Kitabı oku: «Sprachgewalt», sayfa 3
44Ebd.
45Ebd.
46Für weiterführende Informationen zur Verwendung des Fake News-Begriffs siehe Egelhofer et al., 2020.
Populismus
Brian Klug
Am 29. November 2017 gab das Cambridge Dictionary sein Wort des Jahres bekannt: Populismus.1 Man wählte diesen Begriff nicht nur wegen der Gesamtzahl an Suchanfragen auf der Webseite des Cambridge Dictionary im Jahr 2017, sondern auch wegen der Häufigkeit von Anfragespitzen: also momentanen Höhepunkten in der Zahl der Suchanfragen nach dem Wort Populismus. In einem Kommentar zu dieser Wahl wurde eine Spitze besonders hervorgehoben: die vom 22. Januar 2017. Zwei Tage zuvor war Donald Trump als 45. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden, und Papst Franziskus gab der spanischen Zeitung El Pais ein Interview, in dem er nach der gegenwärtigen Zunahme des Populismus gefragt wurde. Zwei unzusammenhängende Ereignisse an einem Tag, verbunden durch ein einziges Wort, das die Menschen im Laufe von zwölf Monaten angezogen hat wie Motten das Licht. Aber was war es, das sie bei diesem Wort so anzog?
Wort des Jahres klingt wie Fußballer des Jahres: eine Auszeichnung für herausragende Verdienste. Viele stellen sich vor, dass jedes Wort des Jahres auf die eine oder andere Weise alle anderen Wörter übertreffen müsse. Vielleicht hilft es, über ein komplexes Thema genauer nachzudenken. Vielleicht ermöglicht uns das, präziser zu werden. Komplexität und Klarheit – das wären verdienstvolle Eigenschaften eines Wortes. Aber besitzt das Wort Populismus diese Eigenschaften, und sind sie es, deretwegen die Menschen auf die Website des Cambridge Dictionary strömten? Oder liegt es daran, dass die Bedeutung des Wortes so verschwommen ist, dass die Leute nicht wissen, was sie davon halten sollen? Ich vermute, dass die meisten, die das Wörterbuch konsultierten, hofften, eine Definition zu finden, die den Nebel, der das Wort umgibt, lichten würde.
Ich fürchte jedoch, dass sie enttäuscht wurden, was eher am Wort als am Wörterbuch liegt. Denn der Populismus ist, wie der Planet Venus, ständig in Wolken gehüllt. Wenn es einen Preis für die verrückteste Auszeichnung des Jahres gäbe, so wäre es diese Wahl des Cambridge Dictionary.
Dennoch ist das Wort Populismus alles andere als ein leeres Gefäß. Es ist ein wichtiger Begriff in unserem politischen Lexikon. Wir brauchen ihn, um bestimmte politische Persönlichkeiten und Bewegungen zu identifizieren, die heute in der westlichen Welt eine große Rolle spielen und die die Idee einer gerechten, offenen und demokratischen Gesellschaft in vielfältiger Weise bedrohen. Diese aktuellen Bedrohungen, in Europa und in den USA, sind der Kontext, den ich für diesen Aufsatz gewählt habe.
Und auf den Kontext kommt es an: Denn die Bedeutung des Wortes Populismus ist nicht in Raum und Zeit eingefroren. Von El Pais darauf angesprochen, bemerkte Papst Franziskus, der in Buenos Aires aufgewachsen ist, dass Populismus »ein zweideutiger Begriff« sei. Der Interviewer hatte von »einer Botschaft voller Fremdenfeindlichkeit und Hass auf Ausländer« gesprochen und dies mit Trump veranschaulicht. Dem Pontifex aber kamen andere Assoziationen in den Sinn. Er wies darauf hin, dass in Lateinamerika Populismus etwas anderes bedeutet. Er bedeute, »dass die Menschen – zum Beispiel die Volksbewegungen – die Protagonisten sind« und dass sie »selbstorganisiert« sind. Der Bedeutungsunterschied war so groß, dass er »nicht wusste, was er daraus machen sollte«, als er zum ersten Mal vom Populismus in Europa hörte.2
Er könnte auch in, sagen wir mal, Bonn oder Berlin, London, Paris oder Washington DC aufgewachsen und trotzdem über das Wort verwirrt sein – und zum Teil aus einem ähnlichen Grund. Vor langer Zeit waren die Worte Populismus und Populist Begriffe, die politische Persönlichkeiten oder Gruppen gerne für sich in Anspruch nahmen. Zum Beispiel die People’s Party, die Volkspartei, die Ende der 1890er-Jahre in den Vereinigten Staaten gegründet wurde. Es handelte sich bei ihr um eine Basisbewegung von Bauern im Westen und Süden, die sich gegen die Banken und Eisenbahngesellschaften zur Wehr setzen wollten. Stolz nannten sie sich bei dem von ihren Gegnern geprägten Namen: »Populisten«.3 Die russischen Narodniki des 19. Jahrhunderts waren eine sozialistische Bewegung, die in den 1860er-Jahren versuchte, die Bauernschaft zum Sturz des Zaren aufzuwiegeln: Ihr Name bedeutet übersetzt »Populisten«.4 Wenn wir viel weiter in der Zeit zurückgehen, bis in die späte Römische Republik, finden wir zwei rivalisierende politische Fraktionen, die Optimaten gegen die Popularen: Die »Aristokraten« (oder »Besten«) gegen die »Populisten«. (Letztere suchte die Unterstützung der Bürgerlichen, aber beide Gruppen waren eher patrizisch als plebejisch.)5 All diese sind Fälle von Populisten mit einem großen »P«: Immer bezeichnete der Begriff die Politik einer bestimmten Partei oder Bewegung. Wenn Sie diese Politik unterstützten, haben Sie sich als Populist zu erkennen gegeben. Aber welcher Politiker würde sich heute noch in Europa oder den USA als Populist bezeichnen?6 »Populist« ist, wie »Rassist« – ein Etikett, das Menschen zwar anderen, aber nicht sich selbst anheften. Es wird pejorativ verwendet. Es ist wie eine Gesundheitswarnung: »Vorsicht Ansteckungsgefahr!«. Der vorherrschende Gebrauch des Wortes in der praktischen Politik heute ist eine Beleidigung. Und auf genau diesen Gebrauch von Populismus und Populist konzentriere ich mich hier im Weiteren.
Die Verschiebung von einer beschreibenden zu einer pejorativen Bedeutung ist ein Quell der Verwirrung, die diese beiden Wörter umgibt. Hinzu kommt, dass mit ihnen so frei umhergeworfen wird, als hätten sie wenig oder gar keinen Inhalt – das jedenfalls könnte man meinen. Jeder versteht, dass sie vage auf etwas Hässliches hindeuten, aber niemand ist sich ganz sicher, auf was. Trump wird als Populist (im pejorativen Sinne) bezeichnet. Das gilt auch für Bernie Sanders. Man fragt sich: Ist dies im einen Fall gerechtfertigt, im anderen aber nicht? Oder in keinem? Oder in beiden? Was ist die richtige Entscheidung? Wie können wir berechtigte Kritik von ungerechtfertigter Verleumdung unterscheiden? Wir suchen Kriterien. Wir wollen es wissen: Was bedeuten populistisch und Populismus genau? Das war vermutlich die Frage, die sich viele der Menschen stellten, als sie in Scharen auf die Website des Cambridge Dictionary gingen, Populismus in das Suchfeld eingaben und so zum Wort des Jahres machten.
Die erste Antwort auf die Frage ist, dass es keine Antwort gibt – nicht, wenn Genauigkeit unser Ziel ist. Einige Wörter haben eine Bedeutung, die klar und präzise ist, andere nicht. Populismus und populistisch nicht. Die zweite Antwort ist, dass es eine Antwort geben muss, vorausgesetzt, wir bestehen nicht auf Genauigkeit. Wären diese Wörter völlig bedeutungslos, würde das Humpty-Dumpty-Prinzip der Semantik gelten. »Wenn ich ein Wort verwende«, sagte Humpty Dumpty zu Alice, »bedeutet es genau das, was ich es bedeuten lasse und nichts anderes«.7 Aber das ist falsch, ja sogar gefährlich. In Wirklichkeit wählen wir unsere Worte, nicht ihre Bedeutung – auch wenn sie vage ist. Könnte jeder selbst über die Bedeutungen von Wörtern entscheiden, würde die Sprache verschwinden. Um es noch einmal zu wiederholen: Es muss also eine Antwort geben auf die Frage, was Populismus bedeutet.
Es gibt eine ganze Heimindustrie, die versucht, den Begriff Populismus zu definieren. Zu diesem Thema ist genügend Tinte verschüttet worden, um einen Öltanker darin schwimmen zu lassen. Auf einer bahnbrechenden Konferenz an der London School of Economics im Mai 1967 gelang es einer großen Versammlung angesehener Wissenschaftler nach langen Beratungen nicht, einen Konsens über den Begriff Populismus zu erzielen.8 Fünfzig Jahre später ist er unter Akademikern nach wie vor heftig umstritten. Aber es liegt in der Natur des wilden Tieres, dass es nicht gefangen werden kann: Manche Wörter – wie auch einige Politiker, und ich denke da nicht nur an Populisten – sind einfach zu schlüpfrig, um sie zu schnappen. Sie verändern ständig ihre Form und entwinden sich unserem Griff. Definitionen spielen eine Rolle, wenn es darum geht, das Wort Populismus zu vermessen. Aber um eine Definition geht es mir nicht, obwohl ich versuche, den Begriff zu erläutern. Lassen Sie mich das erklären.
Populismus heißt nicht immer alles oder nichts. Es gibt oft Grautöne, Fälle, wo in einer Rede oder Kampagne populistische Elemente vorkommen, die wir sonst nicht als populistisch bezeichnen würden. Aber es gibt auch Hardcore-Fälle: solche, die klar und eindeutig sind (Trump zum Beispiel). An die denke ich. Es gibt eine Vielzahl von Hardcore-Fällen, die übrigens nicht auf die rechte Seite des politischen Spektrums beschränkt sind. Aber es existiert ein gemeinsamer Rahmen oder eine gemeinsame Struktur, die man sich wie eine Brille vorstellen muss, durch die alle Hardcore-Populisten die Welt betrachten. Diesen Rahmen will ich hier in den Blick nehmen – die Struktur der Weltanschauung oder Denkweise des Hardcore-Populismus. Ich will versuchen, einen Maßstab zu finden, mit dem Leserinnen und Leser selbst beurteilen können, ob, in welchem Umfang und in welcher Hinsicht ein Politiker, eine Partei oder eine Kampagne populistisch ist oder nicht. Darüber wird es immer Streit geben. Ich kann den Streit nicht beilegen, will aber helfen ihn zu vereinfachen.
Obwohl es ein Fehler ist, sich zu sehr auf die Etymologie zu stützen, können die Wurzeln eines Wortes ein Hinweis auf seine Bedeutung sein. Beginnen wir also am Anfang: bei der Herkunft des Wortes. Der Begriff Populismus leitet sich vom lateinischen »populus«, Volk, ab, doch das sollten wir nicht zu wörtlich nehmen, denn »populär« hat den gleichen Ursprung, aber nicht die gleiche Bedeutung. Jemand, der populär ist, ist nicht unbedingt ein Populist (so wie jemand, der »säkular« ist, nicht unbedingt ein »Säkularist« ist) und umgekehrt. Bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 gewann Hilary Clinton mit einem Vorsprung von fast drei Millionen Stimmen diese »Volksabstimmung«. Sie war eindeutig populärer als Trump, aber ihre Kampagne war nicht im Entferntesten populistisch. Die Tatsache, dass diese beiden Wörter ähnlich sind, ist eine weitere Quelle der Verwirrung, aber der Unterschied in der Bedeutung ist entscheidend. Populär zu sein bedeutet, die Menschen im Allgemeinen anzusprechen. Populist zu sein bedeutet, in irgendeiner Weise mit »dem Volk« verbunden zu sein: das Volk, im Unterschied zu den Menschen im Allgemeinen. Der bestimmte Artikel (»das«) markiert den Unterschied.
Was nicht heißen soll, dass immer dann, wenn der Ausdruck »das Volk« auftaucht, gleich der Populismus sein hässliches Haupt erhebt. Das Dokument, das mit den Worten »Wir, das Volk der Vereinigten Staaten« (die US-Verfassung) beginnt, ist kein populistischer Text; es ist ein demokratischer Text (wenn auch ein fehlerhafter demokratischer Text). Ralf Dahrendorf äußerte einmal den Verdacht: »Des einen Populismus ist des anderen Demokratie, und umgekehrt.«9 Dies, so bemerkte er, könne nicht einfach abgetan werden. Er hatte Recht, aber man kann es auch nicht gutheißen. Es muss eine Möglichkeit geben, die beiden voneinander zu trennen, zwischen populistisch und demokratisch zu unterscheiden, sonst gibt es ein (logisches und politisches) Chaos, sonst wird entweder »demokratisch« zu einem abwertenden Begriff, was absurd wäre, oder »populistisch« wird aufgewertet. Die grassierende Verwirrung um das Wort würde also noch größer.
Was hat es mit der Verwendung des Begriffs »das Volk« in der Präambel der US-Verfassung auf sich, dass sie nicht populistisch ist? Wer sind »die Menschen«? Wenn wir die Bände mit juristischen Kommentaren durchforsten, können wir grob sagen, dass »das Volk« in diesem Text die Bürger sind. Der Ausdruck bezeichnet die Gesamtheit der Individuen, die die Bürgerschaft als Ganzes ausmachen. Das Ganze, »das Volk« in dieser Wendung hier, ist die Summe seiner Teile. Im populistischen Sinne jedoch ist »das Volk« niemals das Ganze, ist es niemals inklusiv.
Aber selbst das ist nicht ganz eindeutig und endgültig. Denken Sie an den Slogan »die Macht dem Volk«, der in den 1960er-Jahren in den USA aufkam. »Das Volk« bezog sich auf die hoi polloi, das einfache Volk: Menschen, die in einem liberal-demokratischen (oder plutokratischen) System sozial und wirtschaftlich benachteiligt waren. Der Ausdruck »das Volk« fungierte damals als Teil einer Forderung nach einer Umverteilung der politischen Macht, um Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Obwohl »das Volk« hier also nicht die Bevölkerung als Ganzes meinte, wurde die Parole jedoch nicht verwendet, um eine Gruppe zu privilegieren und andere vom nationalen System auszuschließen. Etwas komplizierter liegt der Fall der Black Panthers, deren Parole »Alle Macht dem Volk« benutzt wurde, um die Sache des Schwarzen Nationalismus voranzubringen. Bezeichnenderweise erinnerte ihr »Zehn-Punkte-Programm« jedoch an die Bill of Rights der US-Verfassung.10 Der Schwarze Nationalismus war eine Reaktion auf den Ausschluss aus dem »Wir« in der Formulierung »Wir, das Volk der Vereinigten Staaten«. Wenn jedes politische Programm, das Reformen, eine Revolution oder sogar Unabhängigkeit im Namen der Gerechtigkeit anstrebt, populistisch ist, dann ist Populismus entweder nicht mehr abwertend oder das Wort verliert jegliche Bedeutung. (In manchen Fällen kann der Ausdruck »das Volk« jedoch zwischen einem populistischen und einem nicht populistischen Gebrauch schwanken – und diese Zweideutigkeit nutzen populistische Politiker gerne aus).
Wie wird dann der Ausdruck »das Volk« in einem eindeutig populistischen Diskurs verwendet? Wer sind »die Menschen« in der Weltanschauung des Hardcore-Populismus? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich ein Beispiel nennen: Reden von Nigel Farage aus dem Jahr 2016, als sich Großbritannien für den Brexit (Juni) und die USA sich für Trump (November) entschieden.11 In meinen Kommentaren zu den Redeauszügen werde ich Merkmale einfügen, die Farage zwar so explizit nicht ausgesprochen hat, die aber Teil seines Subtextes sind, auf den es hier ankommt.
In den frühen Morgenstunden des 24. Juni 2016, einem Freitag, einen Tag nach dem Referendum über den Verbleib in der EU, sprach Farage, der damals die UK Independence Party (UKIP) führte, auf einer Kundgebung zu seinen Anhängern. Das Ergebnis war noch nicht offiziell bekannt gegeben worden, doch zeichnete sich der Sieg der Austrittskampagne bereits deutlich ab. In einer kurzen Rede gelang es ihm, mehrere Schlüsselkomponenten eines klassisch-populistischen Diskurses zusammenzufassen. Das Ergebnis, so sagte er, »wird ein Sieg für echte Menschen sein, ein Sieg für normale Menschen, ein Sieg für anständige Menschen«12. Bei dieser Gelegenheit setzte er den bestimmten Artikel »der« nicht vor »Menschen«, aber er war in seiner Rhetorik implizit enthalten. Doch wenig später wurde er deutlicher, als er auf einer Wahlkundgebung für Trump in Mississippi sprach und explizit sagte, er bringe »eine Botschaft der Hoffnung« aus dem Vereinigten Königreich. »Es ist eine Botschaft, die besagt, wenn die kleinen Leute, wenn die wirklichen Leute, wenn die einfachen, anständigen Leute bereit sind, aufzustehen und für das, woran sie glauben, zu kämpfen, dann können wir die großen Banken überwinden, dann können wir die multinationalen Unternehmen überwinden.«13 In der Brexit-Rede vom 24. Juni hatte er die Liste jener Kräfte, die »wir« überwinden können, noch erweitert: »Wir haben gegen die multinationalen Konzerne gekämpft, wir haben gegen die großen Handelsbanken gekämpft, wir haben gegen die große Politik gekämpft, wir haben gegen Lügen, Korruption und Betrug gekämpft«.14
Hier liegt, kurz gesagt, der harte Kern der populistischen Weltanschauung. In gewisser Weise ist es eine einfache Welt, eine Welt, die aus einem einfachen Kampf oder Konflikt besteht. Auf der einen Seite steht »das Volk«, auf der anderen Seite seine Feinde und Ausbeuter. Das Volk ist »echt« anstatt unauthentisch, »gewöhnlich« im Vergleich zu der Elite, »anständig« im Gegensatz zu den Überbringern von »Lügen, Korruption und Betrug«. Farage nennt diese Leute »klein«: Sie sind klein, weil es ihnen an den Ressourcen der »großen Politik«, der »großen Handelsbanken« und der »multinationalen Konzerne« mangele. Das Wort »multinational« ist rhetorisch aufgeladen, denn »das Volk« ist gleichbedeutend mit »die Nation«, was das Gegenteil von »multi« ist. »Das Volk« ist ein homogener Block mit einem einheitlichen Willen und spricht (außer wenn es gerade »die schweigende Mehrheit« ist) mit einer einzigen Stimme. Ein Volk, ein Wille, eine Stimme. Farage, der sich mit »dem Volk« identifiziert, glaubt, dass er für das Volk sprechen kann. Somit werden seine persönliche Stimme und die Vox populi eins. Aus »wir, das Volk« wird »ich, das Volk«. Dies ist die klassische Stimmlage der Hardcore-Populisten.
Wenn man dies einmal durchbuchstabiert, wird jede Behauptung, dass »populistisch« und »demokratisch« ununterscheidbar wären, lächerlich. Richtig artikulierter Hardcore-Populismus ist, wie ich eingangs sagte, eine Bedrohung für die Idee einer gerechten, offenen und demokratischen Gesellschaft an sich. In den USA ist Bernie Sanders als Populist gebrandmarkt worden, ebenso wie Jeremy Corbyn in Großbritannien.15 Doch gemessen an den Beispielen dieses Essays – gemessen an der Struktur der Weltanschauung des Hardcore-Populismus – verdient weder Sanders noch Corbyn diese Beschreibung, selbst wenn es in deren Rhetorik populistische Elemente gibt. Es ist nicht unmöglich, Hardcore-Populisten auf der linken Seite zu finden, aber die überwältigende Bedrohung kommt heute – in Europa wie den USA – von rechts. Der Rechtspopulismus bietet viele Varianten desselben Themas: »das Volk«, ethnisch oder rassisch definiert, gegenüber einem oder mehreren anderen, die nicht dazu gehören: Juden, Muslime, Türken, Schwarze, Mexikaner, »Einwanderer« und so weiter.
Wenn es heute in Europa und den USA eine politische Bedrohung gibt, die noch größer ist als der Populismus, dann ist es das weitverbreitete Versagen der etablierten politischen Parteien und Persönlichkeiten, ihm die Stirn zu bieten. Der verhängnisvolle erste Schritt besteht darin, sich damit abzufinden, wie Populisten die Sprache verwenden. Ein Beispiel dafür ist »der Wille des Volkes« – eine Formulierung, die im Vereinigten Königreich routinemäßig verwendet wurde, wenn es um das Ergebnis des Brexit-Referendums ging. Sogar Remainer, die sich für den Verbleib und gegen den Austritt aussprachen, neigten dazu, den Gedanken zu akzeptieren, dass das Ergebnis »den Willen des Volkes« zum Ausdruck bringe. Allerdings muss man die Wahlmöglichkeiten auf dem Stimmzettel genau bedenken: Kreuzen Sie »Mitglied der Europäischen Union bleiben« oder »Die Europäische Union verlassen« an. Die erste Option beschrieb den Status quo, eine bekannte Größe. Die zweite Option stand für eine total unbekannte Größe (die selbst zu dem Zeitpunkt, als dieser Essay geschrieben wurde, im Herbst 2020, in entscheidenden Punkten noch unbekannt ist). Bedenken Sie, dass die Wahlbeteiligung nur 72,21 Prozent betrug. Bedenken Sie ferner, dass die Abstimmung fast fifty-fifty ausging und das Vereinigte Königreich teilte: 51,89 Prozent für den Austritt, 48,11 Prozent für den Verbleib. Darüber hinaus stimmten von den vier Ländern des Vereinigten Königreichs zwei (England und Wales) für den Austritt, während zwei (Schottland und Nordirland) für den Verbleib stimmten.16 Zumindest legen diese Fakten nahe, dass die Verwendung des Ausdrucks »der Wille des Volkes« zur Beschreibung des Wahlergebnisses nicht taugt. Welches Volk? Wessen Wille? Wille mit welchem Wissens- oder Überzeugungsgrad? Und so weiter.
Es geht hier nicht um die Formulierung als solche. Es geht auch nicht um den Brexit, der von einigen aus Gründen unterstützt wurde, die weder populistisch noch nationalistisch waren. Es geht um die Art und Weise zu sprechen. Wenn »der Wille des Volkes« eine rein empirische Bedeutung hätte, dann hieße die Kurzform lediglich »die Mehrheit derer, die gewählt haben«. Aber in der öffentlichen Debatte, die auf das Ergebnis des Referendums folgte, schien sich der Ausdruck auf eine transzendente Einheit zu beziehen, »das Volk«, und einen metaphysischen »Willen«, der irgendwie alle Unterschiede in sich selbst aufhob; ein heiliger Wille; ein Wille, den man nicht infrage stellen konnte. Jeder, der das Ergebnis des Referendums bezweifelte, konnte leicht als undemokratisch bezeichnet werden – was natürlich selbst undemokratisch war. Aber die Stimmung im Land zeugte davon, dass die Menschen dies im Allgemeinen nicht erkannten. Es war wie ein böser Zauber, der über ein ganzes Volk gelegt wurde, ohne dass George Orwell ihn zerstreuen konnte.17 Es war unheimlich.
In gewisser Weise war dies ein größerer Triumph für Farage als der Brexit. Die Sprache ist die Seele eines Volkes. Wenn man die Sprache besitzt, besitzt man auch das Volk. In ganz Großbritannien sprachen die Menschen à la Farage, auf seine Art und Weise, übernahmen seine Syntax, als ob sie ein Pint Bier aus einem gemeinsamen Glas mit einem gemeinsamen Henkel tranken. (Ein Volk, ein Durst, ein Glas.) Es gab sogar prominente Brexit-Gegner, die das Ergebnis des Referendums als vollendete Tatsache zu akzeptieren bereit waren. Zum Beispiel der Schattenfinanzminister aus der Labour-Partei, John McDonnell. In der Today-Sendung von BBC Radio 4 sagte er: »Wir haben uns dafür eingesetzt, zu bleiben, aber wir sind Demokraten und müssen den Willen des Volkes respektieren.«18 Mit anderen Worten, die Angelegenheit ist erledigt. Doch in einer Demokratie können Entscheidungen angefochten und Fragen sollten wiederaufgeworfen werden. Hardcore-Populismus stellt die größte Bedrohung für die Demokratie dar, wenn Politiker und Kommentatoren einen populistischen Sprachgebrauch dulden.
1»About Words« (Cambridge Dictionary blog): ‹https://dictionaryblog.cambridge.org/2017/11/29/cambridge-dictionarys-word-of-the-year-2017/›.
2Antonio Caño: Pope Francis: »The danger is that in times of crisis we look for a savior«, in: El Pais, 22.1.2017, ‹https://english.elpais.com/elpais/2017/01/21/inenglish/1485026427_223988.html›.
3Jan-Werner Müller: What is Populism?, Philadelphia 2016, S. 87.
4Cristóbal Rovira Kaltwasser et al: The Oxford Handbook of Populism, Oxford 2017, S. 3.
5Encyclopaedia Britannica: ‹https://www.britannica.com/topic/Optimatesand-Populares›.
6Ernesto Laclau und Chantral Mouffe befürworten Populismus aus einer linken Perspektive, aber sie sind politische Theoretiker und keine praktizierenden Politiker.
7Lewis Carroll: Through the Looking Glass, Kap. 6.
8Müller, S. 7.
9Ralf Dahrendorf: Acht Anmerkungen zum Populismus, Berlin 2003. Dahrendorf (1929–2009) war ein bedeutender deutsch-britischer Soziologe, Philosoph und Politikwissenschaftler.
10Ten-Point Program, Wikipedia, ‹https://en.wikipedia.org/wiki/Ten-Point_Program›.
11Nigel Farage war früher Vorsitzender der UK Independence Party (UKIP). Seit März 2019 ist er Vorsitzender der Brexit-Partei.
12The Independent, 24.6.2016: ‹https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/eu-referendum-nigel-farage-4am-victory-speech-the-text-in-full-a7099156.html›.
13John Cassidy: Trump embraces Nigel Farage, his British alter ego, in: The New Yorker, 25.8.2016, ‹https://www.newyorker.com/news/john-cassidy/trump-embraces-nigel-farage-his-british-alter-ego›.
14The Independent, 24.6.2016.
15Siehe z. B. Jonathan Freedland in: The Guardian, 15.2.2020, S. 36-37.
16Results of the 2016 United Kingdom European Union membership referendum, Wikipedia, ‹https://en.wikipedia.org/wiki/Results_of_the_2016_United_Kingdom_European_Union_membership_referendum›.
17Eine Anspielung auf den Essay Politics and the English Language (1946) von Gerorge Orwell (1903–1950), Autor von Farm der Tiere und 1984. Orwell war ein Verfechter des demokratischen Sozialismus.
18The Guardian, 2.2.2017.