Kitabı oku: «Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft», sayfa 5

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2.3 Sozio-historische Konkretisierung128

Die zentrale These unseres Buches lautet, dass die kulturelle Revolution der 1960er Jahre zu einem neuen Regime religiös-säkularer Konkurrenz geführt hat. Sowohl vorher als auch nachher finden wir religiös-säkulare Konkurrenz um Herrschaft und individuelle Nachfrage. Aber die Form dieser Konkurrenz hat sich in den 1960er Jahren signifikant verändert. Vor der 1960er Revolution wurde Religion und Religiosität als etwas Öffentliches angesehen, und die Gesellschaft als Ganzes verstand sich als bikonfessionell, d. h. als – trotz aller konfessionellen Verschiedenheit – christlich. Dies führte zu diversen intra-religiösen und religiös-säkularen Konkurrenzkämpfen vor allem um Macht, Einfluss und Deutungshoheit. Nach dem Wechsel des Konkurrenzregimes wurde die Gesellschaft als im Wesentlichen pluralistisch gesehen, Religion und Religiosität wurden immer mehr als Privatsache empfunden, was zu neuen Formen der Konkurrenz – und zwar vor allem um individuelle Nachfrage – führte. Es versteht sich von selbst, dass wir im Folgenden keine umfassende Geschichte dieser Konkurrenzkämpfe in der Schweiz vorlegen können. Unser Ziel ist, die wichtigsten dieser Konkurrenzgeschehen zu skizzieren, um die allgemeine Theorie und die These des Wechsels des Konkurrenzregimes plausibel zu machen und anschliessend Hypothesen ableiten zu können. |47|

Religiös-säkulare Konkurrenz in der industriellen Gesellschaft

Die Schweiz ist seit dem 16. Jahrhundert ein lockerer Bund von Kantonen und Gebieten, wobei die Kantone sich (meist) vollumfänglich der einen oder anderen Konfession zuordneten. Die Herrschaftsverhältnisse waren in Stadtkantonen (Patrizierherrschaft), Landkantonen (z. T. direkte Demokratie) und Untertanengebieten (das ganze Gebiet ist einem anderen Kanton unterstellt) sehr unterschiedlich. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts (Einmarsch von Napoleon 1789, Helvetik, Mediation, Restauration) begann die Schweiz sich mehr und mehr zu demokratisieren und zu industrialisieren. Im Zeitraum zwischen 1800 und 1950, den wir als das «Konkurrenzregime der Industriegesellschaft» bezeichnen wollen, treffen wir in einer sich insgesamt als christlich empfindenden Schweizer Gesellschaft auf diverse intra-religiöse und religiös-säkulare Konkurrenzverhältnisse.

Eine erste zentrale Konkurrenzbeziehung bestand zwischen liberalen, protestantischen und konservativen katholischen Kräften. Schon oft hatte es in der Eidgenossenschaft Konflikte zwischen den konfessionell unterschiedlich ausgerichteten Kantonen gegeben. Im 19. Jahrhundert jedoch erhielten sie eine neue Färbung. Der Konflikt zwischen Anhängern der neuen, demokratischen und liberalen Gesellschaftsordnung und den Verfechtern der alten, vormodernen Gesellschaftsordnung ging in den verschiedenen Kantonen unterschiedlich aus. Während sich in den protestantischen Stadtkantonen die Liberalen durchsetzten, siegten in den katholischen Landkantonen die Konservativen. So wurde der Gegensatz liberal/konservativ konfessionalisiert. Zunehmende Spannungen und Provokationen auf beiden Seiten (Aufhebung von Klöstern durch protestantische Kantone, Berufung des Jesuitenordens im katholischen Luzern) führten schliesslich zum Sonderbundskrieg von 1847. Dieser Krieg endete mit einem Erfolg der liberal-protestantischen Seite und der Gründung des schweizerischen Bundesstaates 1848. Mit der Bundesverfassung entstand das noch heute gültige System der zweistufigen Struktur des Kirche-Staat-Verhältnisses. Die Bundesverfassung garantierte Religionsfreiheit, das Verhältnis von Kirche und Staat wurde den Kantonen überlassen, die ihr jeweiliges Kirche-Staat-Verhältnis ganz unterschiedlich gestalteten: von strikter Trennung bis zu starker Verschränkung. Die antimodernistische Haltung Roms, offenkundig im Syllabus vom 8.12.1864 und dem Unfehlbarkeitsdogma von 1870, führten in der Schweiz zu einem neuen Aufleben der Spannungen und einem «Kulturkampf», der wieder von der liberalen Seite für sich entschieden wurde. In die revidierte Bundesverfassung von 1874 wurden denn auch antikatholische Artikel aufgenommen (z. B. das Verbot, neue Klöster zu gründen oder das Verbot des Jesuitenordens). In der Folge lebte die katholisch-konservative Schweiz in einer Art «Sondergesellschaft», die mit der liberal-protestantischen Schweiz in einem ständigen Spannungsverhältnis stand und sich nur langsam |48| integrieren liess.129 Das katholische Milieu mit seinen eigenen Kantonen, Zeitungen, politischen Parteien, Vereinen, Universitäten usw. war in gesellschaftlicher Hinsicht von grosser Wichtigkeit. Eine letzte Blüte erlebte es in den 1950er Jahren, bevor es dann in den 1960er Jahren zusammenbrach. Das katholische Milieu war eine Negativfolie für die Konfession der Reformierten. Reformierte waren sich aufgrund ihres liberalen Credos über so gut wie nichts einig, ausser eben: nicht katholisch zu sein. Der Gegensatz katholisch-reformiert war also für beide Seiten bis in die 1950er Jahre in höchstem Masse Identität stiftend.130

Ein zweites wichtiges Konkurrenzverhältnis bestand aus der Konfrontation von liberalen und konservativen Richtungen innerhalb der Konfessionen.131 Auf katholischer Seite bekämpften sich liberale und ultramontane, romtreue Katholiken, was auf dem Höhepunkt des Konflikts 1872 zur Entstehung der liberalen Christkatholiken führte. Innerhalb des Protestantismus bekämpften sich während des ganzen 19. Jahrhunderts eine dominante liberale Richtung und eine positive (konservative, bibeltreue) Richtung.132 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts mischte sich auch noch eine religiös-soziale Richtung ein. Zentrale Streitpunkte zwischen Liberalen und Positiven war die Frage, ob bzw. wie sehr man die Bibel historisch-kritisch lesen müsse bzw. inwiefern die Bibel supranaturalistisch interpretiert werden könne. Während Liberale wie etwa Alois Biedermann oder David Friedrich Strauss allen Supranaturalismus ablehnten (z. B. die von Jesus gewirkten Wunder), die verbindlichen Bekenntnisse abschafften und die christliche Botschaft im Wesentlichen ethisch interpretierten, hielten die Positiven an ihrem Glauben an die übernatürliche Wirksamkeit Gottes fest. Da die Positiven im Konkurrenzkampf meist das Nachsehen hatten und inzwischen Religionsfreiheit herrschte, verliessen sie oft die Kirchen, um eigene evangelische Freikirchen zu gründen. In der Romandie entstand so der «Réveil».133 Viele der damals entstandenen Gemeinschaften machen noch heute einen wichtigen Teil des «freikirchlichen Milieus» aus.

Eine dritte Konkurrenzbeziehung bestand zwischen der Sozialdemokratie und dem (christlichen) Establishment. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert führte zur Verarmung der Arbeiterklasse, was Ende des Jahrhunderts als die «soziale |49| Frage» beschrieben wurde.134 Die Arbeiter begannen sich ihrerseits zu organisieren; 1880 entstand der Schweizerische Gewerkschaftsbund, 1888 wurde die sozialdemokratische Partei gegründet. Innerhalb von Gewerkschaften und Partei war marxistisches, klassenkämpferisches und atheistisches Gedankengut zwar umstritten, setzte sich aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch. Zu einem Höhepunkt gelangte die Auseinandersetzung während des Generalstreiks 1918, der mit Hilfe der Armee zerschlagen wurde. In der Folge wurden allerdings viele Forderungen der Arbeiter schrittweise erfüllt, so dass die Spannungen abgebaut werden konnten.135 Für die Frage des religiösen Feldes der Schweiz war dieses Konkurrenzgeschehen insofern äusserst wichtig, als hier zum ersten Mal eine grosse Volksbewegung explizit marxistisch-atheistisches Gedankengut vertrat und den Kirchen z. T. feindselig gegenübertrat.136 Die religiös-sozialen Bewegungen sowohl im protestantischen wie auch katholischen Lager versuchten, dieses Problem aufzufangen, indem sie die Interessen der Arbeiterklasse aus dezidiert christlicher Sicht vertraten.

Eine vierte Konkurrenzbeziehung entstand zwischen verschiedenen Berufsgruppen, v. a. im 19. und 20. Jahrhundert. Hier ging es um die Frage der legitimen Zuständigkeit bezüglich verschiedener Tätigkeiten. Insbesondere Lehrer/innen, Sozialarbeiter/innen und Krankenpfleger/innen versuchten, sich von der Aufsicht durch die Kleriker zu befreien.137 Schulen waren beispielsweise ursprünglich ausschliesslich kirchlich organisierte, später dann oft noch kirchlich beaufsichtigte Anstalten. Eines der wichtigsten Erziehungsziele des Schulwesens noch im 19. Jahrhundert war es, die Kinder zu rechten Christen zu machen – und das hiess gleichzeitig: zu rechten Bürgerinnen und Bürgern.138 Immer stärker entwickelte das Schul- und Erziehungswesen jedoch von Religion unabhängige Ziele sowie mit den Erziehungswissenschaften ein eigenes Reflexionssystem: die Pädagogik. Um 1900 war dann die allgemeine, unentgeltliche und unter staatlicher Aufsicht stehende (Primar-)Schule durchgesetzt.139 |50|

Eine fünfte und letzte Konkurrenzbeziehung schliesslich entstand zwischen religiösem Handeln und der Erwerbstätigkeit.140 Im 19. Jahrhundert versuchten Unternehmer, die Sonntagsarbeit durchzusetzen, um höhere Gewinne erwirtschaften zu können. Barth141 zitiert einen Bericht der zürcherischen Synodalkommission für Innere Mission, in dem es heisst:

Nicht selten können Lehrknaben oder Dienstboten den Gottesdienst nicht besuchen, weil sie arbeiten oder dann den Platz verlieren müssen. In andern Gegenden sind es die Seidenweberinnen und Weber, welche fleissig dran sind, weil sie «pressierte Wübber» haben und Abzug droht.

Die Kirchen – gemeinsam mit den sozialistischen Kräften – stellten sich diesen Bestrebungen erfolgreich entgegen. Diese Konkurrenz sollte sich untergründig während des ganzen 20. Jahrhunderts weiterziehen.

Nimmt man all diese Konkurrenzkämpfe von 1800 bis in die 1950er Jahre (im «Konkurrenzregime der Industriegesellschaft») gemeinsam in den Blick, so wird deutlich, dass die Religion und die Kirchen in diesem Zeitraum innerlich stark geschwächt wurden. Auf Bundesebene hatte der liberale Staat konfessionelle Neutralität eingeführt, die Kantone hatten viele ehemalige Funktionen der Kirchen an sich gezogen, die Forderungen des katholischen Submilieus waren grossteils erfüllt worden (deshalb war das Milieu auch nicht mehr überlebensnotwendig), verschiedene konkurrenzierende Ideologien (Nationalismus, Sozialismus, Liberalismus) waren auf den Plan getreten und hatten die religiösen Wahrheiten ihrer ehemaligen Monopolstellung enthoben, neue Berufe hatten den religiösen Spezialisten Aufgaben entrissen.

Dieser Niedergang wurde allerdings nicht oder nur zum Teil als solcher bewusst. Die Schweizer Gesellschaft blieb bis zum Ende der 1950er Jahre der Auffassung, dass sie selbst eine christliche Gesellschaft sei. Das war einerseits schon dadurch zu begründen, dass über 97 % der Bevölkerung einer christlichen Konfession angehörten (1900: 99,4 %, 1950: 97,8 %) und dass diese Mitgliedschaft als nicht individuell wählbar erschien.142 Wie seit Jahrhunderten wurde das Individuum |51| in seine Religion «hineingeboren», als Kind getauft, innerhalb des eigenen konfessionellen Milieus sozialisiert, mit einem Übergangsritus (Konfirmation, Firmung) zum vollwertigen Gesellschafts- und Kirchenmitglied gemacht und nach dem Ritus der eigenen Konfession bestattet. Andererseits hatten die beiden Weltkriege eine wichtige Rolle gespielt. Die Schweiz war wie durch ein Wunder vom Kriegsgeschehen verschont worden. Eine Strategie während dieser Zeit war die «geistige Landesverteidigung» gewesen, d. h. eine Betonung der spezifischen Schweizer Eigenart zunächst gegenüber der deutschen Blut-und-Boden-Ideologie, dann gegenüber dem Kommunismus.143 In beiden Fällen wurde die Schweiz als ein Hort der Demokratie, der Vielsprachigkeit, der Freiheit und nicht zuletzt auch des christlichen Glaubens dargestellt – in Absetzung von den atheistischen Nazis und Kommunisten.144

Die 1950er Jahre lassen uns dieses Paradox von hintergründiger Schwächung und vordergründiger Stärkung der Religion nochmals wie durch ein Vergrösserungsglas betrachten. In den 1950er Jahren traten Phänomene auf, die auf die baldige kulturelle Revolution hinführten und diese vorbereiteten. Hier ist insbesondere der Wirtschaftsboom und der damit zusammenhängende Massenkonsum zu nennen. Eine ständig wachsende Anzahl von neuen Produkten kam auf den Markt, der Staubsauger, die Waschmaschine, der Mixer, der Fernseher, die vollautomatische Heizung usw. Dank des steigenden Einkommens konnten sie von der grossen Masse der Bevölkerung auch gekauft werden.145 Es ist kein Zufall, dass man vom «Volkswagen» und, zumindest anfangs, auch vom «Volkskühlschrank» sprach.146 Eine extreme Wirkung zeitigte das Auto, das eine völlig neuartige Berufs- und Freizeitmobilität ermöglichte.147 Das Magazin «Touring» schrieb 1952 begeistert:

Gibt es wohl ein genussvolleres Wandern kreuz und quer durch die Schweiz als mit dem Auto? – Kaum! Mit dem Auto sind die Sprünge noch kleiner geworden; dem Menschen wurden märchenhafte Siebenmeilenstiefel geschenkt. («Touring», 15/1952)148 |52|

Diese neue Massen-Konsum-Kultur beeinflusste insbesondere auch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sie konnten nun selbst konsumieren und waren zu einer eigenen, von der Wirtschaft und Werbung fokussierbaren Gruppe geworden. Hierdurch entwickelten sich ansatzweise schon in den 50er Jahren neue Jugendkulturen (Halbstarke) und Freizeitbeschäftigungen (Tanzhallen, Lichtspieltheater).

Die neuen Möglichkeiten der Menschen wurden allerdings nicht nur durch ihr individuelles steigendes Einkommen vervielfacht; auch der Staat hatte hier einen wichtigen Einfluss. Aufgrund des Wirtschaftswachstums stiegen die Staatseinkünfte und ermöglichten die Bereitstellung kollektiver Güter von nie gekannten Ausmassen. Hierzu gehörten, um nur zwei Beispiele zu nennen, die Einführung der Alters- und Hinterlassenen-Versicherung (AHV, Einführung 1948) oder der Ausbau eines umfangreichen Strassen- und Schienennetzes.149 Auch hierdurch stiegen die säkularen Optionen der Individuen in signifikantem Masse.

Gleichzeitig sind die zweite Hälfte der 1940er und die 1950er Jahre eine Zeit der (zumindest scheinbaren) Stabilität bezüglich geltender Werte, moralischer wie religiöser Haltungen.150 Nach den Kriegsjahren schienen die Menschen ein Bedürfnis nach Normalität, Sicherheit, Ruhe, Ordnung und konservativen Werten zu haben. Eine solche Normalität wollte man insbesondere in der Familie finden, die noch nach traditionellen Geschlechterrollen organisiert wurde. Es ist folgerichtig, dass 1946 ein Artikel zum Schutz der Familie in die Verfassung aufgenommen wurde. Zu diesem wertmässigen Konservatismus passten – bei aller konfessioneller Verschiedenheit – die damaligen Positionen der Kirchen. Und hierdurch erklärt sich zum Teil eine (wiederum: zumindest scheinbare) religiöse Renaissance. Die Kirchen nahmen am allgemeinen Wirtschaftsaufschwung teil, ihre Mitgliederbestände wuchsen (in absoluten Zahlen) aufgrund des starken Bevölkerungszuwachses, sie bauten neue Kirchen, und sie standen für die Legitimierung der Pflicht- und Akzeptanzwerte, die diesen Jahren so wichtig waren. Insbesondere die katholische Kirche zeigte sich bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil als unnachgiebige Verteidigerin konservativer moralischer und religiöser Werte. Gleichzeitig konnten die Kirchen punkten, indem sie sich als Hüterinnen des Friedens zeigten.

Ein Beispiel für die Konservativität der 50er Jahre ist die Affäre rund um den Maler Kurt Fahrner.151 Dieser stellte sein Gemälde «Bild einer gekreuzigten Frau unserer Zeit» (eine nackte Frau an einem Kreuz) am 29. April 1959 auf dem Barfüsserplatz |53| in Basel öffentlich aus. Er wurde von der Polizei verhaftet, das Bild wurde konfisziert und Fahrner zu drei Tagen Gefängnis auf Bewährung und 100 Franken Geldbusse verurteilt. Die Richter führten in der Urteilsbegründung an: eine «solche ans Unzüchtige grenzende Darstellung, mit dem Erlösungstod Christi in Parallele gesetzt […] verletzt in gemeinster Weise die religiöse Überzeugung anderer».152

Es scheint gerade dieser Widerspruch der 1950er Jahre gewesen zu sein, der später zum Ausbruch der Revolution der 1960er Jahre geführt hat: einerseits die neuen Möglichkeiten des Handelns aufgrund des Wirtschaftsaufschwungs und des Massenkonsums, andererseits die Wahrung des althergebrachten moralisch-wertmässig-religiösen Korsetts.

Fassen wir zusammen: Innerhalb des alten Konkurrenzregimes kam es zu heftigen Konkurrenzkämpfen sowohl zwischen Konfessionen als auch zwischen religiösen und säkularen Parteien. Dennoch blieb trotz einer durch diese Kämpfe schrumpfenden Anzahl von Funktionen der Kirchen die Annahme einer grundsätzlich christlichen Legitimation des Gesamtsystems bestehen. Das sollte sich in den 1960er Jahren ändern.

Der Wechsel des Konkurrenzregimes der 1960er Jahre

In den 1960er Jahren kam es in der Schweiz – wie in fast allen westlichen Ländern – zu einer kulturellen Revolution, die kein an sich religiös-säkularer Konflikt war, aber dennoch das gesamte gesellschaftliche Gefüge so auf den Kopf stellen sollte, dass die intra-religiösen und religiös-säkularen Konkurrenzkämpfe von nun an in anderer Weise ablaufen mussten.153

Bei der kulturellen Revolution der 1960er Jahre handelte es sich zunächst um einen Generationenkonflikt: Eine junge Generation lehnte sich gegen die Älteren und deren – wie man dachte – veraltete, spiessige und langweilige Lebens- und Wertvorstellungen auf. Die 1968er Revolution kristallisierte sich an einer Reihe bevorzugter Themen. Die Akteure kritisierten insbesondere den Vietnamkrieg, den Kolonialismus, Imperialismus, Militarismus und Faschismus. Sie widersprachen jeglicher Autorität, sei diese nun staatlich, universitär, elterlich oder kirchlich. Ein zentrales, eng damit verbundenes Thema war die individuelle Freiheit: Das Individuum sollte frei von jeglichem Zwang selbst entscheiden dürfen und |54| seine ganz individuellen Wünsche, insbesondere auch seine Sexualität, völlig selbstbestimmt ausleben können.154 Die damalige Zeit wurde von vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen als eine äusserst emotionale Phase erlebt, in der die Welt aus den Fugen geriet und alles möglich schien. Die Beatles fassten das Lebensgefühl zusammen in ihrer Hymne «All You Need Is Love», und Cat Stevens sang 1971:

If you want to sing out sing out / and if you want to be free be free / there’s a million ways to be / you know that there are155

Die Jugendlichen konsumierten jetzt eine neue, sich als gegenkulturell verstehende Musik (Beatles, Rolling Stones, Doors, in der Schweiz: les Sauterelles um Toni Vescoli), unkonventionelle Kleidung und Haartracht (bunte, weite Kleidung, lange Haare für Männer, kurze für Frauen), alternative Freizeitbeschäftigungen (Sit-ins, Teach-ins, Happenings). Vor allem die junge Generation der Städte und in besonderem Masse die Studentinnen und Studenten wurden von der Revolution erfasst.156

Die neuen individualistischen Wert- und Lebensweisen blieben jedoch keineswegs auf die städtischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen beschränkt, sondern breiteten sich von Jungen auf ältere Generationen, von den Städten aufs Land und von höheren Bildungsschichten auf alle Schichten aus. Die Ausbreitung auf alle Altersgruppen geschah nicht so sehr dadurch, dass die Älteren die neuen Werte angenommen hätten, sondern durch die Tatsache, dass ältere Generationen mit traditionellen Vorstellungen wegstarben und die nachkommenden Generationen von Anfang an die neuen Werte hochhielten. Die Ausbreitung von der Stadt aufs Land wurde massiv durch die neue Mobilität (Auto, Ausbau des Schienenverkehrs) begünstigt: Immer mehr Menschen lebten in der Agglomeration oder auf dem Land und pendelten zum Arbeiten und zu Freizeitzwecken in die Stadt.

Grafik 2.2: Schematische Darstellung des Regimewechsels religiös-säkularer Konkurrenz


Die Revolution der 1960er Jahre hatte verschiedene äusserst wichtige Auswirkungen auf Religion. Wir können sie an drei zentralen Punkten festmachen. Erstens bewirkte sie, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Religion und die Kirchen als eine der verschiedenen Autoritäten angriffen und herausforderten. Die Kirchen hatten zwar in den letzten Jahrzehnten ständig Funktionen verloren, |55| aber sie waren bis in die 50er Jahre immer noch in der Lage gewesen, die Schweizer Gesellschaft als Ganzes zu legitimieren. Durch die kulturelle Revolution der 60er Jahre wurde ihnen diese Funktion abgesprochen, und zwar von aussen wie von innen.157 Zweitens führten die neuen Lebensumstände der 50er und 60er Jahre mit ihren extremen Einkommenssteigerungen und den neuen Freizeitoptionen dazu, dass die kirchliche Jugendarbeit – die bisher einen wichtigen Stellenwert innehatte – von den säkularen Konkurrenzangeboten ausgehebelt wurde. Schon in den 1940er und 1950er Jahren hatte sich abgezeichnet, dass die kirchlich organisierten Freizeitaktivitäten einen schweren Stand haben würden – jetzt wurden sie oft einfach weggefegt. Drittens kam es interessanterweise auch innerhalb der Grosskirchen zu eigentlichen Revolutionen. Auf der Seite der Katholiken war das II. Vatikanum ein einschneidendes Ereignis, das zu riesigen Veränderungserwartungen führte; auf der Seite der Reformierten hatten extrem institutionskritische Gedanken wie auch die Idee vom «Tod Gottes» Konjunktur. 1971 schrieb der Kirchenhistoriker Kurt Guggisberg über das vorangegangene Jahrzehnt: |56|

Als im Jahre 1962 das umfangreiche «Handbuch der reformierten Schweiz» eine Heerschau des damaligen Protestantismus vorführte, schienen die hergebrachten kirchlichen Strukturen noch unangefochten zu sein. Alles ist seither von den revolutionär eingestellten Theologen und Laien als überholt und verbesserungsbedürftig verworfen worden.158

Dabei waren die 1960er Jahre kein besonders säkulares Jahrzehnt. Im Gegenteil: Es handelte sich um Jahre grossen – wenn auch kritischen – religiösen Interesses. Die Kirchen wurden zwar kritisiert, aber man sprach über sie. Viele Menschen hielten das Jahrzehnt für eine Zeit neuen religiösen Aufbruchs. Wenige sahen den bevorstehenden Sturzflug der Kirchen voraus.

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