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Patriotismus
Marion Detjen
Die meisten in der politischen Bildung, in den Medien, in der Politik, aber auch in akademischen Zusammenhängen gegebenen Definitionen von Patriotismus behandeln ihn als den nützlichen, wohlgeratenen, guterzogenen Bruder des bösen Buben Nationalismus; was der Nationalismus durch eine »Übersteigerung« der Vaterlandsliebe anrichte, solle der Patriotismus als »gemäßigte«, nicht aggressive, mit anderen Ländern, Völkern und Staaten Frieden und Ausgleich suchende Form verhindern; manchmal noch ergänzt um die Setzung, dass der Patriotismus an eine republikanische Staatsform geknüpft sein solle. Der Patriotismus habe – so der ideengeschichtliche Erklärartikel von Ives Bizeul auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung1 – auch historisch »dafür gesorgt, dass die modernen Republiken nicht primär als kulturelle beziehungsweise ethnische Einheiten verstanden wurden, sondern als nicht angestammte, politische ›Gemeinschaften von Staatsbürgern‹.« Die »mit dem republikanischen Patriotismus verbundene Idee der politischen Staatsnation (hat) die Vermehrung von menschenabgrenzenden ›völkischen‹ und von menschenverachtenden rassistischen Bewegungen gebremst.« Allerdings seien sowohl in den politischen Praktiken als auch in der Theorie der »gute« Patriotismus und der »schlechte« Nationalismus oftmals doch nicht so trennscharf zu unterscheiden. Auch da, wo der Patriotismus mit Rechten und Pflichten von Bürgern einhergeht, wird zugegeben, dass die Patrioten häufig außenpolitisch aggressiv oder nach innen diskriminierend in Erscheinung treten. Die ungleichen Brüder sind sich ähnlicher, als auf den ersten Blick sichtbar ist; das war aber noch nie ein Grund dafür, ihre Rollenverteilung grundsätzlich infrage zu stellen. Patriotismus gilt trotz der vielen Überschneidungen mit dem Nationalismus in den meisten Zusammenhängen als etwas Gutes, und wenn Schlechtes mit ihm geschieht, dann heißt es, dass er eben missbraucht worden sei.
Ich habe selbst einmal versucht, den Patriotismus durch Abgrenzung vom Nationalismus zu retten. Der Patriotismus überlasse es vollständig unserer eigenen Verantwortung, zu definieren, wie und was wir an den Heimaten, denen wir uns zugehörig fühlen, lieben, und wie und auf was wir stolz sein wollen. Der Nationalismus hingegen sei ein historisch bestimmtes, nämlich auf den Nationalstaat, wie er sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat, bezogenes Phänomen und habe sich, laut Hannah Arendt, schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts angesichts der globalen und transnationalen Entwicklungen überlebt. Nationalismus, die besondere und exkludierende Anhänglichkeit an den Nationalstaat, schade seitdem in jeder Form, ganz egal wie gemäßigt und gewaltfrei er daherkommt, weil er das Lösen von Problemen verhindert und durch Exklusion immer nur neue Probleme schafft. Patriotismus hingegen? Warum nicht, wenn das Land, auf das er sich bezieht, gut verfasst ist und Prozeduren und Errungenschaften aufweist, auf die man mit Recht stolz sein kann, selbst wenn es nur die Leistungen der Fußballmannschaft sind? Es liegt ja dann an uns, zu sagen worauf sich unser Patriotismus bezieht, und darüber kann man politisch streiten.
Die begriffsgeschichtliche Perspektive, die dieser Sammelband vorgibt, entzieht dieser Ehrenrettung aber den Boden und legt nahe, die übliche Argumentation umzudrehen, vom Kopf auf die Füße zu stellen: Gemeinschaften und auch Staaten brauchen die Einstellungen und Verhaltensweisen, die mit Patriotismus in Verbindung gebracht werden. Aber diese Patriotismus zu nennen, beruht auf einem Missverständnis oder tatsächlich auf Missbrauch. Es gibt andere Wörter, um das zu bezeichnen, was am »Patriotismus« gut und wichtig oder manchmal auch nur harmlos ist: Gemeinsinn, Engagement, Heimatliebe, Bekenntnis, Verfassungsliebe, Freiheitssinn, Solidarität, Verpflichtung, Staatstreue, Loyalität, das Hintanstellen von Eigeninteressen hinter die Interessen der Allgemeinheit – oder auch nur Feierlaune. Und es ist zu fragen, was eigentlich der semantische Mehrwert des Patriotismus-Begriffes ist – was fügt er diesen anderen Bezeichnungen hinzu, und wozu?
Etymologisch liegt die Sache so: Im Griechischen und Lateinischen war der »patriotes« beziehungsweise »patriota« einer, der demselben Vaterland oder derselben Vaterstadt (griech. »patris«, lat. »patria«), der gleichen Gegend angehört; ein Landsmann. Ein Landsmann zu sein und ein Vaterland zu haben, war für die alten Griechen aber nichts, worauf man stolz sein sollte, denn es gab etwas Wertvolleres: die Polis, das Gemeinwesen. In der Polis konnte man frei sein und sich als Bürger bewähren. Deshalb setzten die alten Griechen die Patrioten mit den Barbaren gleich: Leute, die nur eine Heimat haben und eine unverständliche Sprache brabbeln, aber kein politisch verfasstes Gemeinwesen besitzen. Dass das den angeblichen Barbaren möglicherweise unrecht tat, steht auf einem anderen Blatt. Hier geht es darum, dass in der Bezeichnung Patriot ursprünglich eine pejorative Bedeutung mitschwang: NUR eine Herkunft und Heimat haben, nicht aber Teil eines politischen Gemeinwesens zu sein.2 Denn ohne Rechte und Pflichten, ohne politische Teilhabe und soziale Sicherheit kann es ja jederzeit geschehen, dass man aus der Heimat vertrieben wird; für Diogenes Grund genug, gleich ganz ohne herkunftsmäßige Zugehörigkeit auszukommen und sich als Kosmopolit zu verstehen.
In der Römischen Republik war ein Patriot zwar immer noch nicht mehr als ein Landsmann, aber die Patria wurde nun durchweg positiv konnotiert und der Konflikt zwischen beiden Bedeutungen in dieser positiven Bezugnahme quasi aufgehoben: Cicero unterschied zwar die »patria civitatis«, also das staatsbürgerliche Vaterland, und die »patria naturae«, das irgendwie naturgegebene, nur durch Herkunft definierte Vaterland, beides fällt für ihn aber noch in der Römischen Republik zusammen, gegen deren Niedergang er ankämpfte. Im Zuge der Zerstörung der Römischen Republik jedoch verstand Cicero, der selbst ausgiebig Erfahrungen mit Exil gemacht hatte, schließlich den von den Griechen überlieferten Sinnspruch »ubi bene, ibi patria« – wo es gut ist, dort ist Vaterland – anders als noch Aristophanes gut 300 Jahre vor ihm, nicht mehr als unpolitischen Opportunismus, sondern als Aufforderung, sich dort zu Hause zu fühlen, wo man glückselig und tugendhaft sein kann, auch wenn man keine Res Publica mehr hat.3 Für einen politischen, freiheits- und gerechtigkeitsliebenden Menschen ist die Patria ohne Res Publica eigentlich nichts; wenn ihm die Res Publica aber genommen wird, entkommt er der Frage der Patria nicht mehr. Cicero hat diese Frage dadurch beantwortet, dass er die Heimat vom Herkunftsland löste und nötigenfalls auch im Exil finden konnte.
Um das – die gedankliche Möglichkeit der Heimat im Exil – zu verhindern, wurde im augusteischen Rom, nach der auch formalen Abschaffung der Republik, die »amor patrii« als Liebe zum Vaterland Teil eines ideologischen Programms, das die Patria ein für alle Mal auf Rom festlegte und die altrömischen, mit der Republik in Verbindung gebrachten Tugenden für die imperiale Herrschaft instrumentalisierte: »dulce et decorum est pro patria mori« – süß und schicklich sei es, so der sich hier dem Kaiser andienende Dichter Horaz, fürs Vaterland zu sterben, auch ohne politische Teilhabe und auch ohne Glückseligkeit. Die verlotterte Jugend müsse hart gemacht werden, wie es die altrömischen Vorväter angeblich gewesen seien; die Männer hätten wieder so zu kämpfen, dass die von der feindlichen Burg herabsehenden Ehefrauen und Bräute ins Seufzen geraten würden.4
Auch in der Republik, auch in ihren besten Zeiten, war die Patria untrennbar verknüpft mit dem Patriarchat, der Herrschaft des Vaters über den Hausstand. Nur diese Väter hatten ja politische Teilhabe, und damit einher ging die Gewalt über Leben und Tod ihrer Familien – über die Frau, die Kinder und Kindeskinder, die Sklaven und die Freigelassenen. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben sieht in dem absoluten Tötungsrecht des Vaters über seine Söhne eine historische Grundlage der souveränen Macht, der Macht des Staates über die Bürger im Ausnahmezustand.5 Die unterworfenen Söhne konnten eines Tages an die Stelle ihrer Väter rücken, die Töchter nicht, ihr Leben war und blieb immer absolut tötbares Leben. Trotzdem waren sie auf den Staat bezogen. Die römischen Matronen feierten, in den Häusern von Vätern, aber unter ihrem Ausschluss, das Fest der »Bona Dea«, und diese Göttin wurde nicht nur mit der Fruchtbarkeit und Keuschheit der römischen Frauen, sondern auch mit dem Schutz des römischen Staates und des römischen Volkes assoziiert. Das Adjektiv »bonus«« hatte auch die Bedeutung »patriotisch«, »der herrschenden Staatsform zugetan«, »loyal«.6 Auch die Unfreien sollen durch Loyalität und Liebe zum Land und zum Staat gebunden sein. Und tatsächlich war es wohl für die Unfreien attraktiver, sich für das Vaterland aufzuopfern, als einfach nur so getötet zu werden. Die »amor patrii« bestrickt die Unterworfenen, die die Patria bevölkern und den Vätern gehorchen müssen, und lässt sie die Herrschaftsform, die sie knebelt, akzeptieren. Polemisch könnte man zusammenfassen, dass die Patria in der Antike immer nur das war, was übrig blieb, wenn die öffentlichen Belange nicht zugänglich oder zerstört worden waren und wenn man keine politischen Rechte hatte; das, was übrig blieb, um mit Unfreiheit zurechtzukommen.
Überspringen wir die Begriffsgeschichte des Patriotismus, der als eigenes Wort für die Vaterlandsliebe erst in der europäischen Aufklärung auftauchte. Überspringen wir die Französische Revolution und Napoleon, überspringen wir Rousseau, Kant und Herder, überspringen wir, wie in den Jahrzehnten um 1800 herum im ständigen Rückbezug auf die griechisch-römischen Ursprünge der Patriotismus sowohl als republikanische Tugend und als auch als Liebe und Loyalität zu einem naturwüchsig gedachten Vaterland eine immer größere normative Bedeutung erhielt. Und überspringen wir auch, wie im 19. und 20. Jahrhundert der Patriotismus von seinen Ambivalenzen wie seinen republikanischen Bindungen gereinigt immer nationalistischer wurde, wie er Sozialisten den Verrat am Internationalismus und schließlich, unter der Parole »right or wrong, my country«, nicht nationalistischen, liberalen Demokraten Arrangements mit dem Faschismus und Nationalsozialismus ermöglichte.
Unter der nationalsozialistischen Herrschaft entfaltete er neue Ambivalenzen, weil er nun verwendet werden konnte, um in Sachen Vaterlandsliebe den Nazis Konkurrenz zu machen, und um sie und ihren Volksgemeinschaftsanspruch zurückzuweisen. Wieder war der Patriotismus, von ganz links bis ganz rechts, eine ideologische Klammer, um mit den Folgen des zerstörten öffentlichen Raums und der zerstörten Freiheit umzugehen. Selbst die Entziehung der deutschen Staatsbürgerschaft konnte dem elitären Patriotismus des Schriftstellers Rudolf Borchardt nichts anhaben, der dafür seine jüdische Herkunft verleugnete und notorisches Lügen und Fälschen betrieb. Es scheint überhaupt ein innerer Zusammenhang zwischen einem Komme-was-wolle-Patriotismus und der Bereitschaft zum Lügen zu bestehen.7 Kurt Tucholsky jedenfalls und seine Freunde wussten bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme, dass in einem Deutschland, das den Herausgeber der »Weltbühne« Carl von Ossietzky als Landesverräter ins Gefängnis schickte, jeder Patriotismus, auch der republikanische, sinnlos war. Die Freiheit war verloren, so Ossietzky: »Anderthalb Jahre Freiheitsstrafe? Es ist nicht so schlimm, denn es ist mit der Freiheit in Deutschland nicht weit her. Mählich verblassen die Unterschiede zwischen Eingesperrten und Nichteingesperrten«.8 Während Tucholsky, Walter Hasenclever und andere sich schon damals als exiliert empfanden und aus Deutschland herauszukommen suchten. »Tucho und ich sehen düster mit unserem Vaterlande. Die Partie ist verloren. Uns droht Verbannung, Verbot, Ächtung – Auf nach Frankreich! Zusammenschluss der Heimatlosen!!«, schrieb Hasenclever am 1. Dezember 1931 an Kurt Wolff.9
Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg, dem Verlust der deutschen Ostgebiete und der deutschen Teilung schließlich machte Dolf Sternberger 1959, nach gut zehn Jahren der Geltung des bundesrepublikanischen Grundgesetzes, das deutsche »Vaterland« in enger Bindung an die »›Republik‹, die wir uns schaffen«, und »die Freiheit, deren wir uns nur wahrhaft erfreuen, wenn wir sie selber fördern, nutzen und bewachen«, wieder zu einem Wert.10 In den 1970er-Jahren formulierte er diesen Wert aus und entwickelte ihn zum sogenannten Verfassungspatriotismus, ohne den Patriotismusbegriff selbst zu reflektieren.11 So stand er als ein republikanischer Patriotismus bereit, als ab Mitte der 1980er-Jahre der Historikerstreit, die deutsche Wiedervereinigung, die Fortschritte bei der europäischen Integration und die zunehmenden Einwanderungsbewegungen nach Deutschland eine neue Debatte über nationale Identität entfachten. Theoretisch untermauert wurde er, wiederum ohne dass der Patriotismusbegriff selbst reflektiert worden wäre, von Jürgen Habermas, als eine Art normatives Scharnier, um zwischen der partikularen, nationalgeschichtlich geprägten Kultur und den universellen Werten der Verfassung zu vermitteln.12 Anstatt in der liberalen Tradition, mit ihrem individualistisch-instrumentalistischen Verständnis von Staatsbürgerschaft, nur »einen formalen Konsens« auszudrücken, brauche die Verfassung die freiwilligen »kooperativen Anstrengungen einer staatsbürgerlichen Praxis«, und diese ließen sich über den Verfassungspatriotismus, als einem »neuen politischen Selbstbewußtsein«, erzeugen, vor allem im Hinblick auf ein geeintes Europa.13 Vor gut zehn Jahren, und das ist wohl der letzte Stand, hat Jan-Werner Müller das Konzept noch einmal präzisiert – und wieder, ohne den Patriotismusbegriff zu reflektieren: Den Verfassungspatriotismus solle man als ein »reflexives Projekt« von Bürger*innen ansehen, die sich in einem liberaldemokratisch verfassten Staat als Gleiche und Freie gegenseitig anerkennen, durch Aushandlung ihrer Konflikte kontinuierlich an der geteilten Verfassungsrealität arbeiten und gemeinsam eine »Verfassungskultur« ausbilden, die »zwischen universellen Prinzipien auf der einen Seite und den spezifischen Erfahrungen historisch konstituierter Kollektive auf der anderen« vermittelt.14 Wichtig sei die universelle Anschlussfähigkeit dieses Patriotismus und sein Verzicht auf ethnisch-kulturelle Identitäten. Während der Nationalpatriot, auch wenn er liberal ist, »bei Nationalkultur anfängt und dann bei liberaldemokratischen Werten landet«, geht der Verfassungspatriotismus die andere Richtung, er »(beginnt) mit universellen liberaldemokratischen Prinzipien und (gewinnt) daraus unter spezifischen historischen Umständen eine partikulare Verfassungskultur«15.
Die Anhänger ethnisch-kultureller Nationalidentitäten warfen und werfen bis heute dem Verfassungspatriotismus vor, dass er »papiern«, kalt und blutleer sei. Sie ignorieren dabei, dass die Liebe zu einer freiheitlichen und gerechten Konstitution durchaus heiß empfunden werden kann; sie ignorieren aber auch, wie nützlich er inzwischen geworden ist, um Konflikte zu verschleiern und eigene Interessen zu verfolgen.
Tatsächlich ist die »partikulare Verfassungskultur« inzwischen in Deutschland so ausgeprägt, dass, anders als noch zu Zeiten Dolf Sternbergers, auch Liberale und Konservative bis sogar in die AfD hinein an ihr mitwirken, sogar Leitkultur-Positionen mit ihr kompatibel sein können. Von der Bundeskanzlerin lässt sich keine Äußerung finden, die zu ihr in Widerspruch stünde. Als Angela Merkel im November 2018, als der UN-Migrationspakt diskutiert wurde, im Bundestag den Multilateralismus zum Patriotismus erklärte – »Entweder man gehört zu denen, die glauben, sie können alles alleine lösen und müssen nur an sich denken. Das ist Nationalismus in reinster Form. Das ist kein Patriotismus. Denn Patriotismus ist, wenn man im deutschen Interesse auch andere mit einbezieht und Win-win-Situationen akzeptiert«16 – konnte sie das im Vertrauen darauf tun, dass das »deutsche Interesse« in verfassungspatriotischem Sinne nicht mehr als Interesse einer ethnisch-kulturellen Volks- und Schicksalsgemeinschaft verstanden wurde, sondern als das Interesse der durch das Grundgesetz liberaldemokratisch verfassten und in dieser Verfassung bewährten deutschen Staatsbürgernation.
Dolf Sternberger schrieb 1959 über das »Vaterland«, es »wäre eine Erlösung, wenn wir das Wort mit Ernst und ohne Scheu gebrauchen dürften«. Die Wortwahl ist heute anders, aber auch wenn kaum jemand bis auf die AfD und die CSU noch Vaterland sagt, ist der Patriotismus gerade in den letzten Jahren auch durch die Berufung auf den Verfassungspatriotismus vollständig rehabilitiert, von jeder Scheu und auch jeder Scham befreit, ja zu einer neuen Pflicht geworden. Kein*e Politiker*in, quer durch das Spektrum, kann es sich heute noch leisten, als unpatriotisch zu gelten. Die angeblich unpatriotische Geste, mit der Merkel 2013 auf der Siegesfeier der CDU nach der Bundestagswahl dem grinsenden Hermann Röhe das Deutschlandfähnchen aus der Hand nahm und wegwarf, hängt ihr bis heute nach, obwohl sie damit wohl nur eine Grenze zwischen Staat und Partei ziehen wollte.17 Es wird inzwischen wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Deutschlandfahne in jedem Kontext eine gute Sache ist, weil der Patriotismus ja an die Verfassung, an Freiheit, Recht und Ordnung geknüpft ist. Im Wort »Patriotismus« stecken aber immer noch die Vaterherrschaft, die Exklusion, die Unterwerfung und Unterdrückung ganz genauso drin wie im »Vaterland«, und weder die Verpflichtung auf die Verfassung noch die Versuche der Grünen, ihn durch unpräzise Heimatbegriffe zu besetzen, entkommen dieser Etymologie. Der Soziologe Stephan Lessenich ließ sich deshalb auf die Trennung von Nationalismus, Patriotismus und Verfassungspatriotismus gar nicht erst ein, als er 2018 den »linken Neonationalismus« als »eine der wenigen politischen Positionierungen, auf die sich Rot-Rot-Grün derzeit einigen zu können scheint«, diagnostizierte.18 Die patriotischen Anbiederungen und der Verrat an der internationalen beziehungsweise transnationalen Solidarität haben eine fatale Kontinuität auf der Seite der deutschen Linken, quer durchs 20. und 21. Jahrhundert, und leben jetzt wieder auf.
Jede Art von Patriotismus, auch der Verfassungspatriotismus, auch und gerade dann, wenn er sich ausschließlich von universellen Werten herleitet, muss sich fragen lassen, wie er zu einer Welt steht, in der immer mehr Menschen in »ihren« Nationalstaaten eben nicht aufgehoben sind, sondern durch verbrecherische, kleptokratische, genozidale Regierungen und Wirtschaftsorganisationen heimatlos gemacht, ins Exil gezwungen und in die Flucht getrieben werden; und in der sich alle Versuche des internationalen Staatensystems – am stärksten mit der Genfer Flüchtlingskonvention oder eben jüngst eher schwach mit dem UN-Migrationspakt – Flüchtlingen und Vertriebenen wieder zu einem Status zu verhelfen, der ihnen Menschenrechte gibt, heute das Scheitern eingestehen müssen. Wie kann der Verfassungspatriotismus es mit den universalen Werten, von denen er herkommt, vereinbaren, dass der Verfassungsstaat, auf den er sich fixiert, eben nicht mit allen anderen Staaten als Gleicher und Freier verkehrt, sondern schon in seiner Entstehung engstens mit dem Imperialismus verschwistert ist, wie Hannah Arendt und, unter vielen anderen, auch Achille Mbembe gezeigt haben? Um mit sich ins Reine zu kommen, müsste er sich erst einmal entkolonisieren und bei der Gelegenheit über seine Umbenennung nachdenken.
Die als Kind mit ihrer Familie aus Europa vertriebene politische Philosophin Judith Shklar hat ein Begriffsinstrumentarium entwickelt, um die Unterschiede und die Konflikte zwischen politischer Verpflichtung, politischer Loyalität, Bekenntnis, Treue und Gefolgschaft herauszuarbeiten.19 Im (Verfassungs-)Patriotismus werden Verpflichtung, Loyalität und Bekenntnis in einer Weise vermischt, die die Konflikte verschleiert und die Unterschiede verwischt. Loyalität als Bindung zu einer sozialen Gruppe ist affektiv und »durch die ganze Persönlichkeit des Handelnden motiviert«; Verpflichtung hingegen ist regelgeleitet, zum Beispiel beim Befolgen von Gesetzen; Bekenntnisse (commitments) beinhalten eine Wahl, einen Entschluss.20 Die für Shklar maßgebliche Frage ist, was passiert und wie sich die Konflikte entwickeln, wenn der Staat oder die Gruppe auf den »Pfad der Ungerechtigkeit« gerät und Mitglieder ins Exil treibt, ausstößt und verrät (durch politischen, aber auch durch ökonomischen Verrat). Shklar sieht die Staatenwelt heute nicht mehr im Stande, die Probleme des Exils zu lösen: »Die meisten Menschen fürchten nicht einfach das Exil in der Fremde; viele werden Exilanten in einer ewigen Vorhölle sein.«21 In dieser Situation wird die Stimme des Gewissens des Einzelnen wieder laut. Shklar vergleicht sie mit der Situation der Sklaverei in den USA: »Eine Ungerechtigkeit, so immens wie die Sklaverei, muss, zumal in einem ansonsten einigermaßen gerechten Staat, moralische Entrüstung hervorrufen. Und manche der Amerikaner, die entschlossen waren, die Sklaverei zu beenden, fanden sich in einer sonderbaren Situation wieder. Diejenigen unter ihnen, die meinten, dass die gesamte amerikanische Verfassung, nicht bloß einzelne Paragrafen, ein Dokument der Sklaverei sei, konnten keine Verpflichtung spüren, den Gesetzen überhaupt zu gehorchen.«22 Es entsteht ein moralisches Vakuum; diejenigen, die sich nicht damit abfinden wollen, sehen sich in das Böse verwickelt, was immer sie tun, und sind auch von den Opfern getrennt, weil selbst (noch) nicht ausgestoßen. Es bleibt ihnen nur noch »das Argument des reinen Gewissens« im »inneren Exil«, da sie »durch die Ungerechtigkeit, die sie um sich herum wahrnehmen, so vollkommen isoliert sind, dass alle ihre Loyalitäts- und Treuebande zusammen mit ihren politischen Verpflichtungen unterhöhlt wurden.«23
Das Grundgesetz enthält allerdings ein Grundrecht im Artikel 4, noch vor der Meinungsfreiheit, nur hinter der Menschenwürde, der Freiheit und Unverletzlichkeit der Person, und der Gleichheit vor dem Gesetz, das genau diese Erfahrung aus dem Nationalsozialismus zu beherzigen scheint: »(1) Die Freiheit des Glaubens, des GEWISSENS und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.« Der Verfassungsbuchstabe jedenfalls unterstützt die Einzelnen darin, angesichts des großen, auch von Deutschland mitverschuldeten Unrechts an den Grenzen, nicht ins innere Exil zu müssen. Ob die deutsche Verfassungskultur dieser immensen Herausforderung gewachsen ist, scheint noch nicht ausgemacht. Ein Mehrwert durch Patriotismus welcher Art auch immer ist jedenfalls nicht zu erkennen.
1Ives Bizeul: Nationalismus, Patriotismus und Loyalität zur offenen Republik, in: Politik und Zeitgeschichte, 1.2.2007, 21.12.2006, ‹https://www.bpb.de/apuz/30737/nationalismus-patriotismus-und-loyalitaet-zur-offenen-republik?p=all#fr-footnodeid_32›.
2Das Handwörterbuch der griechischen Sprache übersetzt patriotes als »der aus dem nämlichen Lande ist, Landsmann, Mitbürger, aber […] nur von Barbaren […] u. von Sklaven« (‹https://books.google.ch/books?id=PkQyAAAAQAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r#v=onepage&q&f=false›). Der griechische Mitbürger hingegen wurde polites genannt. Die Loyalität galt der Polis, nicht Griechenland.
3Res Publica im doppelten Wortsinn – wenn man also keine Römische Republik und keine öffentlichen Belange mehr hat, für die man sich verantwortlich fühlen kann. Der Sinnspruch ist eine Verkürzung des Cicero-Zitats »patria est, ubicumque est bene« (Cicero: Gespräche in Tusculum: Beeinträchtigen äußere Mängel das glückselige Leben? 108.3 – 109.5, ‹https://www.gottwein.de/Lat/Cic-Tusc/tusc5097.php›). In Aristophanes’ Theaterstück Plutus (Der Reichtum) erscheint der Spruch ins Negative gewendet, wenn der Götterbote Hermes bereit ist, die Götter zu verraten und die Götterwelt zu verlassen, nur um wieder von den Menschen mit Opfergaben gefüttert zu werden, ‹http://www.online-literature.com/aristophanes/plutus/1/›.
4Horaz: Carmen 3.2: Tapferkeit im Kampf, ‹https://www.gottwein.de/Lat/hor/horc302.php›.
5Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002.
6‹https://de.pons.com/%C3%Bcbersetzung/latein-deutsch/bonus›.
7Peter Sprengel: Rudolf Borchardt. Der Herr der Worte, München 2015.
8Carl von Ossietzky: Der Weltbühnen-Prozeß, in: Weltbühne, 1.12.1931.
9Walter Hasenclever an Kurt Wolff und Helene Mosel, 1.12.1931, Kurt Wolff Archive, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, YCGL MSS 3, Box 4, Folder 125.
10Dolf Sternberger: Das Vaterland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.9.1959, abgedruckt in: Günter C. Behrmann/Siegfried Schiele (Hg.), Verfassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung? Didaktische Reihe der Landeszentrale für Politische Bildung Württemberg, Schwalbach/Ts. 1993, S. 1-2.
11Dolf Sternberger: Verfassungspatriotismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.5.1979; abgedruckt in ebd., S. 2-4.
12Jürgen Habermas: Staatsbürgerschaft und nationale Identität, in: ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1990, S. 632-660.
13Ebd., S. 639, 640, 650.
14Jan-Werner Müller: Verfassungspatriotismus, Eine systematische Verteidigung, in: Vorgänge 3/2010, S. 111-118, hier S. 114.
15Ebd., S. 111.
16Kanzlerin Merkel in der Generaldebatte im Deutschen Bundestag: »Andere einbeziehen – im deutschen Interesse«, 21.11.2018, ‹https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/andere-einbeziehen-im-deutschen-interesse-1552674›.
17Robert Rossmann: Wenn Bilder stören, in: Süddeutsche Zeitung, 14.12.2016, ‹https://www.sueddeutsche.de/politik/politiker-videos-wenn-bilder-taeuschen-1.3293415›.
18Stephan Lessenich: Die Linke entdeckt die Nation – mal wieder, in: Deutschlandfunk Kultur, Politisches Feuilleton, 20.6.2018, ‹https://www.deutschlandfunkkultur.de/spd-und-patriotismus-die-linke-entdeckt-die-nation-mal.1005.de.html?dram:article_id=420770›.
19Judith N. Shklar: Verpflichtung, Loyalität, Exil, hg. und übersetzt von Hannes Bajohr, Berlin 2019. Der amerikanische Originaltext erschien 1998.
20Ebd., S. 20.
21Ebd., S. 45/46.
22Ebd., S. 46.
23Ebd., S. 49/50.