Kitabı oku: «Schnittstellen», sayfa 5

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3.4 Die Notwendigkeit eines »anderen« Literaturunterrichts und eines »Anderen« im Literaturunterricht

Geschichten schreiben bedeutet gerade in der Unterstufe für viele Kinder hauptsächlich Geschichten über sich zu schreiben, wenn das Eigene auch oft in fiktiver Gestalt auftritt. Gegen diese Lust am Erzählen und Schreiben über das Eigene ist auch gar nichts einzuwenden, im Gegenteil. Seitdem kreative und produktive Formen des Schreibens und mündlichen Erzählens beinahe jeden Deutschunterricht bereichern, besteht an Gelegenheiten dazu auch kein Mangel mehr. Es stellt aber, so unsere Behauptung, ein weit über die Grenzen des Unterrichtsgeschehens hinausreichendes Problem dar, wenn kein Unterschied mehr zwischen kreativem Schreiben mit literarischen Impulsen und einer produktiven Literaturrezeption gemacht wird. Die Rezeption von Literatur – sei sie analytisch oder produktiv – ist ein wesentliches und unverzichtbares Lernfeld. Werden dabei die Eigenheit und die (zumindest zu einem Teil immer bestehen bleibende) Unzugänglichkeit und Fremdheit des literarischen Textes übergangen, so wird das Eigene eigenmächtig und bricht zu seinen Gunsten/seinen Interessen die Gesetze jener fiktiven Welt, die zwar immer »interpretierbar« sind, die aber doch nicht nur vom persönlichen Wollen und Wünschen des Lesers/der Leserin abhängen (vgl. Eco 1996, S. 75–98 und Bredella 2002, S.306–309). Diese egozentrische Form der »Aneignung« eines Textes (egal ob von Seiten der SchülerInnen oder von jener der LehrerInnen) und die Implikationen dieses Verhaltens (die den Beteiligten natürlich in der Regel nicht bewusst sind), haben Konsequenzen.

Als Beleg für diese Annahme mag die folgende Beobachtung aus der vieren Klasse einer Hauptschule in Südkärnten dienen: Die Klasse (2. Leistungsgruppe) hat in der beobachteten Stunde gemeinsam die Kurzgeschichte Der Schmetterling auf dem Kleiderhaken (Pahor 2004) gelesen und dann gemeinsam mit der Lehrerin besprochen. Die Geschichte spielt im Jahre 1924 im faschistischen Italien, als es verboten war, in den Schulen die Muttersprache Slowenisch zu verwenden, wobei ein Schüler und eine Schülerin in einer typischen Pausensituation dieses Verbot brechen. Der eintretende Lehrer, der als Anhänger des Faschismus gekennzeichnet ist, wird Zeuge dieser Szene, gerät darüber in Wut und steigert sich schließlich in einen Gewaltausbruch hinein. Das Ende der Erzählung beschreibt die Strafe, die der Lehrer letztlich an Julka vollzieht: Er hängt sie an ihren eigenen Zöpfen auf einen Garderobehaken. Die Klasse wohnt der gesamten Szene zwar offensichtlich entsetzt, aber doch reglos und ohne ein Anzeichen von Widerstand bei: ein Schlusstableau, das die an sich realistische Geschichte ins Groteske steigert.

Der Text hat von Anfang an starke Emotionen hervorgerufen, was vielleicht schon in der ersten Frage zum Text von SchülerInnenseite offensichtlich geworden ist: »Ist das ein Jude, der Autor?« lautete die Frage eines Schülers. Auch wenn der Betreffende sehr plausibel und rational erklären konnte, weshalb er diese Frage gestellt hat, hatten wir den Eindruck, dass doch eine gewisse Aggression, vielleicht auch Angst in Zusammenhang mit dem Thema vorhanden war. Diese Annahme hat sich in der darauf folgenden Bearbeitung der Texte bestätigt: Die SchülerInnen wurden aufgefordert, sowohl eine Fortsetzung der Geschichte zu schreiben, als auch einen inneren Monolog – entweder aus der Sicht der Protagonistin Julka, aus der ihrer MitschülerInnen, oder aus der des Lehrers. Alle Kinder haben die Perspektive der Julka gewählt. Die Szenarien, die in jeder der beiden Textsorten – Fortsetzung und innerer Monolog – entworfen werden, weisen erstaunliche Unterschiede auf:

Liest man nur die »Fortsetzungen«, so muss man davon ausgehen, dass keine(r) der SchülerInnen den historischen Hintergrund des Textes richtig verstanden hat. Die SchülerInnentexte belegen, dass alle der Meinung sind, der Lehrer (den sie bezeichnenderweise als »Italienisch-Lehrer« identifizieren) würde bestraft werden, wenn die Eltern oder der Direktor erst einmal dahinter gekommen wären, was er getan hat. Die Hilflosigkeit Julkas gegenüber der staatlichen Macht, als deren Vertreter der Lehrer auftritt, wird völlig ausgeblendet und die Geschichte endet, ganz entgegen ihrer inneren Logik, mit der Bestrafung des »Bösen«.

Wie sehr die eigene Lebenssituation in diesem Fall die inhaltliche Gestaltung der Schlussszene bestimmt, wird vor allem an der Aggression deutlich, mit der die Bestrafung des Lehrers geschildert wird. Ein besonders drastisches Beispiel: »Der Italienisch Lehrer lag am Boden und alle Kinder tragen ihn rauß und alle pissen auf ihn. Julka und der italienisch Lehrer starben im Krankenhaus.« Obwohl es in der Geschichte keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass sich die Klasse überhaupt in irgendeiner Form zur Wehr setzen möchte, wird hier ein Szenario gestaltet, das wohl eher den eigenen Phantasien entspricht als den Möglichkeiten, die im Text eröffnet werden. Denselben Hintergrund – nämlich die Angst vor den im Text geschilderten Ereignissen fern zu halten und die eigene Sicherheit zu beschwören – haben vielleicht auch die Vergewisserungen der endgültigen Ausrottung alles potenziell »Gefährlichen«, die sich am Ende fast aller Fortsetzungsgeschichten finden: »Die Schule nimmt ihn nicht mehr als Lehrer auf / Am nächsten Tag hat die Klasse einen neuen Lehrer bekommen und sie sahen den Italienischlehrer nie wieder / Der Italienischlehrer wurde sofort entlassen, und in dieser Schule kam nie wieder so etwas vor / In Italienisch bekommen sie einen neuen Lehrer und alles ist wieder gut.«

Die Fortsetzungsgeschichten, die die SchülerInnen verfasst haben, lassen die Abwehrmechanismen dem »Fremden« und »Unbegreiflichen« gegenüber deutlich erkennen. Die Texte setzen die Logik der Vorgabe nicht fort, sondern kreieren ihr eigenes System, innerhalb dessen das verstörende Element entweder verharmlost oder sogar eliminiert wird. Die Auseinandersetzung mit dem Text erscheint aber noch einmal in einem ganz anderen Licht, wenn man sich die Struktur der inneren Monologe zum selben Thema ansieht. Die SchülerInnen sollten aus Julkas Perspektive heraus schreiben, wobei diese Aufgabenstellung offensichtlich als relativ einfach empfunden wurde. Die inneren Monologe sind wesentlich näher an der Logik des Textes – wobei dies mit Sicherheit auch darauf zurückzuführen ist, dass die Zeitspanne, die hier beschrieben werden soll, im Text vorgegeben ist und der eigene Interpretationsspielraum automatisch als geringer eingestuft wird. Die »Fremdheit« des Textes ist unausweichlicher und gerade dadurch wird paradoxerweise offensichtlich, dass die Distanz zwischen der Lebensrealität der SchülerInnen und der Handlung des Textes gar nicht so groß ist. Offensichtlich können sich alle in Julkas Position versetzen, können ihre Ohnmacht und Angst nachvollziehen, und viele erkennen sogar ihren Schmerz darüber, dass die eigene Muttersprache als etwas »Hässliches« bezeichnet und verboten wird: »Doch das aller gemeinste ist das er meine eigene Muttersprache hinunter gemacht hat und mir gesagt das ich sie nicht ausüben darf dass tut mir inerlich mehr we als das er mich an den Haaren gezogen hat und dann mich aufgehangen hat.«

Die vermeintliche Überlegenheit der SchülerInnen gegenüber dem Lehrer ist in diesen Texten völlig verschwunden. Jener Schüler, der in der Fortsetzungsgeschichte noch die brutale Rache der SchülerInnen am Lehrer beschrieben hat (»[…] lag am Boden und alle Kinder tragen ihn rauß und alle pissen auf ihn«), schreibt nun: »Mir ist es peinlich, dass ich slowenisch gesprochen habe. […] Mir kommen schon Tränen und mir schmerzt mein Herz. Ich fühle mich nicht unsichtbar. Als der Lehrer mich pakt mache ich mir in die Hose.«

Die Allmachtsphantasien, die durch die Möglichkeit der Distanz zum ursprünglichen Text gegeben werden, sind in der direkten Auseinandersetzung mit der bedrohlichen Situation, die der innere Monolog erforderlich macht, offenbar nicht mehr möglich. Ein Gedankenexperiment führt an dieser Stelle vielleicht zu einer wichtigen Einsicht: Wie hätten die inneren Monologe wohl ausgesehen, wenn die SchülerInnen sich darauf eingelassen hätten, diese aus der Sicht des Lehrers zu schreiben? Sie wären – zumindest auf der inhaltlichen Ebene – gezwungen gewesen, sich mit dem »Fremdheitskern« der Geschichte auseinander zu setzen. Die Identifikationen und Abwehrreaktionen, die dann entstanden wären, hätten mit Sicherheit überraschendere Einblicke in die Dialektik zwischen Eigenem und Fremdem gewährt, und so wäre es vielleicht möglich geworden, an Hand des Textes diese unscharfe Grenze auszuloten – der Logik des Textes folgend, nicht den Wunsch- oder Angstvorstellungen der SchülerInnen. Die Distanz zwischen RezipientIn und literarischer Figur bleibt in diesem Fall5 notwendigerweise bestehen und die Gefahr, dass der Text »in Vergessenheit« gerät und nur noch als Projektionsfläche der eigenen Befindlichkeit benutzt wird, wird eingeschränkt.

3.5 Identifikationsangebote schaffen – Kenntnis von Literatur(en) als Persönlichkeitsmerkmal

So wesentlich es einerseits ist, die Fremdheit des Textes im Literaturunterricht deutlich zu machen, zu erhalten und den respektvollen Umgang damit einzufordern, so wichtig ist es andererseits, das Selbstbewusstsein jener zu stärken, die mit und in mehreren Sprachen und Kulturen leben. Das Bewusstsein dafür, dass diese Besonderheit etwas Wertvolles ist, muss erst geschaffen werden, auch wenn es in vielen Fällen vielleicht sogar, oberflächlich betrachtet, vorhanden zu sein scheint (vgl. Abschnitt 3.2). Diese Oberflächlichkeit, die größere Identitätskrisen nicht abfangen kann, entsteht vor allem dann, wenn der Glaube an den Wert hybrider Identitäten lediglich »anerzogen« und rational argumentiert wird. Auf die Frage, ob sie froh seien, Slowenisch zu können, antworteten die meisten Kinder der zweiten Klasse einer Hauptschule in Südkärnten mit ja, die Gründe dafür waren aber nicht besonders vielfältig und inhaltlich auf das Vorhandensein wirtschaftlicher Wettbewerbsvorteile (»da bekommt man einen besseren Job«) oder pragmatische Aspekte (»man wird verstanden, wenn man in Slowenien essen geht«) reduziert. Dass diese Argumentation nicht besonders tragfähig ist, wenn es um das Selbstwertgefühl der Kinder und ihre Einschätzung anderer wenig prestigereicher Kulturen und Sprachen geht, hat nicht nur die Lehrerin bestätigt, sondern wurde auch im Unterricht offensichtlich.

Wie haben in leitfadengesteuerten Einzelinterviews mit zwölf mehrsprachig aufgewachsenen Kindern mit Migrationshintergrund im Alter zwischen 13 und 15 Jahren die Frage gestellt, ob sie denken, es wäre möglich, dass die Geschichten aus einer anderen Kultur, die ihnen früher erzählt worden sind, ihren eigenen Schreibstil verändert haben. Interessant waren letztlich nicht nur die Antworten, sondern vor allem die Wirkung, die die Frage auf die SchülerInnen hatte. Allein die Bezugnahme auf Geschichten, die ihnen früher in ihrer Muttersprache erzählt worden sind (oder ihnen immer noch erzählt werden), war für sie offensichtlich außergewöhnlich. Viele der Antworten waren daher anfangs sehr zögerlich, es brauchte eine kurze Phase der Gewöhnung, bevor diese Frage als ernstzunehmend und wesentlich wahrgenommen werden konnte. Dies ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Literatur aus den Herkunftsländern der SchülerInnen, genauso wie ihre Herkunft im Allgemeinen (Kultur, Schulerfahrungen etc.) im Deutschunterricht keine große Rolle spielt. Doch auch wenn diese Frage anfangs Erstaunen hervorgerufen hat, so wurde sie von den meisten SchülerInnen letztlich gern und ausführlich beantwortet. Alleine die Tatsache, dass die Kenntnis einer zweiten narrativen Tradition hier offensichtlich als etwas Bemerkenswertes wahrgenommen wird, öffnete den Kindern einen neuen Zugang zu ihrem eigenen sprachlichen und kulturellen Potenzial. Ein Großteil von ihnen war sogar in der Lage, Unterschiede zwischen deutschsprachigen Geschichten und jenen, die sie in der Muttersprache gehört hatten, zu erkennen und auch zu benennen. Die Fragestellung musste anfangs sehr präzise sein, um eine Antwort zu erhalten, aber es war deutlich zu erkennen, dass die Fähigkeit zum interkulturellen Vergleich von Erzählungen vorhanden war und die Aufgabe auf großes Interesse stieß. Interessant ist auch die Tatsache, dass alle Kinder auf die Frage nach den Unterschieden zuerst mit formalen Kriterien geantwortet haben (komplizierter, witziger, länger …), während die Unterschiede im Grad der Fiktionalität (»Irgendwie nicht so Fantasien drin, so wie, ja er hat irgendeinen unsichtbaren Drachen gesehen oder so«; »Irgendwie klingt es mehr so nach Arbeit«) erst auf Nachfrage festgestellt wurden. Obwohl die Interviews nur eine kleine Sequenz an Fragen beinhaltet haben, die sich auf dieses Thema bezogen, konnte man deutlich erkennen, dass die Miteinbeziehung muttersprachlicher Texte in den Deutschunterricht viele Möglichkeiten eröffnen würde.

Für uns ergeben sich daraus nach derzeitigem Wissensstand vor allem zwei wesentliche Überlegungen:

1. Die Spezifik literarischer Texte ist grundsätzlich schwer zu vermitteln. Eine in mehrsprachigen Klassen betriebene Form von »Komparatistik«, die vor allem inhaltlich völlig unterschiedliche Texte zueinander in Beziehung setzt, könnte dabei helfen, Begriffe wie »Fiktionalität«, den Zusammenhang zwischen Form und Inhalt, die Wirkungsweise von Symbolen und Metaphern etc., verständlich zu machen. Das Auffinden von Unterschieden zwischen Texten aus dieser und jener Kultur ist eine Art Rätselspiel, das die Kinder gerne und vor allem außerhalb jener Kategorien spielen, die ihren Umgang mit »Schultexten« normalerweise bestimmen.

2. Diese »natürliche« Form der Einbeziehung von Texten aus anderen Kulturen in den Unterricht macht jene Kinder, die sich häufig auf Grund ihrer sprachlichen Defizite benachteiligt fühlen, zu ExpertInnen. Die Mehrsprachigkeit und der damit verbundene Einblick in zwei verschiedene Kulturen wird hier als etwas Besonderes vermittelt – nicht, weil es sie praktische Vorteile im Alltagsleben bietet, sondern weil die intensive Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden erlaubt, mehr wahrzunehmen, mehr zu verstehen, weil durch diese Konfrontation beides bedeutender wird, das Eigene wie das Fremde. Das alles wird in einem solchen Unterricht implizit vermittelt, wobei jene, die »automatisch« in/mit/zwischen mehreren Kulturen leben und jene, die im täglichen Leben nicht ununterbrochen mit dieser Situation konfrontiert sind, auf einer Stufe stehen. Der Literaturunterricht wird danach trachten, diese genuine Qualität transkultureller Literatur durch genaues Lesen didaktisch auch fruchtbar zu machen: Die Texte werden zum Maß aller Aussagen, nicht mehr die eigene Lebenserfahrung.

4. Resümee

Unsere vorläufigen Untersuchungen lassen bereits einige Schlussfolgerungen zu, die in weiteren Studien präzisiert, überprüft und erhärtet werden müssen. Denn wir können uns bislang großteils nur auf sehr punktuelle Beobachtungen und Interventionen stützen, nur eine Klasse haben wir über einen längeren Zeitraum begleitet.

Zunächst ist festzustellen, dass das Interesse an einer Beschäftigung mit Literatur bei allen Hauptschulklassen, die wir beobachten durften, sehr groß war. Auch die Bereitschaft, sich auf eine »andere« Literatur einzulassen, war bei Lehrkräften und SchülerInnen gegeben. Für unsere erste These, dass Literatur nach wie vor für Kinder und Jugendliche von großer Bedeutung sein kann und dass dies im schulischen Unterricht erfahrbar gemacht werden kann, haben wir zahlreiche Indizien gefunden.

Auch für unsere zweite These, nämlich, dass es möglich ist, mit Hilfe von Literatur die eigene Welt-Sicht zu erweitern, sich selbst und die Welt neu zu sehen, haben wir bestimmte Hinweise finden können, wenn auch am deutlichsten in einer paradoxen Form: Denn gerade die massive Abwehr, die wir im Fall des Textes Jaz-Ich von Jani Oswald erlebt haben, spricht nicht gegen unsere generelle Einschätzung, sondern stützt die These. Der Text von Oswald machte den Kindern ein nur wenig verschlüsseltes Angebot, über die Folgen der sprachenpolitischen Situation in Südkärnten für die hier lebenden Menschen nachzudenken – ein Thema, das ihnen nicht dem Begriff nach, aber in der Sache selbst nur allzu vertraut ist. Um den Text zu »verstehen«, hätten sie sich öffentlich die Doppelidentität eingestehen müssen, in der sie sich entweder selbst befinden oder die sie in ihrer Umgebung beobachten können. Das war aber – zumindest in der Klassensituation – offenbar nicht möglich. Der Zusammenhang von Literaturdidaktik und gesellschaftspolitischer Situation hat sich damit für uns wesentlich deutlicher manifestiert, als wir das erwartet haben. Die Fremdheitsabwehr als Abwehr des Eigenen, wie wir sie an diesem Beispiel beobachten konnten, bestätigt in unseren Augen die Notwendigkeit, Literaturdidaktik transkulturell zu betreiben.

Es gibt aber noch ein weiteres Ergebnis, das wir zumindest in dieser Form nicht erwartet haben. Es war uns zwar schon vorher klar, dass Transkulturelle Literaturdidaktik nicht isolierbar ist vom allgemeinen Literaturunterricht. Die Art, wie LehrerInnen üblicherweise mit Texten umgehen und den Umgang mit Texten lehren – das zeigten unsere Beobachtungen –, hat aber gerade bei einer Literatur, welche gezielt Grenzen überschreitet und Angebote macht, unserer eigenen »Tiefenkultur« (Galtung) zu begegnen, besonders starke Auswirkungen. In unseren Fallstudien haben wir durchgängig, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichen Konsequenzen, ein Ignorieren der Literarizität von literarischen Texten erlebt – und zwar nicht bloß bei den SchülerInnen, sondern auch bei den LehrerInnen. Dies hat sich in mehr als nur einem Fall negativ auf das literarische Verstehen und auf die Auseinandersetzung mit Transkulturalität ausgewirkt.

Die Gründe dafür mögen vielfältig sein. Ohne die großen persönlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Lehrkräften und ihren Unterrichtsstilen zu ignorieren, kann man wohl eine Art hauptschultypischen LehrerInnenhabitus identifizieren: Ausgehend von einer Ausbildung, die viel Wert auf pädagogische, aber weniger auf literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Aspekte legt, und unter dem praktischen Zwang, Unterricht mit ›Sozialarbeit‹ zu kombinieren, besteht die Tendenz, literarische Texte auf ihre ›Botschaft‹ zu reduzieren und sie pädagogisch einzusetzen. Dazu kommt noch, dass es gerade in Hauptschulen nicht leicht ist, das Interesse der Kinder für Literatur zu wecken – was ebenfalls den Effekt verstärkt, vorwiegend auf die Inhalte zu setzen. Ob die Situation in den Gymnasien allerdings grundsätzlich anders aussieht, ist damit noch nicht ausgemacht. Andererseits haben wir – wohl aus denselben Gründen – keinerlei Widerstand gegen eine transkulturelle, nicht-kanonische Literatur ausgemacht. Dass dieser Widerstand bei AHS-und BHS-LehrerInnen, die in ihrer Ausbildung habituell auf einen traditionellen nationalliterarischen und einsprachigen Kanon festgelegt wurden, zweifelsohne größer ist, bestätigen unsere Erfahrungen aus zahlreichen LehrerInnenseminaren.

Somit bleibt als nüchternes Fazit unserer bisherigen Studien: Um transkulturellen Literaturunterricht zu ermöglichen, müsste vor allem die Grundfrage nach dem Wozu des Literaturunterrichts wieder aufgeworfen werden. Nur auf diese Weise scheint die notwendige doppelte Änderung der Aufmerksamkeitsrichtung der LiteraturlehrerInnen möglich zu sein: einerseits in Richtung einer genaueren Wahrnehmung der spezifisch ästhetischen Qualität von Literatur, ihre grundsätzliche »Fremdheit«; und andererseits in Richtung auf die literaturdidaktische Chance, diese literarische Fremdheit auch für die Beschäftigung mit der sozialen Fremdheit und Alterität zu nutzen, die ein hervorstechendes Kennzeichen heutiger globalisierter Gesellschaften ist. Dabei wird sich schnell zeigen, so unsere Überzeugung, dass diese doppelte Änderung der Aufmerksamkeitsrichtung im Grunde ein und derselbe Vorgang ist.

Noch einmal gewendet: Heute wird zu Recht eine Zuwendung auch der Literaturdidaktik zur Empirie und Unterrichtsforschung gefordert. Es zeigt sich sehr schnell, dass diese empirische Wende nur Sinn macht, wenn sie von neuen und verstärkten Theorieanstrengungen begleitet wird. Die theoretische Modellierung des transkulturellen literaturdidaktischen Prozesses ist sowohl Voraussetzung wie Ergebnis unterrichtspraktischer Forschung. Womit wir wohl nicht zufällig wieder beim Ausgangspunkt angekommen wären, bei Paulo Freires Praxis-Begriff, als Synthese von theoretischen und praktischen Bewegungsschritten.

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