Kitabı oku: «transformers», sayfa 2

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JONAS ZIPF: Hast du nicht selbst ein Kinderbuch geschrieben – Die Freiheit der Krokodile –, das kraft des Erzählens einer Geschichte einen Unterschied machen kann? Da geht es um Krokodile unter dem Bett deines Sohns. Um seine Angst vorm Einschlafen. Und dann erzählst du ihm, dass er sich vorstellen soll, mit den Krokodilen schöne Dinge zu machen, Eis essen zu gehen etc. und nimmst der Vorstellung der Krokodile somit die Gefahr. Das ist doch eine Geschichte, die kraft der Imagination, ganz ohne den Raum der Immersion, den du gerade für das Theater eingefordert hast, einen mentalen Wechsel evoziert. Und zwar in der elementarsten Form des Geschichten-Erzählens überhaupt: der Gute-Nacht-Geschichte für dein Kind. In einer Form, die jeder kennt und für jeden funktioniert. Liegt darin nicht ein elementar inklusives Potenzial?

SILKE VAN DYK: Ich finde auch, dass es mehr Geschichten braucht, Gelingens-Geschichten, die Erfahrungsräume schaffen, die die emotionale Ebene berühren; die damit anschlussfähig für eigenes Erleben werden und einfach über eine rein kognitive Wissensvermittlung hinausgehen. Aus einer soziologischen Perspektive sehe ich aber auch Grenzen des Geschichtenerzählens. So schön das mit der Inklusion klingt, so wahnsinnig schwer ist es, Geschichten über strukturelle Zusammenhänge, insbesondere strukturelle soziale Ungleichheiten zu erzählen. Geschichten brauchen Personen, handelnde Akteure, sie brauchen eine Form von Konkretion, Identifikationsmöglichkeiten. Es gibt bestimmte Dinge, die sich hervorragend in Geschichten erzählen lassen; es gibt aber gerade große strukturelle Probleme und Zusammenhänge, die wir eher in Daten und Statistiken sehen und die wahnsinnig schwer in solche Geschichten zu übersetzen sind. Geschichten des Gelingens, z. B. über solidarische Ökonomien, nachhaltige Nachbarschaften etc. bergen immer das Risiko, Möglichkeitsfiktionen zu erzeugen, dabei aber kleine Nischengeschichten zu bleiben. Um die einfache und spannende Form der Geschichte nicht zu verlassen, benennen sie die strukturellen, oft unsichtbaren Zusammenhänge, die dem Gelingen eben sehr häufig entgegenstehen, nicht. Der Impuls könnte dann sein zu sagen: „Seht her, geht doch! Man muss es nur wollen.“ Manchmal aber muss man nicht nur wollen, sondern auch können. Die hinderlichen Zusammenhänge können wir häufig nur durch aufwendige, repräsentative und komplexe Studien erfassen. Erfahrungen von Sexismus oder Rassismus lassen sich natürlich auch auf der Mikroebene des individuellen Erfahrungsraums problematisieren, aber ihre strukturelle Dimension verschwindet in den Geschichten.

Noch mal zu den Möglichkeitsfiktionen: Es gibt Geschichten, die stark affizieren und sich als Beispiele für die Veränderung oder gar Überwindung gesellschaftlicher Verhältnisse darstellen, ohne dass diese aber so einfach zu überwinden sind. Um beim Thema der sozialen Ungleichheit zu bleiben: Wir erleben aktuell einen anhaltenden Boom der sogenannten Arbeiterkinder-Literatur, eine Konjunktur der literarischen Verarbeitung von Klassenerfahrung und Herkunft. Die Bücher von französischen Autor*innen wie Annie Ernaux, Didier Eribon oder Édouard Louis, genauso wie im deutschen Kontext Deniz Ohde, Christian Baron und einige weitere, erzählen etwas, das wir alle schon lange wissen, über das auch sozialwissenschaftlich extrem viel geschrieben worden ist: die Bedeutung von Klassenzugehörigkeit und sozialer Herkunft für den Lebensweg. Trotzdem hat dieses sozialwissenschaftliche Wissen nicht in der Weise gezündet und für eine breite öffentliche Debatte gesorgt, wie es diesen Erfahrungsberichten gelungen ist. Sie sind in der Regel biografisch und leben davon, dass sie zwar autofiktional, aber eben nicht reine Fiktion sind. Daraus beziehen sie eine starke Wahrhaftigkeit. Die Autor*innen werden oft eher als Zeitzeugen denn als Literaten eingeladen. Aus einer soziologischen Perspektive sind diese Geschichten aber total unwahrscheinlich. Hier wird etwas gefeiert, für seine Wahrhaftigkeit, für einen Wirklichkeitssinn, das empirisch betrachtet äußerst selten passiert: Wie Didier Eribon aus einem subproletarischen Haushalt zum besten Freund von Foucault und gefeierten Pariser Intellektuellen wird, das ist eine absolute Ausnahmegeschichte. Diese Geschichte kommt aber dennoch als Gesellschaftsanalyse daher und suggeriert damit Möglichkeitsräume, die es zwar prinzipiell gibt, die aber extrem unwahrscheinlich sind.

FRIEDRICH VON BORRIES: Daran sieht man doch, dass Geschichten etwas sehr Spezifisches sind und sich von Erfahrungsräumen unterscheiden. Der große Unterschied besteht in der erlebten Empirie: In dem Moment, in dem mir ein Erfahrungsraum eröffnet wurde, erlebe ich eine Erfahrung und keine fiktive Geschichte des Gelingens, von der ich gar nicht weiß, ob sie auch mir gelingen wird, gelingen kann oder wie wahrscheinlich das Gelingen ist. Erst wenn mir tatsächlich ein Erlebnis widerfährt, ich einen Erfahrungsraum betrete und nicht die Geschichte von jemand anderem höre, erst wenn ich auch mit mir selbst eine andere Erfahrung mache, dann entsteht das zumindest temporäre Potenzial für Veränderung. Das ist vielleicht auch der Unterschied zwischen gestaltender Kunst und literaturbezogener Kunst. In der Bildenden Kunst, im Design und der Architektur geht es um reale, physische Räume, in denen ich etwas erlebe und erfahre. Solche Kunstwerke erlebe ich fast immer durch physische Ko-Präsenz, während Geschichten und Literatur die Vorstellung von etwas Abwesendem vermitteln.

Daneben möchte ich noch einen anderen Vorbehalt zum Versuch des Triggerns von Veränderung durch Geschichten formulieren: Es ist ein Phänomen politisch motivierter Kunst, auch in Architektur und Design, dass diese oft innerhalb ihrer Disziplin nicht die beste ist …

JONAS ZIPF: Warum ist das so?

FRIEDRICH VON BORRIES: Das weiß ich nicht. Ich beobachte es nur. Zum Beispiel an meiner Diskussion mit Produkt- und Industriedesigner*innen. Ich sage zwar immer, dass jedes gute Industriedesign auch gutes Soziales Design sein muss und jeder, der gutes Soziales Design macht, das auch mit einer Gestaltqualität nach klassischen Gestaltungskriterien versehen soll. Wenn man sich aber die Wettbewerbe für Social Design anschaut, dann sind viele eingereichte Arbeiten nach klassischen Gestaltungskriterien einfach nicht so gut. Genauso in der Bildenden Kunst: Es gibt viele Künstler*innen, die mit so etwas wie „Klimakunst“ nichts zu tun haben wollen, weil sie die Sorge haben, sich ihren Ruf als Künstler*innen zu ruinieren. Denn aus einer starken politisch-inhaltlichen Agenda entsteht nicht zwangsläufig auch eine starke künstlerische Form.

JONAS ZIPF: Das ist ein spannender Punkt für ein Arbeitsbuch, in dem wir versuchen zu beschreiben, wie das Theater die drei großen Transformationsthemen beackern kann. In diesem Kontext kommt der Rolle von Kunst, Kultur und Theater aus unserer Sicht immer zwei Dimensionen zu: Die der potenziellen Gestalter*innen von Transformation, aber auch die als Teil der Transformation selbst. Ob es die durch neue digitale Erzählweisen und Distributionswege veränderten Gewohnheiten der Zuschauer*innen sind oder die CO2-Bilanz des Theaterbetriebs als integralem Bestandteil jeder künftigen Ressourcenverwaltung: Auch in dieser Hinsicht sind die Theater keine Elfenbeintürme, die sich im Vakuum der Kunsttradition verschließen können.

SILKE VAN DYK: Ich frage mich da als Sozialwissenschaftlerin, ob man die Form so vom Inhalt abschirmen kann. Darin liegt ja offenkundig die Sorge, durch Aktionskunst oder anderweitig politisierter Kunst den Nimbus der Unabhängigkeit zu verlieren. Vielleicht ist es aber auch so, dass die „klassischen“ Qualitätskriterien für ästhetische Formen den sich so stark transformierenden Feldern nicht genügen bzw. ihrerseits elitär oder ausschließend sind und zu den verfolgten inhaltlichen Zielen gar nicht (mehr) passen. Gerade wenn soziale Ungleichheit ein so zentrales Thema für Transformationsbewegungen ist, auch und gerade im Zusammenhang mit der ökologischen Frage, dann müssen wir doch auch beim Hochhalten der ästhetischen Form fragen: Setzt sich hier ein bürgerliches Kunstverständnis gegenüber den Künstler*innen und Gestalter*innen durch, das einen anderen Anspruch oder eine andere Idee von Kunst verfolgt als diese selbst? Und wessen Kunst grenzt das aus?

FRIEDRICH VON BORRIES: Diesen Punkt finde ich sehr wichtig, da in der Nachhaltigkeitsdebatte immer wieder die Frage aufkommt, ob Kunst und Kultur nicht die vierte Säule der Nachhaltigkeit sein müssten. Es stimmt ja: Um die Große Transformation zu ermöglichen, brauchen wir auch Kunst und Kultur. Deshalb ist genau diese Frage nach Qualitätskriterien wichtig. Es ist unheimlich schwierig, über Qualitätskriterien von Kunst zu reden. Und dabei fällt mir auf, wie die Kräfteverhältnisse zwischen den Themen der Transformation und der rein fachlandschaftlichen Brille verteilt sind: Einerseits gibt es die Kulturstiftung des Bundes, die Kunstförderprogramme aufsetzt, bei denen man Summen ab 60.000 Euro beantragen darf; andererseits gibt es den Fonds für Nachhaltigkeit, der ebenfalls künstlerische Projekte fördert, da darf man bis 60.000 beantragen. Natürlich geht mit den Geldsummen so etwas wie Durchdringungstiefe einher. Bösartig gesprochen scheint genau da die Grenze zu verlaufen, an der die richtige Kunst erst anfängt.

SILKE VAN DYK: Wir sollten bei der Diskussion über die Qualität oder Durchdringungstiefe noch mal auf die Seite des Publikums und der Zielgruppen schauen. Wir sprachen angesichts des Transformationspotenzials von Kultur vorhin von der Anschaulichkeit und notwendigen Personalisierung von Geschichten. Daraufhin hatte Friedrich von Borries geantwortet, dass die Schwelle dadurch umgangen werden kann, dass nicht nur Geschichten erzählt werden, die die Leute passiv als reine Rezipient*innen hören, sondern dass Erfahrungsräume erzeugt werden. Da möchte ich widersprechen und darauf hinweisen, dass die Leute ja auch mit selbst gemachten Erfahrungen in Möglichkeitsfiktionen verharren können. So lässt sich bei den Occupy-Bewegungen vor zehn Jahren beobachten, dass äußerst reale Erfahrungen der Partizipation und Gemeinschaft, des Teilens und Konsens-Findens auf den besetzten Plätzen zu einer radikalen gesellschaftlichen Transformationsperspektive hochskaliert wurden, ohne die komplexen Rahmenbedingungen jenseits der Plätze in diese Perspektiven einzubeziehen. Auch die Erzeugung von Erfahrungsräumen schützt so nicht ganz vor Möglichkeitsfiktionen, weil sie dazu einladen können, Praktiken vorschnell zu verallgemeinern.

FRIEDRICH VON BORRIES: Also, wenn ich mich mit meinen Studierenden, zu denen ich mich in einem hierarchischen Verhältnis befinde, weil ich sie bewerte und sie mich nicht – wenn ich mich mit denen vor einem Seminar zusammensetze und ihnen sage: Ich bin auch ein Lernender, und ich lerne von euch, und wir sind ganz offen, und wir duzen uns miteinander, und es ist alles ganz supipupi, dann ist das die eine Angelegenheit. Wenn ich mit denen am Anfang des Semesters eine Yogastunde mache, wo ich selber Schüler bin, und die sehen: Dieser von Borries kriegt es nicht so gut hin wie ich, aber er bemüht sich auch, und er hat auch Schmerzen, und manches kann er – das hätte ich ja gar nicht gedacht –, und anderes kann er nicht, dann haben sie eine Erfahrung gemacht, die eine andere Angelegenheit ist als das reine Gespräch, in dem ich die flache Hierarchie in einer Kunsthochschule beteuere. Auch wenn es eine Fiktion bleibt und ich am Ende so eine Note geben muss und wir ein Wissensgefälle und einen Hierarchieunterschied behalten, so ist es trotzdem etwas anderes, wenn wir eine physische, sinnliche Erfahrung geteilt haben.

JONAS ZIPF: Mir als Theatermann fällt es dennoch schwer, das Eine vom Anderen zu unterscheiden. Das Beispiel mit dem Kind und den Krokodilen zeigt doch, dass auch das, was Silke van Dyk Möglichkeitsfiktionen nennt, einen realen Unterschied machen kann. Friedrichs Geschichte ist zunächst nur eine Geschichte und findet innerhalb der Imagination statt, aber dennoch erlebt das Kind mit sich und seiner Angst eine Erfahrung der Veränderung. Zwar keine physische, ko-präsente, immersive Erfahrung, aber eine Selbstwirksamkeitserfahrung. Das ist auch eine Erfahrung. Für mich liegt der Unterschied an einer anderen Stelle, und zwar genau an der eben beschriebenen Schwelle der Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes. Was kommt denn mit der Frage nach dem oberhalb und unterhalb der 60.000 zum Ausdruck? Da gibt es ein elitäres Kunstverständnis auf der einen Ebene und alles das, was es sonst noch so gibt, auf einer anderen. Es gibt den Spielplan und die großen Positionen, und die kosten viel Geld, insbesondere das Musiktheater. Die Transformationsthemen finden im Theater allerdings bislang größtenteils innerhalb einer anderen Kategorie statt. Sie bilden die Peripherie des Spielplans, sind oft abhängig von externen Finanzierungen durch Dritte, dürfen auch gerne mal von einer Freien Gruppe irgendwo im Stadtraum beackert werden. Beliebt ist dabei auch die transdisziplinäre Zusammenarbeit mit Soziolog*innen oder Architekt*innen, aber das Abo-Publikum darf dann weiter Meistersinger auf der großen Bühne sehen, dafür wird das Zehnfache an Ressourcen aufgewandt. Das ganze Feld dazwischen ist doch aber das interessante im Sinne der Transformation. Das ist da, wo auch Publikumstransfer und Erfahrungsaustausch, um den Begriff aufzugreifen, entstehen.

Ich mach dafür ein Beispiel: In den letzten Jahren habe ich ein einziges Mal so etwas wie Inklusion mit und rund um Theater erlebt. Und das ausgerechnet in Wiesbaden, bei der Wiesbaden Biennale, also leider auch im Rahmen des Ausnahmezustands eines Festivals. Da wurde das Foyer des Theaters in einen realen Rewe-Markt verwandelt, man konnte über eine historisch für die Kutsche von Kaiser Wilhelm gebaute Rampe ein Autokino auf der großen Bühne befahren, in einer anderen Spielstätte des Theaters wurde ein Boxring eingebaut, und umgekehrt sind die künstlerischen Interventionen samt und sonders in den städtischen Raum rausgegangen. Das Theater war inside-out, offen für einen anderen Teil von Menschen. Und die sind auch dagewesen, alle: sowohl die Teile der Bevölkerung, die vorher kaum im Theater gesichtet wurden, als auch die dort üblicherweise anwesenden Zuschauer*innen. Ansonsten erlebe ich im Theater oft den rein verbalisierten Anspruch an genau diesen Austausch. Alle im Theater reden davon, dass sie die bisher nicht zuschauenden Zielgruppen erreichen wollen, aber sie erreichen sie nicht.

FRIEDRICH VON BORRIES: Total konstruiert. Muss ich jetzt erst mal so als Arbeitshypothese in den Raum stellen. Auch als in Wiesbaden Aufgewachsener sage ich: total konstruiert. Ich glaube ja, dass man mit diesen Widersprüchen leben muss, dass das ein Teil der Transformation ist, von der wir hier sprechen, im Gegensatz zu den Vorgängen einer Revolution oder auch einer Reform. Dass man mit der Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem leben muss und auch, dass das Theater, überhaupt jeder Kunstraum, den Anspruch haben kann, soll, muss, sozial wirksam zu werden. Dabei aber eben einfach trotzdem elitär ist, und bleibt. Diesen Widerspruch muss es, glaube ich, einfach aushalten. Man kann versuchen, zwischendurch mal ein Kinderbuch zu schreiben, und man kann versuchen, zwischendurch mal eine Aktion zu machen, mit der man ganz viele Leute erreicht, die normalerweise nicht ins Theater gehen. Aber worin besteht denn dann eigentlich der Erfolg? Wäre es tatsächlich ein Erfolg, wenn die Meistersinger nicht mehr gespielt werden, oder wäre es erfolgreicher, wenn die Leute, die sonst Deutschland sucht den Superstar gucken, jetzt in die Meistersinger gehen? Erzielt es eine langfristige Wirkung, dass ich jetzt einmal mit meinem Auto die Rampe hochfahren durfte und im Theater ja gar nicht Theater gespielt wurde, sondern, wie du sagtest, sich ein Autokino befand? Wie gesagt: Ich glaube, dass man die beschriebenen Widersprüche nicht auflösen kann. Diese Aktionen werden nicht nachhaltig das Besucherprofil des Wiesbadener Staatstheaters geändert haben; die Maifestspiele werden elitär wie immer bleiben. Diese Gleichzeitigkeit bleibt bestehen: Man muss beharrlich daran arbeiten, dass immer mehr Sachen von der Off-Bühne auch mal ins Große Haus kommen, und diesen Mut weiterhin immer wieder aufbringen, auch wenn sich dadurch das Publikum nicht verändert. So viel zur Inklusion der Stadtgesellschaft im Stadttheater. Was ist aber mit der Inklusion von anderen Wesen? Mein nächstes Seminar nenne ich Postanthropozentrisches Design und stelle darin die Frage, wie z. B. das Theater aussehen soll, das für die Tiere da ist. Und für Steine und für Pflanzen. Ich weiß: Das klingt jetzt erst mal absurd. Aber wenn wir das Mensch-Natur-Verhältnis im Zuge der Großen Transformation wirklich überdenken wollen, wenn wir die bürgerlichen Konventionsherkünfte des Theaters wirklich sprengen wollen, dann müssen wir an diese ganze Anthropozentrik unseres Tuns und Denkens und Handelns ran.

SILKE VAN DYK: Als Soziologin würde ich auf die Inklusionsfrage gänzlich anders antworten. Vielleicht bin ich noch zu sehr mit der Ungleichheit zwischen Menschen befasst, um bei den Fragen des Anthropozäns anzukommen. Aber beim Blick auf die empirisch vorhandene und sich in der Pandemie noch massiv verstärkende Ungleichheit sind wir, glaube ich, schon bei einer ziemlich zentralen Frage der Inklusion, nämlich inwiefern klassische Positionen der Inklusion, der Diversität, sich eigentlich für eine Klassenperspektive und für die damit verbundenen Ausschlüsse eignen. Parallel zu den aktuellen Debatten des Rassismus und Sexismus lässt sich eine anhaltende Form von Klassismus konstatieren. Daher würde ich ganz anders fragen als ihr beide: Nicht danach, ob sich neben bildungsbürgerlichen auch Leute aus einem subproletarischen Kontext ins Theater bewegen, sondern danach, wie ihr Zugang zu materiellen und vor allem auch kulturellen Ressourcen grundsätzlich geregelt ist. Es sollte nicht darum gehen, wie wir Arme ins Theater bringen oder Prekäre zu Engagement und Buchlektüre motivieren, sondern wie wir Ausbeutungs-, Diskriminierungs- und Ungleichheitsverhältnisse gemeinsam überwinden – nur so werden Theater- und Kunsträume zu offenen Räumen und nicht zu Räumen, in die die künstlerisch ambitionierten und interessierten Akademiker*innen mit großem Gestus die weniger Privilegierten einladen. Es müssen Räume werden, die wirklich von unterschiedlichen Seiten und Gruppen erschlossen werden können! Soziologisch betrachtet führen viele dieser Zugangsangebote und Aktionen wie in Wiesbaden die nicht klassische Kultur- oder Engagementklientel letztlich vor. Zugespitzt formuliert wird da so ein bisschen ein kleines Treppchen ausgebaut, um sagen zu können: Guck mal, da kannst du jetzt ganz leicht hochgehen und musst auch gar keine Angst haben, und da ist auch ein Geländer und so. Aber die Frage, warum die Person eigentlich normalerweise an der Treppe gar nicht vorbeikommt, tritt in den Hintergrund. Wir müssen stattdessen fragen: Wie können wir Klassenverhältnisse, Ungleichheitsverhältnisse als Inklusionsoder Identitäts- oder Antidiskriminierungskontext thematisieren, ohne dass wir die dahinterstehenden Ausbeutungszusammenhänge de-thematisieren?

FRIEDRICH VON BORRIES: Ich möchte die Frage provokativ wenden und auf das bestehende Theaterpublikum beziehen. Gerade in Wiesbaden wäre es doch maximal inklusiv, wenn man ganz normal die Meistersinger gespielt hätte, aber pro Karte die 1.000 Euro genommen hätte, die sie nun mal kosten, statt sie mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren – das Große Haus wäre natürlich trotzdem voll gewesen, denn es gibt genug reiche Wiesbadener*innen –, und sich dann überlegen würde, welche Kultur man mit den gesparten Geldern bzw. den neu vereinnahmten Geldern finanzieren kann. Die ehrliche Frage lautet doch: Wer spricht in diesem Land eigentlich wann und aus welchem Grund von einer Inklusionsperspektive?!

SILKE VAN DYK: Genau. Und: Was wird öffentlich gefördert?

FRIEDRICH VON BORRIES: Ja. Was würde dann öffentlich gefördert? Für mich klingt Inklusion sonst nur nach der Legitimationskrise einer bürgerlichen Kultur. Eine Krise, die vielleicht dazu führt, neue Formate zu finden, um neue Zielgruppen zu öffnen, die aber nicht kommen, anstatt einfach zu sagen: Lasst uns in Ehre sterben; lasst die Oper das werden, was die chinesische Oper in China ist; da gehen Touristen hin, da zahlt man viel Geld, und das gibt es irgendwie an ein, zwei Orten in China; das reicht. Warum muss jede Großstadt in Deutschland eine Oper haben, mit einem klassischen Opernprogramm, zu dem ein Publikum mit einer Altersstruktur von 60+ und einer Einkommensstruktur von 60.000+ hingeht, höchstens ergänzt um ein paar Jugendliche mit bildungsbürgerlichem Hintergrund oder mit Aufstiegsphantasmen, die denken, dass sie über kulturelles Kapital zustande kommen. Warum denkt man die Sache nicht so? Aber das traut sich keiner! Das Gleiche gilt für die Museen, die zwar ebenfalls Bildungsprogramme machen und sich zu öffnen versuchen, im Grunde aber auf Tonnen von Sachen sitzen, die keiner mehr sehen will, die auch völlig irrelevant geworden sind. Zumindest braucht man diese Sachen nicht in jeder zweiten Stadt. Wenn ich griechische Antike sehen will, geh ich doch nicht ins städtische Museum, wo ein paar Vasen und Scherben rumstehen, sondern fahre nach Athen, das reicht mir ein Mal im Leben, ich brauche das nicht ein Mal in der Woche. Lasst uns doch mit dem Geld, mit dem Raum, mit den Werten was anderes machen.

JONAS ZIPF: Diese Provokation trifft. Sie markiert genau den Punkt, warum ich das Theater vor einigen Jahren verlassen habe und eine breitere Verantwortung gesucht habe. Heute bin ich nicht mehr Teil einer Künstlerischen Theaterleitung, sondern Kulturverantwortlicher einer Stadt. Und zwar einer Stadt, die keine Oper hat, auch kein wirklich großes hochkulturelles Behältnis – einer Stadt, die für sich ziemlich dezidiert entschieden hat, dass 40 Prozent des kommunalen Kulturetats in kulturelle Bildung fließt. Denn letztlich wird die Forderung, die du aufmachst seit der sogenannten Neuen Kulturpolitik der 1970er-Jahre, seit Konzepten wie Hilmar Hoffmanns „Kultur für alle“ diskutiert. Im Kulturinfarkt steht diese Forderung vor zehn Jahren eins zu eins genauso drin. In den Jahrzehnten dazwischen wurde die kulturelle Bildung, die Kunst- und Theaterpädagogik, Programme der Education, des Outreach etc. additiv aufgebaut. Jetzt haben wir hier in Jena 40 Prozent Mittel für kulturelle Bildung und erreichen mit diesen Mitteln im Großen und Ganzen trotz fortgesetzter Anstrengungen an allen möglichen Ecken und Enden trotzdem wieder mehr Spitze als Breite. Teilweise ist die kulturelle Bildung dann eine verkappte Elitenförderung. Das Plus an Geld beispielsweise in einer Musikschule geht eben nicht nur in die aufsuchende Arbeit, in Schulkooperationen in Problemvierteln, sondern an die Professorentöchter, die Klavier lernen und Wettbewerbe gewinnen – beispielsweise in einer Volkshochschule nicht nur in Sprachkurse zur Integration von Geflüchteten, sondern auch in Kochkurse für Oberstudienräte. Und leider zahlen die Leute für beide Angebote dieselbe demokratisch vom Stadtrat legitimierte Gebühr. Unter dem Strich lautet die kulturpolitische Aufgabe im Sinne der Inklusion doch aber immer: Wie können wir die Bedürfnisse der gesamten Stadtbevölkerung in einer gerechten Art und Weise abbilden? Von daher trifft die Provokation ins Ziel: Alle Bedürfnisse und Angebote sind legitim, es stellt sich aber die Frage der Zugänge – da gehört die Preispolitik zentral dazu – und der Quantität.

Von daher möchte ich in einer Schlusskurve den Appell von Friedrich mit der Postwachstums- und Degrowth-Thematik verbinden und euch beide fragen, was ihr den Theatermacher*innen empfehlt. Transformation heißt Verwandlung: Das Neue entsteht nicht, ohne etwas Altes zu lassen, sonst würde es weiteres Wachstum bedeuten. Davon können Theatermacher*innen ein leidvolles Lied singen. Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Inklusion gehen nicht einfach zusätzlich, oben drauf, oder an der Peripherie eines fortbestehenden Kernbetriebs. Diese überragenden Themen lassen sich nicht einfach im Rahmen einer zusätzlichen Arbeitsgruppe oder Klausurtagung weiter vor sich herschieben. Wie schaffen die Theatermacher*innen diesen fundamentalen Switch ihres Mindsets? Was empfehlt ihr ihnen?

SILKE VAN DYK: Wir diskutieren tatsächlich auf unterschiedlichen Ebenen. Eine Empfehlung an den Kulturbetrieb geht eben weiterhin vom bestehenden Kulturbetrieb aus und nicht von der Klassenperspektive, die ich aufgemacht habe. Solche Empfehlungen führen zwangsläufig zu symbolischen Angeboten an „die da unten“: Dann sind „wir da oben“ bereit, „die“ an unserer bürgerlichen Kultur zu beteiligen und machen manchmal unser Theater zu einem Rewe-Markt oder so, damit wir beweisen können, dass unser Angebot auch gelingen kann. Dabei bleibt aber die eigentlich substanzielle Frage an bürgerliche Kultur nach Qualitätsmaßstäben und auch nach Angebotsquantitäten trotzdem genauso bestehen: Warum werden Boulevardtheater oder Musicals nicht subventioniert, die Oper aber schon? Oder umgekehrt: Kann man diese Bereiche – die Meistersinger, das MKG – ohne eine radikal andere Klassenpolitik inkludieren? Ohne dass die Zugänge einfach nur regressive, symbolische Handreichungen sind, die letztlich sogar die zugleich weiter bestehenden Klassenverhältnisse noch verfestigen?!

JONAS ZIPF: Danke für die Spiegelung. Lässt sich diese systemische Betriebsblindheit auch auf die anderen beiden Transformationen der Nachhaltigkeit und der Digitalisierung übertragen? Ist es auch da so, dass wir Kultur- und Theaterschaffenden im Grunde wie der beleidigte Thomas Gottschalk dasitzen und uns wundern, dass wir immer noch das samstäglich wärmende Lagerfeuer der Wetten-Dass-Sendung ausstrahlen, aber immer weniger Menschen kommen? Dass es eben nicht reicht, die Saalwette und den Wettkönig zu reformieren, sondern sich die ganze Senderstruktur transformieren muss? Im Kontext der Nachhaltigkeit gibt es ja erste Gedanken in die radikale Richtung, die Friedrich vorhin in den Raum gestellt hat: Frank Raddatz, Bruno Latour oder Thomas Oberender fordern ein neues Theater des Anthropozäns, ein Theater, das sich die Natur zurückerobert. Im Kontext der Digitalisierung sprechen wir nicht nur über neue Theater-Digitalformate, die in diesem Jahr beispielsweise schon einen substanziellen Teil des Berliner Theatertreffens ausmachen, sondern über eine Neu-Formatierung der Arbeitsweise hinter den Theaterkulissen: So hat Ulf Schmidt bei der Dramaturgischen Gesellschaft schon vor zehn Jahren eine kollektive Arbeit im Writer’s Room gefordert; seit Jahr und Tag zeigen sich Betriebsdirektoren immer unzufriedener mit den Marktmonopolisten der Theatersoftware Theasoft oder Opas. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Dennoch scheint es, als seien die Theater und Kulturbetriebe seit Jahren kaum vorangekommen, als träten sie auf der Stelle. Wie kommen wir in die Transformation? Was muss sich ändern?

FRIEDRICH VON BORRIES: Ich mache einen utopischen Vorschlag. Jedes Theater sollte endlich seine Schizophrenie anerkennen und sich klonen und sagen: Wir doppeln uns und halbieren uns, aus einem Theater werden zwei, die sich die Räume und andere Ressourcen teilen. Das eine Haus macht ein Theater, wie wir es kennen, also die behutsame Überführung von deutschem Sprechtheater in zeitgenössisches Diskurstheater für Akademiker*innen. Die andere Hälfte probiert für fünf Jahre etwas gänzlich anderes aus. Was dieses gänzlich Andere ist, wissen wir alle und wissen wir alle nicht. Denn es ist ja gänzlich anders. Der eine mag Rewe-Supermärkte einrichten, der andere mag Theater für Haustiere machen, der Dritte mag Projekte mit migrantischen Jugendlichen machen, der Vierte mag Klassiker der türkischen Theaterkultur aufführen. What ever, I don’t know. Und dann setzt man sich nach fünf Jahren zusammen und redet mal. Und denkt und diskutiert. Weil die Transformation nur aus Erfahrung kommen wird. Sie wird nicht aus Analysen, nicht aus Beschreibungen kommen. Auch die Transformation des Theaters wird in der Transformation passieren, als Prozess, in dem man sich Freiräume schafft, ausprobiert und danach gemeinsam darüber diskutiert, und nicht im Sinne eines Vorschlags oder einer Beschreibung.

JONAS ZIPF: Damit kommen wir zu unserem Ausgangspunkt zurück: Corona als Brennglas. Eigentlich bietet uns Corona genau die Experimental- und Reagenzglas-Situation, von der du gerade sprichst. Allerdings müssen wir wahrscheinlich jetzt schon im Konjunktiv Zwei – leider nicht im Futur Zwei – sprechen: Corona hätte uns diese Situation geboten. Wenn wir etwa auf die Digitalisierungsebene im Theater schauen, dann hat das nur sehr bedingt stattgefunden: Die meiste Aktivität war geprägt von Aktionismus, davon, irgendwie präsent zu bleiben für sein Publikum, auch von beruflicher Verzweiflung, kulturpolitischer Angst, selten aber vom gründlichen Versuch, die eigene Struktur anzufassen, die eigenen Produktionsweisen zu verändern und zu adaptieren. Eigentlich bot Corona dazu die ideale Krisensituation, gerade im Hinblick auf die staatlichen Kulturträger: Wirtschaftlich abgesichert durch Kurzarbeit, zumindest was die Festangestellten anbelangt, im Bereich der Orchester sogar mit einer Lohnfortzahlung von gewerkschaftlich durchgesetzten 100 Prozent. Während Freischaffende gleichzeitig lange darum kämpfen mussten und müssen, nicht automatisch aus der KSK raus und in Hartz IV zu fallen. Und trotzdem war diese Zeit von ganz viel Mehrbetrieb und Weiterbetriebsamkeit geprägt, vom alten Muster des „Immer noch mehr vom Selben“. Da ist noch wenig Bewusstsein für Transformation by Design. Das führt, wenn es so weitergeht, eher zu Transformation by Desaster. So zumindest unser Eindruck als Herausgeber*innen des Arbeitsbuchs. Konjunktiv Zwei: Man hätte diese Chance sehr früh definieren müssen, zu Beginn des ersten Lockdowns im März des vergangenen Jahres, diese Phase nutzen und den Theaterbetrieb neu erfinden können. So ist das aber nun mal mit der Zeitdiagnostik: Hinterher sind wir immer klüger. Das vorliegende Arbeitsbuch stellt jedenfalls den Versuch dar, diese Chance noch mal aufzugreifen und dennoch zu nutzen. Vielleicht liegt ja auch ausgangs der Pandemie noch ein Rest dieser Chance in der Luft. Immerhin befinden wir uns auch weiterhin in einer intensiven Phase des aktivistischen Protests, auch innerhalb der Theater, und stehen vor einigen bedeutsamen politischen Umwälzungen, nicht nur finanzpolitischer Natur, sondern gesamtpolitisch und gesamtgesellschaftlich.

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