutscherDeutschlandDeutsche), der seine IdentitätIdentität/identity aufgegeben hat oder seine Position in der Gesellschaft ändern möchte und seine (vermeintliche) Bildung gern hervorkehrt. Dabei kann er z.B. ‚gehobene‘ deutschDeutschlanddeutsch- oder französischsprachige Sätze verwenden. Vahur Aabrams (Aabrams 2007) hat die halbdeutschsprachigeDeutschlandHalbdeutsch Dichtung als Erscheinung einer karnevalesken Kultur im Sinne von Michail BachtinBachtin, Michail interpretiert.
2.2 Unter textinterner ZweisprachigkeitZweisprachigkeit verstehe ich die Verwendung zweier Sprachen in einem Text, ohne Morphologie und Syntax einer Sprache an die Ziel- oder Basissprache anzupassen. Abrupt wird von einer Sprache in die andere übergegangen, wobei die Sprachen eine bestimmte kulturelle Funktion im Text haben. Diese Art von MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit nahm ihren Anfang mit kirchlichen Texten im 16. Jahrhundert und war noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im BaltikumBaltikum gebräuchlich. Ein früheres, charakteristisches Beispiel sind die hauptsächlich estnischsprachigen Predigten (1600–1608) des Tallinner Pastors Georg MüllerMüller, Georg (1570–1608), in denen deutscheDeutschlanddeutsch und lateinischeLateinLateinisch Passagen verwendet werden. Aus späterer Zeit könnte man das Stück Die väterliche Erwartung, eine ländliche Familien Scene in Esthland, mit Untermischten Gesängen (1789) von August von KotzebueKotzebue, August von (1761–1819) hervorheben, das auf der Bühne des Revaler Liebhabertheaters uraufgeführt wurde. Der dritte Akt des Stückes beginnt mit einem estnischsprachigen DialogDialog und die ganze Parallelhandlung findet auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian statt.
Textbeispiele für texinternen Bilinguismus aus dem 19. Jahrhundert sind etwa der zweisprachigeZweisprachigkeitzweisprachig Briefwechsel von Lydia KoidulaKoidula, Lydia (1843–1886), der ersten estnischenEstland/Estoniaestnisch Lyrikerin, und Friedrich Reinhold KreutzwaldKreutzwald, Friedrich Reinhold (1817–1903), dem Verfasser des estnischenEstland/Estoniaestnisch Nationalepos Kalevipoeg (Kalews Sohn).
2.3 Mit autorinternem Bilinguismus ist die Beteiligung eines Autors an zwei Literaturen gemeint, wie das etwa bei der Gelegenheitsdichtung des 17. Jahrhunderts nicht selten der Fall war. Der Autor schreibt in mehreren Sprachen, indem er seine SchriftspracheSchriftSchriftsprache entsprechend der Funktion, Gattung, dem Stil und Adressaten des Textes wählt, aber in einem Text durchgehend eine Sprache verwendet. Das allererste estnischsprachige Gedicht wurde im Jahre 1637 von dem gebürtigen Mecklenburger Reiner BrockmannBrockmann, Reiner (1609–1647), dem Professor des Revaler Gymnasiums, einem Freund von Paul FlemingFleming, Paul verfasst und trug den lateinischenLateinLateinisch Titel Carmen alexandrinum esthonicum ad leges Opitij poeticas compositum. Wie in der Barockdichtung üblich, hat Brockmann in mehreren Sprachen, u.a. auch auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, gedichtet. Sein Plädoyer für die estnischeEstland/Estoniaestnisch Sprache auf DeutschDeutschlandDeutsch klingt wie folgt:
Andre mögn ein anders treiben;
Ich hab wollen Esthnisch schreiben.
Esthnisch redet man im Lande/
Esthnisch redet man am Strande
Esthnisch redt man in der Mauren
Esthnisch redden auch die Bauren
Esthnisch redden Edelleute
Die Gelährten gleichfalls heute
Esthnisch redden auch die Damen
Esthnisch, die aus Teutschland kamen,
Esthnisch reden jung’ und alte.
Sieh, was man von Esthnisch halte?
Esthnisch man in Kirchen höret
Da Gott selber Esthnisch lehret.
Auch die klugen Pierinnen
Jetzt das Esthnisch lieb gewinnen.
Ich hab wollen Esthnisch schreiben
Andre mögn ein andres treiben.
(BrockmannBrockmann, Reiner 2000: 94–95.)
Die Landprediger Gotthard Friedrich StenderStender, Gotthard Friedrich (1714–1796) und Johann Wilhelm Ludwig LuceLuce, Johann Wilhelm Ludwig (1756–1842) haben ihre aufklärerischen SchriftenSchrift auf DeutschDeutschlandDeutsch, ihre volksaufklärerischenVolkvolksaufklärerisch Werke auf LettischLettland/LatviaLettisch/Latvian bzw. EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian verfasst; der Dichter Kristian Jaak PetersonPeterson, Kristian Jaak (1801–1822) hat seine Arbeiten zur Sprache und Religion auf DeutschDeutschlandDeutsch geschrieben, sein dichterisches Werk ist aber in estnischer Sprache verfasst (mit Ausnahme von einigen deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig Gedichten). Der Este (bzw. der estnischstämmige) Friedrich Robert FaehlmannFaehlmann, Friedrich Robert (1798–1850) verfasste seine berühmten EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian Sagen auf DeutschDeutschlandDeutsch, der DeutscheDeutschlandDeutsche (bzw. der deutschstämmige) Georg Julius von Schultz-BertramSchultz-Bertram, Georg Julius von (1808–1875) wiederum sein Epos Ilmatar (1870) auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian. Das estnischeEstland/Estoniaestnisch Nationalepos Kalevipoeg (unter dem Titel: Kalewipoeg. Eine estnischeEstland/Estoniaestnisch Sage, 1857–1861) erschien zum ersten Mal parallel auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian und DeutschDeutschlandDeutsch. Die Wahl der SchriftspracheSchriftSchriftsprache war meistens abhängig von der angestrebten Funktion des Textes und von dessen Adressaten (Undusk 1999). Auch in gelehrten Kreisen des beginnenden 20. Jahrhunderts kam es noch vor, dass man die Sprache nach der Funktion und Gattung des Textes und nach dem Adressaten wechselte. Zum Beispiel dichtete Axel KallasKallas, Axel (1890–1922) sowohl auf DeutschDeutschlandDeutsch als auch auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian. Im Jahre 1912 veröffentlichte er seinen deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig Lyrikband Am Moor (Dorpat 1912); im Jahre 1920 erschien noch ein deutschsprachigerDeutschlanddeutschsprachig „futuro-kubistischer“ Band Nervenvibrierungen im Tintengewande: Futuro-kubistsches. Ein Jahr darauf wechselte er seine Dichtungssprache und gab zwei Gedichtbände auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian heraus.
3 PostkolonialeKolonialismuspostkolonial MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in EstlandEstland/Estonia und LettlandLettland/Latvia
Erst durch die Geburt der neuen selbständigen Staaten EstlandEstland/Estonia und LettlandLettland/Latvia im Jahre 1918 haben EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian und LettischLettland/LatviaLettisch/Latvian den Status einer Staatssprache erreicht. Damit einher ging auch die Möglichkeit, die Sprache in allen Lebensbereichen zu verwenden, auf dem Gebiet der Wissenschaft etwa bedeutete das großteils das Betreten von Neuland.
In EstlandEstland/Estonia wurde vom neuen Staat allen nationalenNationnational MinderheitenMinderheit (8 % Russen und 1,7 % DeutscheDeutschlandDeutsche, SchwedenSchweden, IngermanländerIngermanländer und WotenWoten) eine damals weltweit beispiellose Kulturautonomie gewährt und auch die staatliche Kulturförderung war nicht explizit auf die Staatssprache beschränkt (Hasselblatt 1997: 37–46). Obwohl die deutscheDeutschlanddeutsch Bevölkerungsgruppe EstlandsEstland/Estonia immer kleiner wurde (im Jahre 1881 machte sie 5,3%, im Jahre 1887 3,5%, im Jahre 1922 1,7 und im Jahre 1934 nur noch 1,5% der gesamten Bevölkerung aus), spielte sie immer eine grosse Rolle auf politischemPolitik/politicspolitisch/political, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet. Neben estnischsprachigen Schulen existierten in EstlandEstland/Estonia während der Zwischenkriegszeit auch deutschsprachigeDeutschlanddeutschsprachig und russischsprachige, es erschienen Zeitungen und sonstige Periodika in einer Reihe von Sprachen (DeutschDeutschlandDeutsch, RussischRusslandRussisch/Russian, JiddischJiddisch, SchwedischSchwedenSchwedisch). Im Universitätsunterricht wurde in den 1920er Jahren noch DeutschDeutschlandDeutsch und RussischRusslandRussisch/Russian verwendet (estnischsprachige Fachliteratur gab es zunächst noch kaum), aber der Übergang zum EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian vollzog sich konsequent und letztlich auch erfolgreich.
Obwohl zur Zeit der Republik EstlandsEstland/Estonia die Intellektuellen und viele Staatsbürger und Einwohner des Landes faktisch mehrsprachigMehrsprachigkeitmehrsprachig waren, imstande, sich auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, DeutschDeutschlandDeutsch und RussischRusslandRussisch/Russian, in „den drei lokalen Sprachen“, wie es hieß, auszudrücken, nahm in der Literatur MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit allmählich ab.
Nach dem Zweiten WeltkriegWeltkriegZweiter Weltkrieg zerfiel die estnischeEstland/Estoniaestnisch Literatur in zwei Teile, und da das Schicksal viele SchriftstellerInnen als Exilierte ins Ausland – nach SchwedenSchweden, Kanada, Australien, in die Vereinigten Staaten oder sonstwohin – verschlagen hatte, wurde ExophonieExophonie in der estnischenEstland/Estoniaestnisch Literatur zu einem Phänomen, das vor allem für die Textproduktion von ExilautorInnen charakteristisch war. Während die erste Generation estnischer ExilautorInnen vorwiegend auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian geschrieben hat, konnten die im Kindesalter aus dem estnischenEstland/Estoniaestnisch Sprachraum Herausgerissenen gelegentlich bereits in zwei Sprachen schreiben. Elin ToonaToona, Elin (1937) hat ihren im schwedischenSchwedenschwedisch Lund 1969 erschienenen Roman Lotukata auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian und EnglischEnglisch/English (unter dem Titel In Search of Coffee Mountains) verfasst. Karin SaarsenSaarsen, Karin (1926–2018) hat auf SchwedischSchwedenSchwedisch und EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian geschrieben. Ihr letzter Lyrikband Lõvi ja orhidee (Löwe und Orchidee) enthält Gedichte auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, SchwedischSchwedenSchwedisch, EnglischEnglisch/English, DeutschDeutschlandDeutsch und FranzösischFrankreichFranzösisch.
Auf DeutschDeutschlandDeutsch haben die estnischenEstland/Estoniaestnisch ExilautorInnen allerdings nur noch selten geschrieben. Fast eine Ausnahme bildet das Werk von Ivar IvaskIvask, Ivar (1927–1992). Ivask wurde 1927 in Riga (man könnte sagen: auf der größten deutschenDeutschlanddeutsch Sprachinsel des BaltikumsBaltikum) als Sohn eines estnischenEstland/Estoniaestnisch Vaters und einer lettischenLettland/Latvialettisch Mutter geboren und wuchs mehrsprachigMehrsprachigkeitmehrsprachig auf: neben EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian wurde zu Hause auch LettischLettland/LatviaLettisch/Latvian und DeutschDeutschlandDeutsch gesprochen. Unter dem Einfluss von Rainer Maria RilkeRilke, Rainer Maria schrieb der 16-jährige seine ersten Gedichte in deutscherDeutschlanddeutsch Sprache. Vor der sowjetischenSowjetunionsowjetisch/Soviet Besatzung floh er 1944 nach DeutschlandDeutschland, erhielt seine akademische Bildung als Germanist in Marburg, wurde später Professor für vergleichende LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft an der University of Oklahoma und Chefredakteur der angesehenen Fachzeitschrift World Literature Today. Auf seine Initiative geht auch der renommierte Neustadt International Prize for Literature zurück. Ivask schrieb seine Lyrik auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, EnglischEnglisch/English und DeutschDeutschlandDeutsch (die nichtestnischen Werke sind Gespiegelte Erde (1967) und Baltic elegies (1987)).
Im Vorwort zu IvasksIvask, Ivar deutschsprachigem Gedichtband schreibt Herbert Eisenreich, dass Ivar Ivask mit seinem Gedichtband der deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig Lyrik etwas Neues brachte und erklärt das wie folgt: Ivasks deutscheDeutschlanddeutsch Gedichte gewinnen, sagt er,
ihre Eigentümlichkeit und ihren doppelten Wert, den des Gefühlten und den des Gesagten, offensichtlich in dem Prozess und durch den Prozess der Aneignung: da, in dem doch fremdenFremdheitfremd IdiomIdiom, wurde einem nichts geschenkt, man musste es teuer erkaufen, verzweifelt erobern – und gelangte just dadurch weit über das Konventionelle hinaus (mit den geradezu unverfroren zusammengesetzten Hauptwörtern, zum Beispiel, oder in der naiven Wiedergewinnung der Anschaulichkeit von scheinbar verbrauchten Wort-Bildern). Oder anders ausgedrückt: Ich merke, dass da jemand Fremder meine MutterspracheMuttersprache/mother tongue spricht, und in dieser winzigen FremdheitFremdheit klingt sie, im allergenauesten Wortsinn, unerhört, in dieser winzigen Fremdheit hat sie nun wieder jungfräuliche Reinheit. Und mit dem fremdenFremdheitfremd Akzent sagt sie, diese Sprache, mir mehr, als sie’s in meinem eignen, gleichsam routinierten Gebrauch vermag. […] In diesen Versen [ist] fortgebildet, wie man im andern, im Fremden, zu sich kommt. Und vice versa.
(Eisenreich 1967: 7.)
Die im ExilExil geborene Generation schrieb allerdings (fast) nicht mehr auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, ihre Schaffenssprache wurde meistens die Sprache ihrer jeweiligen Wahlheimat.
In Sowjet-EstlandEstland/Estonia gelang es gleichzeitig, allen RussifizierungsversuchenRussifizierung zum Trotz, die estnischsprachige Bildung auf allen Ebenen – eine Errungenschaft der Vorkriegszeit –aufrechtzuerhalten, auch wenn gelegentlich die Verwendung russischerRusslandrussisch Sprache von den Autoritäten stark bevorzugt und gefördert wurden. Der westliche Teil der SowjetunionSowjetunion ist ein aufschlussreiches Untersuchungsfeld für all diejenigen, die sich für die Frage interessieren, wie Sprachen auf historischhistorisch-politische Umstände reagieren und ihrerseits darauf Einfluss nehmen können. Im Fall Sowjet-EstlandsEstland/Estonia folgte auf den politischPolitik/politicspolitisch/political und bildungspolitisch mit allen Mitteln geförderten Sprachwechselkurs zum RussischenRusslandRussisch/Russian hin als Reaktion eine verstärkte Pflege der estnischenEstland/Estoniaestnisch Sprache, bis hin zur Konservierung, eine von der Mehrheit der Urbevölkerung wohl als Selbstverständlichkeit empfundene Verwendung der estnischenEstland/Estoniaestnisch Sprache in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Man erwarb bis zum Ende der SowjetzeitSowjetunionSowjetzeit zwar relativ gute Kenntnisse der russischenRusslandrussisch Sprache, aber die Übernahme von Sprachelementen aus dem RussischenRusslandRussisch/Russian blieb trotzdem eher recht gering und oberflächlich.
EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian-russischerRusslandrussisch BilingualismusbilingualBilingualismus kam und kommt im Alltag zwar vor (siehe Verschik 2005; Verschik-Bone 2018), ExophonieExophonie gibt es in der Literatur trotzdem nur vereinzelt.
