Kitabı oku: «Systemische Erlebnispädagogik», sayfa 3

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Prozessorientierung hingegen erfordert, neben dem rationalen Denken auch ein feinstoffliches Bewusstsein und neben dem kausalen auch ein synchronistisches Weltbild zuzulassen. Und schon ist‘s vorbei mit so mancher Planerei – man begibt sich sozusagen bewusst und freiwillig auf unbekanntes Terrain. Wenn ich so arbeiten will, muss ich akzeptieren können, dass unser Sein mehr ist als eine logische Kette von Ereignissen und dass es Brücken gibt zwischen der materiellen und der geistigen Welt, die uns Phänomene bescheren und Hinweise geben, die wir nicht planen oder vorausahnen können, die aber für den Prozess, in dem wir uns bewegen, von großer Bedeutung sind. Prozessorientierung heißt auch, sich innerhalb eines festgelegten Zeitraums im Kontext unseres linearen Zeiterlebens auf Momente einzulassen, die neben der Zeit zu liegen scheinen. Momente, die mit der Uhr als kurz zu messen sind, dehnen sich beispielsweise aus und füllen sich mit Informationen. Ebenso kann es passieren, dass plötzlich Dinge in der Umgebung, die wir sonst allenfalls wahrnehmen, auf einmal zu bedeutungsvollen Symbolträgern werden. Das ist immer auch eine Art Spurensuche auf dem Weg entlang der größten Energie innerhalb einer durch den Auftrag definierten Passage. Vor diesem Hintergrund, und nachdem mir wieder in den Sinn gekommen ist, dass das Wort Methode von dem griechischen methodos abstammt, was übersetzt nachgehen heißt, wird mir noch klarer, warum die Prozessorientierung im Feld des methodischen Könnens angesiedelt ist.

Robert: Die Erzählung über das Geschehen am Fluss ist wirklich spannend.

Mit einem Ziel unterwegs zu sein, an einer Stelle nicht mehr weiterzukönnen und auch keine Lösung in Aussicht zu haben, kommt mir natürlich sehr bekannt vor. In solchen Momenten sich nicht panisch und aktionistisch zu verhalten, sondern zuerst etwas aufzugeben, eine Idee, ein mitgebrachtes Lösungsbild oder den Anspruch an sich selbst, es sogleich wissen zu müssen, ist manchmal eine Herausforderung. Diesen damit einhergehenden Gefühlszustand aushalten und dabei weiter in die Sache vertrauen ist jedoch eine wichtige Voraussetzung, um für hilfreiche Impulse oder gegebenenfalls Phänomene offen zu sein. Ist das die kompetente Inkompetenz? Zumindest ist es eine Kernkompetenz für prozessorientiertes Führen und Leiten von Menschen. Manchmal hilft eben nur das Warten auf den richtigen Zeitpunkt, auf diesen Moment, wenn sich etwas verdichtet und, wie in deinem Beispiel von den Naskapi, einem sogar Brücken gebaut werden.

Susanne: Ich denke spontan an Wu wei aus dem Taoismus. Das ist der Weg, der zum Tao führt, und er wird definiert als Handeln durch Nichthandeln bzw. als Enthaltung eines gegen die Natur gerichteten Handelns. In dieser fernöstlichen Lehre des Weges ist das Tao das ursprüngliche Wirkungsprinzip, das die Wandlung und Ordnung der Dinge bewirkt. Wu wei soll allerdings nicht zu Faulheit verleiten, sondern eher zu einem absichtslosen Handeln einladen, in dem sich Raum für spontane Eingebungen öffnet.

Dazu passt abschließend noch ein Zitat von Heidegger: „Die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis gehören zusammen. Sie gewähren uns die Möglichkeit, uns auf eine ganz andere Weise in der Welt aufzuhalten.“

Literatur

Heidegger, M. (1959): Gelassenheit. Pfullingen (Neske)

Speck, F. G. (1935): Naskapi. The Savage Hunters of the Labrador Peninsula. Oklahoma (University Press)

Susanne Doebel

Jahrgang 1966, lebt in Landsberg / Lech (Deutschland)

Aus- und Weiterbildungen: Fremdsprachenkorrespondentin Englisch, Französisch, Spanisch (IHK-Diplom), Systemische Gesprächsführung, Systemische Naturtherapie, Studium am Zentrum für Tiefenpsychologie (C. G. Jung), Schweiz

Derzeitig: Geschäftsführerin spektrum-Institut für systemische Prozessbegleitung; Systemisches Coaching, Beratung, Naturtherapie, Referentin

Robert Hepp

Jahrgang 1962, lebt in Landsberg / Lech (Deutschland)

Aus- und Weiterbildungen: Systemische Gesprächsführung, Naturtherapie, Krpg, Outdoor-Guide, Reiseverkehrskaufmann

Derzeit: Roadmovie-Begleiter, Outwardbound-Lehrtrainer, Projektleiter für Reise-Incentive und -Event, Gesellschafter spektrum-Institut für systemische Prozessbegleitung

Homepage: www.spektrum-institut.de

E-Mail: kontakt@spektrum-institut.de


Bildwerfer

Stephan Schmid

Schwierig ist es, einen Dialog mithilfe der Sprache herzustellen zwischen zwei so verschiedenen Welten, Wirklichkeiten. Mein Versuch daher, über Bilder zur Sprache zu gelangen. Bilder, die ich zum einen im Rahmen des Lehrgangs zum kreativ-rituellen Prozessgestalter und zum anderen aus meinem Arbeitsalltag im Strafvollzug entwerfe und einander gegenüberstelle.

Es sind Bilder, die nicht meine tägliche Arbeit, sondern meinen Ort der täglichen Arbeit beschreiben, was ich und der Insasse sehen. Dem stelle ich dann eine zweite Welt entgegen, einen Ausschnitt aus dem Lehrgang.

Die Brücke schlage ich über meine ganz persönliche Wahrnehmung, z. B. der hohen technischen Sicherheit, die ich in meinem Arbeitsalltag erlebe, den Mauern und Gittern hinter denen ich den Menschen begegne und andererseits dem Schutzraum, den die Natur mir bietet.

Ich will nicht infrage stellen und auch nichts als Besonderes hervorheben. Mein Interesse gilt alleine dem persönlichen Wahr-nehmen, der Verbindung dieser beiden Wirklichkeiten, die sich in mir ergibt.

Wir stehen vor unseren Rucksäcken. Gelächter, Zwischenrufe. Es geht darum, sich und den Rucksack von Überflüssigem, Alltäglichem zu befreien. Auf das Nötigste reduzieren, das, was jeder denkt, was er in den nächsten vier Tagen braucht, um sich im Wald zurechtzufinden. Viel Sichtbares bleibt liegen. Wir haben vor, zusammen und gleichzeitig jeder für sich allein, auf eine Reise zu gehen. Eine Reise zu sich, jenseits aller Eile und Hast.

Immer wieder geht er durch den Metalldetektor, Blinken und Piepsen zeugen von noch vorhandenem Metall, Gürtelschnalle, Ringe und Halskette, Schuhsohlen und Jackenknöpfe. Langsam und misstrauisch reagiert er auf die Anweisungen. Er deponiert alles in einer grauen Kiste, zur Kontrolle. Geführt und durch mehrere Türen gelangt er in einen bestimmten Trakt des verzweigten Gebäudes.

Es gibt Hinweise, Anregungen, aber keine Kontrolle. Jeder entscheidet selber, auf was er nicht verzichten kann. Das Allgemeingut wird auf jeden Einzelnen verteilt. Noch mit der Welt verbunden, in der wir leben, in einzelne Gespräche verwickelt, betreten wir einen neuen Raum und erschaffen uns ihn gleichzeitig selber. Versuchen, ihn zu lesen mit all unseren Sinnen. Es wird stiller um uns, in uns.

Wieder in seiner Zelle, allein. Die Einrichtung ist karg, nüchtern. Graue Betondecke, weiße Wände, ein Bett, ein Stuhl, Tisch und Fernseher, eine von Holzwänden abgeschirmte Toilette. Die Ordnung ist gegeben. Zu lange sitzt er schon in diesem Raum, mit sich allein, unterbrochen von täglichen Spaziergängen im kleinen Hof, überdeckt von einem Gitter, oder dem angeordneten Gang zur Dusche, die einzigen Möglichkeiten, ein kurzes Gespräch aufzubauen.

Fichten, dichter Fichtenwald, eine steht neben der anderen, zwar unregelmäßig und doch wie ein Gitter, ein Gitter in dreidimensionaler Form, dazwischen dunkles Summen, ein Schutzraum, ich kann mich darin frei bewegen. Einen Platz suchen für einen ersten Rückzug, die erste Nacht. Auf dem Boden liegend, kommt mir Wärme entgegen, ich bin aufgehoben, geborgen.

Ich spanne ein leichtes, schützendes Dach, ein Nest entsteht.

Gitter, runde, schwarze Eisenstäbe, einer neben dem anderen, eindimensional in Reih und Glied, gefüllt mit Luft, dazwischen graues Licht mit leisem Summen, Druckluft, Machtraum. Er steht dahinter mit seinem Erinnern, Träumen, Nachdenken und Sinnieren. Entsprechende Handlungsimpulse sind beschränkt oder blockiert. Endlich ist die Untersuchung abgeschlossen, der innere Kampf mit der eigenen Wahrheit und der äußere mit all den Vorwürfen.

Er hat den vorzeitigen Strafantritt unterschrieben, kommt aus dieser Zelle raus, in eine andere Abteilung.

Ich sitze in der Nähe eines Feuers, eine Gruppe Männer und Frauen, vertieft in meinem Bemühen, aus einem Stück Holz einen Löffel zu schnitzen, zu brennen, spüre die Geschäftigkeit der anderen, die Funken, die überspringen, höre das Schnipseln der Messer, Lachen, Gesprächsfetzen, Knistern, Wärme, es gibt Suppe und wir haben noch kein Besteck, um sie zu essen, mit jedem Holzspan, der fällt, bin ich mit einem Gedanken mehr präsent, komme hier in diesem Raum an.

Auch er spürt Unsicherheit, zu vertraut ist ihm die Einsamkeit unterdessen, der Rhythmus des eigenen Alltags. Natürlich ist auch Unvorhergesehenes passiert, plötzliche Wendungen in der Beweisführung der Polizei, Gegenüberstellungen, Briefe naher Verwandter, erste ungelenke Besuche seiner Frau und ihres gemeinsamen Kindes, die ihm Einblick gaben in sein Verhalten.

Wie ein Wettstreit, zurückgeworfen auf mich selbst arbeite ich mich an diesem Stück Holz voran, schnitze, brenne; feile ich an mir herum? Wiege ab, halte inne. Verborgenes sucht sich einen Weg nach außen durch meine verlängerte Hand zu diesem Stück Holz, kann‘s nicht benennen, vielleicht erahnen. Hab‘s vor dem Feuer bewahrt, das verbindet schon.

Und immer wieder die Begegnung mit dem, was er tat, warum er hier ist, all die dahinterstehenden Umstände, Verstrickungen, eigene und fremde Zwänge, das Erinnern an das, was er nicht vergessen kann, Eingestehen eigener Fehler und verpasster Chancen, es kommt ihm vor wie ein Abtasten entlang seiner Lebenskette.

Lege Holz ins Feuer. Die Vertiefung im Holzstück, das mein Löffel wird, nimmt Form an, es ist Handwerk. Ich fische Glut aus dem Feuer und lege sie in die noch kleine Vertiefung, blase und brenne so langsam und konzentriert eine Wölbung ins Holz. Die Vertiefung findet sich auch in mir, bin in innere Welten abgetaucht. Ein Versuch, Unnötiges wegzuschnitzen, der Löffel soll gut fassbar in der Hand liegen, soll Platz haben für Suppe und anderes. Gleichgewicht, ausgewogen.

Sind da auch Perlen, die sich aneinanderreihen oder nur steinerne, holzige Kugeln? Unterdessen weiß er, dass er eine längere Zeit als gedacht hinter diesen Mauern verbringen wird. Ein Vollzugsplan wurde erstellt, Ziele formuliert, neue Kugeln auf seine Lebenskette gezogen. Daran kann er sich orientieren, es gibt ihm Halt und Richtung zugleich.

Ich assoziiere, in Gedanken bin ich bei Nahrung, innere und äußere, wie gehe ich damit um, wie nähre ich meine Kraft, was bin ich bereit, dafür zu geben, zu tun, wie nehme ich Nahrung zu mir, in welchen Formen, wie groß muss mein Löffel sein, wie die Form, um all das, was ich benötige, zu schöpfen. Ich nehme Kontakt auf zu meiner Umgebung, den Menschen, dem Boden, den Bäumen.

Klare Regeln, feste Strukturen, als ob das ihm erst Möglichkeit gebe, zu innerer Freiheit zu gelangen.

Wir trennen uns, jeder geht auf seinen Weg, der Abschied ritualisiert und die Ankunft bei sich mit einer Waschung vollzogen. Geräusche sind so schnell, meine Augen verbunden, sehe mit den Fingerkuppen, ein moosbedeckter Stein, weicher Waldboden, feine Tannennadeln, strecke die Fühler aus, mein Platz für die Nacht.

Eine kleine, flache Vertiefung auf einer Hügelkuppe. Knappe drei auf zwei Meter, genügend Platz für ein Feuer, mein Gepäck und gemütlich Liegen.

Vereinzelung heißt das in der Fachsprache, mein Eintritt in diese Mauern, stehe in einem Raum so groß wie eine Telefonkabine, in der Mitte am Boden ein großer runder Kreis, da muss ich draufstehen, die Türe vor mir kann ich erst öffnen, sobald die Türe hinter mir geschlossen ist, technische Sicherheit ritualisiert, ich transformiere mich.

Auf drei Seiten geht es runter, auf einer Seite durch einen großen Stein begrenzt, er hat die Form einer riesigen Vagina, was wird hier geboren?

Nach vorn den Hügel rauf zu einer kahlgeschlagenen Lichtung, von der Abendsonne hell beleuchtet, höre Äste knacken, ein fernes Singen, es sind Kollegen / -innen in meiner Nähe, dabei wollte ich ganz allein sein. Ebne meinen Schlafplatz, spanne die Plane, sammle Holz fürs Feuer, schmücke meinen Platz mit Gesammeltem, ruhig und ohne Hast, lasse aufkommende Gedanken an mir vorbei, ohne nachzuhaken, will sie nicht einfangen, nur anschauen und ziehen lassen. Konzentriere mich auf das, was ich tue, esse mit meinem Löffel, lasse ihn so grob geschnitzt, wie er ist, er passt zu mir.

Der erste Kontakt mit einem Arbeitskollegen, er steht hinter Glasscheiben im Zentrum, ich bekomme mein PSS (Personenschutzgerät), ab jetzt bin ich überwacht und erreichbar, in Sicherheit, noch ist Trägheit spürbar.

Die nächste Tür öffnet sich, wie ist meine Haltung, meine Wahrnehmung, die nächste Tür, ein Klick, aber öffnen muss ich selber, dann der endgültige Eintritt, ich brauche zum ersten Mal meinen Schlüssel, Schleuse im Arbeitsalltag, Gang durch den Erschließungstrakt, Vertrautheit, die ersten Geräusche, die auf menschliches Leben schließen lassen, mein Weg durch den Trakt überwacht durch Kameras. Wie ist meine Haltung? Eine kunstvoll mit Glassplittern gefüllte Wand, dann rohe Eisenplatten, gegenüber Glasbausteine, die Licht vom Innenhof durchlassen, Kunst am Bau.

Zu viel ist in Bewegung um mich, werde abgelenkt, die Aufmerksamkeit auf Nachbarn von mir gerichtet, packe schon früh am Morgen, will weiter, in die Höhe und in den Wald, will meinen eigenen Rhythmus, versuche, ihn in der eigenen Bewegung, dem eigenen Tempo zu finden.

Gebe einen sechsstelligen personifizierten Code ein, mit dem Schlüssel identifiziere ich mich auf dem Leser, kann die Türe öffnen. Die technische Sicherheit gibt mir auch den Raum, um das wahrzunehmen, was um mich geschieht. Ich trete in einen rechteckigen Raum, das dumpfe Geräusch der Belüftung, dicker Zigarettenrauch, Männer an schwarz-grauen Tischen, auf schwarz-grauen Stühlen, vor dunklem Kaffee, schweres Gelächter oder stumme Anspannung, Frühstück, ich setze mich zu ihnen. Ruhig, ohne große Worte und ohne Hast beginnt unser Tag, jeder auf seine Art damit beschäftigt, die nächtlichen Träume zu verscheuchen.

Auf dem Waldboden eingeschlafen erwache ich, liege im eigenen, noch offenen Grab und schaue in das grüne Dach über mir, darin verfangen ein riesiger abgebrochener Ast. Er wirkt nicht bedrohlich und doch, ein kleiner Windstoß und er würde direkt auf mich runterfallen. Das schützende grüne Dach über mir, darin verwoben das Zerbrechliche, Vergängliche. Ich drehe mich zur Seite und stehe vorsichtig auf, als ob ich durch meine Bewegung den Windstoß auslösen könnte. Warum habe ich das nicht gesehen, als ich mich hinlegte und lange in das Blätterdach schaute, bevor ich einschlief? Was bedeutet dieser Traum?

Langsam füllt sich der Arbeitsraum, ich bin am Mich-Einlesen, Mails, Logbuch, Vorfälle und Beobachtungen. Das Gelesene steht zwischen mir und den Männern, die jetzt an ihren Arbeitsplätzen sitzen, zum Teil neu verteilt, der Neue hat seinen Platz in der Hierarchie der Gruppe bekommen. Lasse es geschehen. Wir stellen uns vor, erkläre ihm die Regeln und was ich von ihm erwarte, was er von mir erwarten kann.

Es gibt keinen sichtbaren Weg. Zwischen riesigen Felsbrocken steige ich den Hang entlang. In Gedanken verstrickt vom Gebären und Sterben, stehe ich plötzlich am Rand einer kleinen Waldlichtung, mittendrin ein Wasserloch. Verwundert und fasziniert bleibe ich stehen. Was für eine unergründliche Kraft von diesem Ort ausgeht. Eine wunderbare Zufriedenheit überkommt mich. Schließe die Augen. Bilder aus vergangenen Zeiten tauchen auf. Taste mich vorsichtig voran, verbinde sie. Eine Lebensbilderkette entsteht. Ob ich sie mir um den Hals legen kann?

Stephan Schmid

Jahrgang 1956, lebt in Luzern (Schweiz)

Derzeit: Arbeitsagoge im Strafvollzug


Posteingang (1): Stuttgarter Betrachtungen

Andreas Bühler, Peter Thomas, Karin Wabersich

20.12. I Betreff: Was ich schon immer mal fragen wollte

Liebe Karin, lieber Andi, vor gut drei Jahren habe ich meine Ausbildung in Kreativ-ritueller Prozessgestaltung abgeschlossen. Ich erinnere mich noch immer gern an diese zwei außergewöhnlichen Jahre. Sie haben bei mir eine dauerhafte Wirkung hinterlassen in der Art und Weise, wie ich heute arbeite. Besonders in Erinnerung sind mir die emotional und spirituell berührenden Momente, wie zum Beispiel meine Ahnengalerie in Griechenland. Außerdem habe ich ein neues Verhältnis zu meinem Körper und zur Natur gewonnen. Als „Kopfmensch“ ist mir das Lernen über den Körper näher gekommen.

Bei meinen ersten Rückblicken sind mir natürlich einzelne Erlebnisse eingefallen, aber die sind nicht immer so leicht zu erzählen. Da bin ich auf eine interessante Einteilung gestoßen: Die Wirkung eines Lernprozesses lässt sich gut erklären, wenn zwischen beruflicher, fachlicher und persönlicher Rolle unterschieden wird. Die berufliche Rolle bezieht sich auf die berufliche Tätigkeit. Die fachliche Rolle meint die Ausbildung, die man im Studium oder in der Lehre bekommen hat und die persönliche Rolle ist das Private. Ist euch zum Beispiel aufgefallen, dass wir alle drei während unserer Fortbildung die berufliche Rolle verändert haben oder dass bei uns in der Institution mittlerweile aus fachlicher Sicht viel mehr systemisch gearbeitet wird?

Für mich selbst würde ich sagen, dass es die persönlichen und fachlichen Aspekte sind, die das größte Gewicht hatten in meinem Lernprozess. Im Zusammenspiel zwischen Körper und Kopf hat sich Entscheidendes verändert. Ich vermute, es sind die Wahrnehmung und die Philosophie, die sich heute deutlich von der Zeit vor der Ausbildung unterscheiden. Wenn ich früher vor allem auf den Kopf gehört habe, dann folge ich heute auch meinen Körperwahrnehmungen. Brauchte früher alles eine Erklärung, finde ich es heute reizvoll, manches offenzulassen.

Ihr beide habt die Ausbildung nach mir durchlaufen und seid nun auch schon eine Weile damit fertig. Welche Wirkung haben die zwei Jahre bei Euch hinterlassen?

Ich selber bin ja immer gut zu begeistern für grundsätzliche Themen wie die Philosophie, ebenso interessieren würde mich die praktische Ebene, zum Beispiel Fragen der Wahrnehmung und Handlungsorientierung. Ein lieber Gruß aus Sindelfingen. Peter PS: Wie geht es Dir in der Schwangerschaft, Karin?

30.12. I Betreff: Leicht und schwer liegen dicht beieinander

Lieber Peter, lieber Andi, die letzten Tage vor der Geburt meines ersten Kindes sind doch etwas schwerfällig, aber zugleich auch aufregend. Es ist so eine Art „Zwischenzeit“, in der ich mich immer wieder frage, ob ich denn schon bereit bin und was es überhaupt bedeutet, bereit zu sein. Ich fühle mich extrem schwanger und irgendwie gibt es kein Zurück mehr. Ich freue mich auf die Geburt, habe aber auch großen Respekt davor. Zudem kommt die Ahnung, dass gleichzeitig ein neues, noch völlig unbekanntes Leben für mich beginnt. Das finde ich schon alles ganz schön spannend!

Das erinnert mich an die von Campbell beschriebene „Heldenreise“ 1. Sie bezieht sich auf den immer gleich stattfindenden Zyklus bei Entwicklungsschritten. An einer Stelle in diesem Zyklus steht der Protagonist vor der großen Herausforderung, die Schwelle ins Unbekannte zu übertreten und sich ganz auf das einzulassen, was ihn dort erwartet. Mit diesem Bild der Heldenreise haben wir viel gearbeitet während der Ausbildung, so dass mir die einzelnen Schritte sehr vertraut geworden sind und sie mich seither nicht mehr losgelassen haben. Auch in den Bereichen meines Lebens spüre ich Auswirkungen und Entwicklungen, die ich auf die Zeit des Lehrgangs zurückführe, es war für mich im eigenen Erleben und durch die Anteilnahme am Erleben der anderen eine sehr erfahrungsreiche und schöne Zeit.

Am stärksten hat mich die Auseinandersetzung mit, und die Wahrnehmung von Prozessen und den Möglichkeiten ihrer Gestaltung beeindruckt. Ich versuche heute, unvoreingenommener an Situationen heranzugehen, und schaue auf das Gelingen eines Vorhabens, also auf die Lösung. Mein Verständnis von Verantwortung hat sich durch die Auseinandersetzung mit den systemischen Grundhaltungen sehr verändert. Ich erlebe dadurch in meinen Aufgaben eine größere Leichtigkeit und mehr Vertrauen auf das Gelingen.

Ich schicke Euch beiden herzliche Grüße, wünsche Dir, Peter, einen schönen Urlaub und melde mich, sobald es Neues zu berichten gibt. Karin

10.1. I Betreff: Man kann das alles auch anders sehen

Liebe Karin, lieber Andi, während ich schreibe, ist Karin vielleicht schon Mutter geworden. Da merke ich, wie schnell immer ein paar Wochen vergehen zwischen unseren Briefen. Wenn ich Karin richtig verstanden habe, hat sich für sie vor allem ihre Wahrnehmung von Prozessen verändert – bei mir hat sich eher die Wahrnehmung von Ergebnissen oder Zuständen verändert. Damit meine ich auch die viel zitierte Ressourcenorientierung: Nicht alles, was ich früher spontan als „Hindernis“ bezeichnet hätte, würde ich heute genauso sehen. Oft ist es wirklich ein Ausgangspunkt oder Impuls für positives Wachstum, eine Ressource eben.

Ich lese gerade das Buch „Der Glücks-Faktor“ von Martin Seligman2. In diesem verdeutlicht er beeindruckend, dass wir Glück – im Sinne von gutem Leben – in der Gegenwart vor allem dann empfinden, wenn wir beim Blick in die Vergangenheit Dankbarkeit und Vergebung walten lassen und zugleich beim Blick in die Zukunft dem Optimismus viel Raum geben. Erstaunlicherweise deckt sich das mit meinen Erfahrungen. Früher habe ich eher dazu geneigt, gerade nach den Schwierigkeiten und Verletzungen zu suchen, statt nach den Dingen, aus denen ich lernen kann und die mich stärken.

Ich verschwinde am Sonntag in den Urlaub. Dort will ich viel wandern. Wie ihr Euch sicher noch erinnern könnt, habe ich mich in vergangenen Zeiten eher am Schreibtisch oder in einem Sessel auf dem Balkon vergraben, wenn ich meine Gedanken sortieren oder wandern lassen wollte. Heute bin ich selber in Bewegung und merke, wie viel besser dies funktioniert. Ein lieber Gruß. Peter

22.1. I Betreff: Haltung und Anspruch

Liebe Karin, lieber Peter, vielen Dank für Eure Briefe.

Peter, bei Deinen Ausführungen zu Seligman und zu Deiner Hinwendung zu Ressourcen im Allgemeinen ist mir sofort das Buch „Es ist nie zu spät, eine schöne Kindheit gehabt zu haben“ von Ben Furman3 in den Sinn gekommen. Dabei wird sehr schön beschrieben, wie es gelingen kann, prägende Erfahrungen aus unserer Kindheit – positive wie negative – als Ressource zu betrachten. Auch negative oder gar traumatische Erfahrungen können nach Furman wertvolle Impulse für eine gute Weiterentwicklung geben. Der Titel sagt eigentlich schon alles – ich habe das Buch nahezu verschlungen.

Ich will heute versuchen, auf einen Zusammenhang einzugehen, der mich momentan am meisten beschäftigt. Dabei geht es um die Haltung, mit der wir anderen Menschen (nicht nur unseren Kunden bei der Arbeit) gegenübertreten. Während des Lehrgangs war ich immer wieder sehr beeindruckt davon, wie wertfrei und offen unsere Trainer bei Übungen und Gesprächen mit den Gruppenteilnehmern umgegangen sind. Bei mir selbst habe ich hingegen öfters entdeckt, wie schnell ich mich in meiner Rolle als Anleiter oder Gesprächspartner hinreißen lasse, über Zusammenhänge die Folie meines persönlichen Rasters zu legen. Damit nehme ich eine Bewertung von Aussagen oder Erfahrungen meines Gegenübers vor und gleichzeitig positioniere ich mich. Das kann hilfreich sein. Ich laufe dabei aber auch Gefahr, den Anspruch auf eine abstinente Leitung aufzugeben und damit mir und meinem Gegenüber Scheuklappen aufzusetzen, die den Blick auf gute Lösungsschritte erheblich einschränken können.

Solche Bewertungen stehen zudem in engem Zusammenhang mit einer Anspruchshaltung an mich selbst und an meine Umwelt. Es scheint mir das Wesen von Ansprüchen und Forderungen zu sein, dass ihnen nicht nachgekommen werden kann, zumindest dann nicht, wenn sie das Verhalten von Menschen oder gar ihre Biografien betreffen. Damit sind Unzufriedenheiten vorprogrammiert, die einen wie auch immer gearteten Prozess ins Stocken bringen und viele Lösungsansätze im Keim ersticken.

Was ich während meiner Krpg-Zeit in diesem Zusammenhang gelernt habe, ist zunächst, mein eigenes Wertesystem als eine riesige Ressource zu betrachten, die ich gewinnend nutzen kann und soll. Neu ist auch die Erkenntnis, dass eine solche Anspruchshaltung nicht zwangsläufig an ein funktionierendes Wertesystem angeschlossen sein muss. Um in diesem Sinne offen und vor allem frei mit meiner Umwelt umzugehen, muss ich jedoch selbst dazu in der Lage sein, ein stimmiges Verhältnis zwischen Anspruch und Leistung zu leben und hinsichtlich meiner Bewertungen gnädig mit meiner Umwelt und mir selbst umzugehen.

Ich betrachte es momentan als große Herausforderung, die Gestaltung meines Alltags, meine Handlungen und meine Bedürfnisse durch diese Brille zu betrachten. Ein äußerst spannendes Unterfangen, das mir bereits viele überraschende Einsichten beschert hat!

Lieber Peter, Dir wünsche ich einen erholsamen Urlaub und vor allem, dass sich Dein Anliegen erfüllt und sich Dir neue und inspirierende Perspektiven eröffnen. Karin, Dir drücke ich ganz fest die Daumen für die bevorstehende Geburt.

Ich grüße Euch herzlich aus Gündelbach. Andi

18.2. I Betreff: 2 Imperative

Hallo Andi, hallo Karin. Karin ist seit meinem letzten Brief Mutter geworden, und ich habe meine zwei Monate Auszeit hinter mir und werde mein Leben wohl gründlich umbauen. Während dieser drei Wochen auf Gran Canaria habe ich mehrfach die in der Fortbildung erworbene Technik der Naturerfahrung für meine eigenen Fragen genutzt. Ich habe eindrückliche Momente erlebt, bei denen mir die Natur manchen Impuls für weitere Überlegungen gegeben hat. Bei einer Tour durch einen Barranco bei starkem Regen habe ich mich entschieden, meine berufliche Karriere in ihrer bisherigen Form nicht fortzusetzen. Der Weg war fast wie eine Wanderung durch Symbole.

Ich will auf Andis Thema der Werte und des Be- oder Verurteilens anderer Menschen eingehen. Dazu habe ich im Urlaub ein paar spannende Zeilen gelesen: Aristid von Schlippe beschreibt vier ethische Grundpositionen systemischer Therapie:

1. Denke und handle ökologisch valide.

Oder: Es gibt immer einen größeren Kontext.

2. Achte auf die Definitionen und Bewertungen, die du vornimmst.

Oder: Es könnte auch alles ganz anders sein.

3. Besinne dich auf deine persönliche Verantwortung.

Oder: Es gibt kein Richtig und Falsch, aber du bist Teil des Kontextes und alles, was du tust, hat Konsequenzen!

4. Achte darauf, in respektvoller Weise Unterschiede zu schaffen.

Oder: Füge dem Bild des / der Klienten etwas Neues hinzu. 4

Das trifft doch ganz gut, was du formuliert hast, wie es besser sein könnte, wenn man nicht immer aus dem eigenen Wertesystem urteilen will, oder? Und noch kürzer schreibt das Heinz von Foerster (Ihr merkt, ich hatte mal wieder viel Zeit zum Lesen.):

„Der ästhetische Imperativ: Willst du erkennen, lerne zu handeln.

Der ethische Imperativ: Handle stets so, dass weitere Möglichkeiten entstehen.“ 5

Das gefällt mir auch sehr gut als Grundhaltung für systemisches Arbeiten. Vor allem, weil es meiner eigenen Spiritualität oder meinem Wertesystem nicht im Weg steht. Es mahnt in der Arbeit mit Menschen eben lediglich dazu, ihnen nicht das eigene System überzustülpen. Ich grüße Euch beide herzlich. Peter

02.3. I Betreff: Willkommen im neuen Leben

Lieber Andi, lieber Peter, hallo, hier bin ich wieder. Seit dem letzten Brief sind einige Wochen vergangen und mein Leben hat sich komplett umgekrempelt. Ich bin Mutter eines wunderbaren Kindes geworden, mein bisheriger Tag- und Nachtrhythmus ist einem „Aha! … das geht 24 Stunden und alle 2 – 3 Stunden machen wir das volle Programm“ gewichen. Ich trainiere meine Arme rund um die Uhr mit einem 3,5-Kilo-Paket und ich träume mit offenen Augen davon zu schlafen, einfach mal ein paar Stündchen zu schlafen. Besonders unglaublich an meinem momentanen Zustand finde ich die Vorstellung, dass Kinder zu bekommen und eine Familie zu sein, ja auch nicht direkt etwas Außergewöhnliches ist. Jeden Tag erblicken auf der ganzen Welt neue Menschenkinder das Erdenlicht und machen neue Eltern glücklich, stolz und müde. Es muss unzählbar viele sehr, sehr müde Menschen auf der Welt geben! Hoffentlich sind sie auch alle so glücklich wie ich es bin!

In den letzten Briefen habt Ihr über Ressourcenorientierung, Glück und wertfreie Haltung geschrieben. Das sind auch für mich wichtige Stichworte bezogen auf die Aufgabe, Menschen in Prozessen zu begleiten, oder bezogen auf eigene Entwicklungsprozesse. Sie fließen in meine Wahrnehmung mit ein.

Zum Thema Prozessgestaltung sind mir noch ein paar Veränderungen in meiner Vorgehensweise aufgefallen. Zum einen geht es dabei um Strukturelemente von Prozessen, die ich heute anders verstehe und anwende. Beispielsweise bei der Wahl des Settings habe ich die eigenen Möglichkeiten eines (Natur-) Raumes und die Platzgestaltung stärker im Blick. Auch bei der Zeitplanung habe ich erst durch die Krpg ein wirkliches Verständnis von „weniger ist mehr“ entwickelt. Themen und Handlungen brauchen Zeit zum Wirken.

Andererseits sind es weitere Ebenen: zum Beispiel beziehe ich mein Bauchgefühl oder spirituelles Erleben und Deuten jetzt viel bewusster in meine Wahrnehmung ein. Dadurch ergeben sich wesentlich mehr Handlungsmöglichkeiten.

Ganz besonders bemerkenswert in diesem Zusammenhang finde ich übrigens die Frage nach der Verantwortung vom Gelingen oder Misslingen von Prozessen. Ausgehend von der systemischen Sichtweise, leisten alle am System Beteiligten ihren Beitrag für das Gelingen einer Sache. Sie tun dies bewusst oder unbewusst. Es gibt für die Leitung also höchstens die Möglichkeit, ein Klima zu gestalten, in dem sich alle gern für eine bestimmte Sache einsetzen. Ob das aber letztlich gelingt oder wie das Ergebnis genau aussieht, liegt nicht allein in ihrer Hand. Das finde ich super und erlebe es darüber hinaus auch als große Entlastung.

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