Kitabı oku: «Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft», sayfa 4

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Die sich wandelnde Vorteilhaftigkeit von Religion

Aus der genannten Definition folgt aber auch eine weitere Annahme unserer Theorie: der Wandel der Vorteilhaftigkeit von Religion und religiösen Strukturen im Zeitverlauf. Während langer Phasen der Gesellschaftsentwicklung brachten religiöse Strukturen viele Vorteile, da «unlösbare» Probleme dennoch einer Bearbeitung zugeführt werden könnten: Viele Krankheiten, Naturkatastrophen, persönliche Armut, die Entstehung der Welt oder die Entstehung des Menschen in früheren Gesellschaften liessen sich nur schwer kontrollieren oder erklären und waren daher für eine religiöse Behandlung geradezu prädestiniert.91

Seit der Neuzeit zeigt sich nun aber, dass säkulare Innovationen oft eine höhere Kontrolle und ein besseres Verständnis ermöglichen, wodurch Phänomene dem religiösen Bereich tendenziell entzogen werden. Beispiele sind etwa die Entdeckung von Bakterien und Viren, die Kontrolle von Risiken durch Versicherungen, |36| die Entdeckung der ökonomischen Ursachen von Armut, die Entdeckung der fortwährenden Expansion des Universums oder die Entdeckung der Gesetzmässigkeiten der Evolution. Diese Innovationen führen nun aber nicht direkt und notwendig zu einem Entzug von Themen und Zuständigkeiten aus dem religiösen Bereich. Vielmehr verändern sie die Rahmenbedingungen der Konkurrenzverhältnisse, in denen sich die verschiedenen Akteure befinden. Es ist erst der Ablauf des Konkurrenzgeschehens, der zu den je ganz verschiedenen möglichen sozialen Ergebnissen führt.

Diese Konzeption erklärt, warum wir in sich modernisierenden Gesellschaften einerseits einen einheitlichen Gesamttrend der Säkularisierung beobachten, andererseits die Arten, wie die Entwicklungen ablaufen, sich zwischen verschiedenen Ländern und Regionen extrem unterscheiden.92

Grafik 2.1: Die Theorie religiös-säkularer Konkurrenz


Soziale Konkurrenz
Religiöse und säkulare Anbieter und kollektive Akteure

Das Herzstück unserer Theorie bezieht sich auf religiös-säkulare und intra-religiöse Konkurrenzbeziehungen. Hier operieren religiöse und säkulare Anbieter und kollektive Akteure. Es handelt sich um ganz konkrete Gruppen, Organisationen, Milieus, die sich für die Ziele ihrer Gruppe einsetzen. Die Art der Gruppen, Organisationen und Milieus ist extrem vielgestaltig. Es kann sich um religiöse bzw. säkulare Berufsgruppen (z. B. Kleriker, Ärzte), Organisationen, politische Parteien, Eliten und selbst den Staat handeln. Diese kollektiven und individuellen Akteure kämpfen gemäss unserer Theorie um drei erstrebenswerte Konkurrenzobjekte.

Eine erste Konkurrenzebene betrifft Konkurrenzen um die Macht auf der Ebene der Gesamtgesellschaft.93 Hier kämpfen religiöse und säkulare Akteure um die Frage der herrschenden Ordnung, um die Deutungshoheit, um die Regeln des Zusammenlebens und die Zuständigkeit für die Lösung von Problemen.94 Einerseits geht es um die Ausgestaltung des Konkurrenzregimes, d. h. um die Frage nach den Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren, mit denen legitime Macht, Einfluss und |37| Deutungshoheit in der Gesellschaft geregelt werden.95 Auf der anderen Seite kämpfen die kollektiven Akteure um Macht, Einfluss und Deutungshoheit innerhalb eines jeden gegebenen Konkurrenzregimes. Beispiele lassen sich leicht finden. So kämpften während der iranischen Revolution 1979 säkulare und religiöse Parteien um die Macht im Land.96 In den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts stritten in Deutschland Nazi- und katholische Jugendgruppen um den Einfluss auf die deutsche Jugend.97 Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wetteiferten Kleriker und Neurologen darum, wer für «persönliche Probleme» zuständig war.98

Aber nicht nur auf der Ebene der Gesamtgesellschaft, sondern auch auf der zweiten Ebene von Gruppen, Organisationen und Milieus kommt es zu Konkurrenzierungen um Macht, Einfluss und Deutungshoheit99. Hier stehen etwa Fragen nach der generellen Marschrichtung der Gruppe, nach der Legitimation der Zuständigkeit für wichtige Aufgaben im Vordergrund. So kämpften verschiedene muslimische Strömungen nach dem Tod von Mohammed um die legitime Nachfolge, was zur bekannten Trennung von Sunniten und Schiiten führte. Während des II. Vatikanums stritten konservative und reformwillige Katholiken um die Reichweite der anzustrebenden Reformen. Und im späten 19. Jahrhundert kam es in vielen protestantischen Gemeinden der Schweiz zu erbitterten Kämpfen zwischen Gemeindemitgliedern um eine «positive» (supranaturalistische) oder eine «liberale» (v. a. ethische) Bibelauslegung.

Eine dritte Ebene der Konkurrenz bezieht sich nicht so sehr auf Macht als vielmehr auf die individuelle Nachfrage nach Gütern. Gemeint ist die Tatsache, dass religiöse und säkulare «Anbieter» miteinander in Konkurrenz um Güternachfrage, Partizipation und Spenden der Individuen stehen.100 Die Konkurrenz entsteht, weil die Güter religiöser und säkularer Anbieter oft die gleichen Bedürfnisse befriedigen. Wer aufgrund einer Depression ein Bedürfnis nach Hilfe hat, kann das religiöse Gut «Seelsorge» nachfragen – aber es gibt einen säkularen Konkurrenten im säkularen Gut «Psychotherapie». Das Bedürfnis nach sozialen Kontakten |38| kann durch das religiöse Gut «aktive Mitgliedschaft in einer Gemeinde» befriedigt werden – aber es gibt viele säkulare Konkurrenten: Sportclubs, Vereine aller Art, Nachbarschaftsnetzwerke usw. Je nach betrachtetem Bedürfnis treten andere Konkurrenten von religiösen Anbietern in den Blick (Tabelle 2.1).101

Tabelle 2.1


Von Religion behandelte BedürfnisseReligiöse KonkurrentenMögliche säkulare Konkurrenten
Hilfe in ProblemsituationenGebet, Beichte, Seelsorge, DiakoniePsychotherapie, Beratungen, Wohlfahrtsstaat
Sicherheit, Gesundheit, ErfolgHeilsgüterVersicherungen, Wohlfahrtsstaat, Karriere
Innerer Friede und GeborgenheitGemeinschaftSport, Familie
Interpretation der Welt, SinnPredigt, Auslegung religiöser Texte, DogmenWissenschaft
LebensstrukturierungKasualien, religiöse FestePrivate Feste, Arbeitszeit-Ferien-Zyklus
Soziale Identität, soziales KapitalGemeinde als NetzwerkBerufliche Netzwerke, neue soziale Medien, Vereine

Ressourcen und Machtverteilungen

Die Anbieter und kollektiven Akteure verfügen über verschiedene Ressourcen, die sie im Konkurrenzkampf verwenden können. Wichtige Ressourcen sind etwa ökonomisches Kapital, Reputation, Legitimation, technisches Know-how, Wählerstärke usw.102 Je nach Ressourcenunterschieden sind unterschiedliche Machtverteilungen |39| im Konkurrenzspiel gegeben. Das Regime selbst ist eine äusserst wichtige Ressource. Während der iranischen Revolution 1979 etwa verfügte der Schah Mohammad Reza Pahlavi über grosse Ressourcen in Form von finanziellen Reserven und staatlicher Macht (Polizeiapparat, Militär). Sein Gegenspieler, der Revolutionsführer Ajatollah Chomeini, besass Ressourcen in Form von grosser Legitimität und riesiger Unterstützung im Volk (Demonstrationen) und konnte diese letztlich zum Sturz des Schahs einsetzen.

Strategien

Die Strategien der Anbieter, um in diesen verschiedenen Konkurrenzkämpfen zu bestehen, sind sehr vielfältig und können hier nicht alle abschliessend aufgeführt werden. Kollektive Akteure können ihre Mitgliederbasis beispielsweise mobilisieren, um politischen Druck auf Personen mit Entscheidungsgewalt auszuüben oder den politischen bzw. religiösen Gegner einzuschüchtern (z. B. Demonstrationen, Prozessionen, Pressekampagnen). Eine andere Strategie besteht in Abschliessung, d. h., sie können Grenzen ziehen, um sich von ihrer Umwelt zu unterscheiden (z. B. durch spezielle Haartracht, Abzeichen, Speiseverbote). Eine weitere wichtige Strategie besteht in Wachstum, um so den eigenen Einfluss zu steigern (Rekrutierung, biologische Reproduktion) oder auch die eigene Schlagkraft durch höhere Identifikation der Mitglieder zu stärken (Sozialisierung der eigenen Mitglieder, soziale Kontrolle). Wenn es um Nachfrage nach «Produkten» der Gruppe geht, liegt zudem eine wichtige Strategie in der Preisanpassung, Attraktivitäts- und Qualitätssteigerung. Religiöse Gruppen können versuchen, mehr Personen zur Teilnahme zu bewegen, indem sie z. B. auf Zielgruppen abgestimmte Gottesdienste anbieten, hervorragende Musiker anstellen usw. Oft führt – hier wie anderswo – Innovation zum Erfolg.

Individuelles Handeln

Auf die jeweiligen Konkurrenzsituationen reagieren die Individuen ihrerseits, indem sie sich anpassen. Sie fragen eher religiöse oder eher säkulare Güter nach; sie wählen eher religiöse oder eher säkulare politische Parteien; sie werden Mitglied in religiösen oder säkularen Vereinen usw. Hierbei gehen wir von einer «begrenzten Rationalität» im Sinne Herbert Simons aus. Die Individuen haben beschränkte Informationen und beschränkte Aufmerksamkeits- und Kalkulationsressourcen. Sehr häufig verläuft ihr Verhalten nach Massgabe kulturell vorgegebener Gewohnheiten. Dennoch versuchen sie im Falle von sich verändernden Situationsbedingungen meist, diejenige Kombination von (religiösen und/oder |40| säkularen) Gütern auszuwählen, mit deren Hilfe sie einen möglichst hohen Nutzen erreichen können.103

Externe Einflussfaktoren

Der konkrete Verlauf des Konkurrenzgeschehens wird von verschiedensten externen Faktoren beeinflusst. Es ist, wie wenn Spieler eines Monopoly-Spiels ständig von aussen gestört würden, indem plötzlich neue Regeln eingeführt, manchen Spielern zusätzliche Ressourcen gegeben, anderen Ressourcen entzogen, Pausen erzwungen würden usw. Externe Einflussfaktoren können sehr verschiedene Gestalt annehmen – wir nennen hier nur fünf der wichtigsten Formen.

Der erste zu nennende Einflussfaktor ist das Regime religiös-säkularer Konkurrenz (wir sprechen im Folgenden abgekürzt auch vom Konkurrenzregime). Dieses legt sowohl über die gesetzlichen Wege als auch über die in der Gesellschaft geltenden Normen fest, ob und inwieweit es zu einer intra-religiösen oder religiös-säkularen Konkurrenz kommen kann und nach welchen Regeln solche Konkurrenzen abzulaufen haben. Das Regime religiös-säkularer Konkurrenz kann sowohl das Angebot als auch die Nachfrage regulieren. Beispiele für Regulierung des Angebots sind etwa die Behinderung religiöser Anbieter in der DDR oder die öffentlich-rechtliche Anerkennung mancher religiöser Gemeinschaften in der Schweiz. Beispiele für die Regulierung der Nachfrage sind Normen, die eine religiöse Praxis sozial erwarten (wie dies z. B. für manche französischen Dörfer noch in den 1950er Jahren galt) oder gesetzliche Normen, die eine kirchliche Heirat vorschreiben. Das Regime religiös-säkularer Konkurrenz ist also gewissermassen die für eine bestimmte Zeit in einer Gesellschaft geltende Summe der «Spielregeln». Eine für unsere Theorie wichtige Einsicht ist dabei, dass solche Spielregeln nie unangefochten sind. Sie beruhen auf Machtverteilungen, Grössenverhältnissen von Gruppen usw., sie werden ständig neu ausgehandelt. In manchen Situationen kann es dann zu «Wechseln des Konkurrenzregimes» kommen, d. h., die Veränderungen der Spielregeln sind so gross, dass ein qualitativ neues Spiel entsteht (siehe unten). |41|

In Einklang mit neueren ökonomischen und historischen Theorien legt unsere Theorie einen besonders starken Akzent auf Innovationen.104 Zunächst kann man hier an wissenschaftliche/technische Innovationen denken. Diese verändern durch neue Kontroll- und Verstehensmöglichkeiten die Ressourcen und Opportunitäten der verschiedenen Konkurrenten.105 Die Evolutionstheorie von Charles Darwin etwa veränderte das gesamte religiös-säkulare Konkurrenzfeld, da sie zum ersten Mal eine Möglichkeit eröffnete, die Entstehung des Menschen rein säkular zu erklären.106 Die Ergebnisse der historisch-kritischen Bibelwissenschaften, angestossen etwa von Julius Wellhausen zum Alten Testament oder David Friedrich Strauss zur Gestalt Jesu, haben die religiös-säkulare Konkurrenzlage innerhalb des Protestantismus und langfristig in den westlichen Gesellschaften insgesamt tiefgreifend verändert.107 Während die genannten wissenschaftlichen Innovationen religiöses Wissen direkt betreffen, wirken viele wissenschaftliche Innovationen indirekt, indem sie in zunächst kaum merklicher Weise das Bewusstsein der Menschen modifizieren. Sie beeinflussen, um mit Peter Berger zu sprechen, die allgemeine «Plausibilitätsstruktur» der Menschen.108

Neben wissenschaftlich-technischen sind drittens soziale Innovationen äusserst wichtig. Die Idee der universellen Menschenrechte etwa, die sich (nach wichtigen Entwicklungsstationen im Naturrecht der Aufklärung und der amerikanischen und französischen Revolutionen) ab 1948 durchsetzte, zeigt die Möglichkeit der Begründung des Wertes des Menschen unabhängig von Gott.109 Der Wohlfahrtsstaat, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfunden und ab den 1950er Jahren in vielen westlichen Ländern extrem ausgebaut wurde, führte zu einem vorher nie gekannten Mass an individueller Sicherheit – eine Sicherheit, die von religiösen Gemeinschaften und Ideologien unabhängig war.110 Die Erfindung der modernen Professionen im 19. Jahrhundert – die die Zünfte ablösten – führte zum Siegeszug des wissenschaftlich legitimierten Expertentums. Die damit neu entstehenden Berufe, insbesondere der Journalisten, Ärzte, Sozialarbeiter und Psychotherapeuten, wurden zu zentralen Konkurrenten der religiösen Führungskräfte, der Kleriker, die sich als umfassende Experten verstanden und sich ihre |42| rseits von Trägern eines schon im Ancien Régime gegebenen Amtes zu Mitgliedern einer Profession verwandeln mussten.111

Eine vierte Form von externen Einflussfaktoren besteht in Grossereignissen. Beispiele sind Seuchen, Kriege, Hungersnöte, meteorologische Ausnahmezustände, Völkerwanderungen u. ä. So ist die massive Welle der Islamophobie in der westlichen Welt nach 2001 aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem grossen Teil auf die Attentate vom 11. September und ihre Folgen zurückzuführen. Ohne diese Attentate wäre die Diskussion um den Islam und die Haltungen gegenüber Angehörigen des Islams vermutlich anders verlaufen.112

Als fünfter und letzter Einflussfaktor sind soziodemografische Veränderungen zu nennen. Veränderungen von Geburtenraten, Verschiebungen in den Zahlen von mono- oder interkonfessionellen Ehen, Männer- oder Frauenüberhänge in Gesellschaften können wichtige Einflüsse auf die religiös-säkulare Konkurrenz aufweisen. So können sich z. B. Mehrheitsverhältnisse zwischen konkurrierenden Parteien aufgrund unterschiedlicher Fertilität innerhalb weniger Generationen umkehren. Auch Veränderungen von Bildungs- und Berufsstatus sowie Einkommensverteilungen sind hier zu nennen.

Effekte des Konkurrenzgeschehens

Unsere Theorie erklärt nun eine ganze Reihe von Phänomenen als Ergebnis der genannten Konkurrenzkämpfe.113 Natürlich ist es möglich, dass eine Situation der Konkurrenz einfach weiter fortbesteht, ohne dass eine der beiden Seiten den Kampf für sich entscheiden kann. In vielen anderen Fällen aber kommt es zu interessanten Veränderungen im Gesamtsystem.

Führt die Entscheidung zum Sieg der einen und zur Niederlage der anderen, entstehen Monopole oder Quasi-Monopole. Als Beispiele sind hier die Durchsetzung des Christentums im 4. Jahrhundert unter Theodosius oder aber die Durchsetzung des Islam mittels der iranischen Revolution von 1978/79 zu nennen. In manchen |43| Fällen kommt es zum Verschwinden der unterlegenen Partei, häufiger jedoch sind Siege und Niederlagen nicht absolut, sondern graduell. Sie schlagen sich in Verschiebungen der Macht, des Einflusses und der Anzahl von Anhängern nieder.114

Eine andere Lösung des Konkurrenzkonfliktes ist die Verringerung oder Vermeidung mittels geschlossener Kompromisse, Absprachen oder Kartelle.115 So einigten sich die miteinander konkurrierenden christlichen Missionsgesellschaften 1910 in Edinburgh darauf, sich nicht gegenseitig die Mitglieder abzuwerben – und begründeten damit die Ökumenische Bewegung.116 So führten in einigen westeuropäischen Staaten (Deutschland, Niederlande, Schweiz) die Konfessionsspaltungen nach einer Phase des Konflikts zu einer geografischen und sozialen Aufteilung der Gesellschaft: Man lebte getrennt nebeneinander.

Aber die Theorie erklärt nicht nur Erfolg oder Misserfolg von Anbietern, sondern auch weitere gesellschaftliche Phänomene wie Differenzierung, Individualisierung oder Säkularisierung.

So können Konkurrenzbeziehungen – in Verbindung mit weiteren Faktoren – sowohl zu Differenzierungs- als auch zu Entdifferenzierungsphänomenen führen.117 Differenzierung meint in unserem Zusammenhang die Tatsache, dass das soziale Leben in funktional unterschiedliche, spezialisierte Teile (Positionen, Rollen, Institutionen) zergliedert wird. Diese erfüllen nun je spezifische Funktionen, die vorher von einer einzigen Institution erfüllt wurden.118 Als Beispiel sei hier der Kampf |44| der Ärzte im 19. Jahrhundert um die Autonomie ihrer Profession angeführt, indem sie sich vehement von «Kurpfuschern», «Quacksalbern», aber auch religiösen Heilern absetzten.119 Im Effekt führte diese Konkurrenz zu einer Steigerung der Differenzierung zwischen Religion und Medizin in der Gesellschaft. Die Auseinandersetzung um die Hoheit über den Religionsunterricht mit dem Ergebnis eines von den Kirchen unabhängigen Religionsunterrichts verdeutlicht eine zunehmende Differenzierung zwischen Kirchen und Schulen.120 Interessanterweise kann Konkurrenz aber auch umgekehrt zu Entdifferenzierungen Anlass geben. So hat sich gezeigt, dass die besonders intensiv Religiösen unter den Reformierten und den Katholiken sowie die Mitglieder der evangelischen Freikirchen manchmal zusammenrücken, um gegen den gemeinsamen «Feind» der säkularen Konsumgesellschaft zu kämpfen. Hierdurch werden vormals wichtige Differenzen zwischen diesen Gemeinschaften verwischt. Ein anderes Beispiel sind charismatische Kirchen, die in ihren «Celebrations» aufgrund starker Konkurrenz durch den Freizeitbereich so stark die Kultur der Popmusik imitieren, dass es schliesslich zu einem Verschwimmen der Grenzen zwischen religiösem und säkularem «Produkt» kommt. Auch dies kann man als Prozess der Entdifferenzierung lesen.

Konkurrenzbeziehungen können ferner zu Individualisierungs- bzw. Kollektivierungsprozessen führen.121 Ausweitung von Konkurrenz führt zu einer Vervielfältigung des Angebots und zu der steigenden Möglichkeit, sich durch Konsum vom jeweils anderen zu unterscheiden. So hat die neue – und sich z. T. stark konkurrenzierende – religiöse Vielfalt, die wir seit den 1960er Jahren in vielen westlichen Ländern beobachten, eine nie dagewesene religiöse Wahl- und Individualisierungsmöglichkeit mit sich gebracht.122 So führte die Entstehung eines wettbewerbsorientierten Marktes für islamische Kleidung dazu, dass das Kopftuch von einer stigmatisierten Praxis zu einem hoch individualisierten modischen Objekt wurde.123 Umgekehrt kann Konkurrenz aber auch kollektivierend wirken. Viele Forschungen haben gezeigt, wie verschiedenste religiöse Gruppen – von christlichen Fundamentalisten bis zu Scientology – auf Konkurrenz reagieren, indem sie durch spezielle Mitgliedschaftszeichen und hohe «Eintrittspreise» gerade den kollektiven Charakter der Gruppe stärken.124 |45|

Konkurrenzkämpfe können sowohl zu Säkularisierung als auch zur Resakralisierung ganzer Gesellschaften führen.125 So führte der Kampf zwischen den Laizisten Frankreichs mit der katholischen Kirche während und nach der Französischen Revolution zu einer nie gekannten Säkularisierung Frankreichs – letztlich deshalb, weil die Partei der Laizisten siegreich aus dem Kampf hervorging. Die Konkurrenz zwischen der Freizeitgesellschaft und dem Katholizismus in den Niederlanden in den 1960er Jahren führte zu einer starken Säkularisierung, weil die religiösen Anbieter den Freizeitangeboten nichts Vergleichbares entgegensetzen konnten und die Individuen die attraktiveren säkularen Angebote wählten. Umgekehrt hatte die Konkurrenz zwischen dem kommunistischen Regime und der Zivilgesellschaft in den 1980er Jahren in Polen eine Resakralisierung der Gesellschaft zu Folge, da die Opposition in der Religion die beste Möglichkeit sah, den Widerstand zu formieren.126 Übrigens kann auch ein weit verbreitetes religiöses Desinteresse mit Hilfe des Konkurrenzgedankens erklärt werden: dann nämlich, wenn die betreffenden religiös-säkularen Konkurrenzkämpfe zu Gunsten der säkularen Seite ausgegangen sind und historisch schon weiter zurückliegen (wie z. B. gegenwärtig in den neuen Bundesländern Deutschlands). In solchen Fällen kommen viele Menschen erst gar nicht mit Religion in Kontakt und zeigen auch kein besonderes Interesse für religiöse Fragen.127

Ein besonders interessanter Effekt des Konkurrenzgeschehens besteht schliesslich in Wechseln des Konkurrenzregimes. Wie wir oben gesehen haben, ringen die kollektiven Akteure ständig um Macht, Einfluss und Deutungshoheit in der Gesellschaft, unter anderem dadurch, dass sie versuchen, das geltende Konkurrenzregime zu verändern. Da ständig verschiedene Kräfte am Werk sind, kann es trotz dieser Konkurrenz oft längere Zeiten von Stabilität geben. Manchmal jedoch wird das geltende Konkurrenzregime (z. T. aufgrund der Ergebnisse der Konkurrenz, z. T. aufgrund von externen Einflüssen) so stark verändert, dass ein qualitativ neues «soziales Spiel» entsteht. In einem solchen Fall kann man von einem Wechsel des Konkurrenzregimes sprechen. In diesen aussergewöhnlichen Situationen werden gewissermassen «die Karten neu gemischt»: Ressourcen, die vorher viel Wert hatten, sind plötzlich wertlos und umgekehrt; vormals führende soziale Gruppen sehen sich plötzlich deklassiert; wer Einfluss sucht, muss plötzlich in ganz anderer Art vorgehen usw. Im folgenden Abschnitt werden wir einen solchen Wechsel des Konkurrenzregimes ausführlich behandeln. |46|

Die hier nur skizzierten Ausführungen zeigen, so hoffen wir, dass eine auf Konkurrenzüberlegungen aufbauende Theorie gegenüber den bisherigen Theorien (Modernisierungs-, Individualisierungs-, Markttheorie) wichtige Vorteile aufweist. Insbesondere führt sie eine Akteurperspektive ein und benennt klare kausale Mechanismen. Um aber brauchbare Erklärungen und Hypothesen zu liefern, muss die Theorie auch sozio-historisch konkretisiert werden. Das ist das Ziel der nun folgenden Abschnitt.

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