Kitabı oku: «transformers», sayfa 3

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SILKE VAN DYK: Da verläuft tatsächlich die eindeutige Trennlinie: Zwischen Transformation by Design und by Desaster. Ich glaube ja, eine ganz fatale Situation entstand gleich zu Beginn der Pandemie. Ich kann das anhand der sozial- und kulturwissenschaftlichen Textproduktion beschreiben. Nicht wenige Autor*innen sind sofort davon ausgegangen, dass die Pandemie durch eine Transformation by Desaster den Einstieg in eine neue Welt ebnen könnte. Ich weiß nicht, wie viele Texte ich aus dem Nachhaltigkeits-, Postwachstums-, Degrowth-Spektrum gelesen habe, die a) den radikalen Kategorienfehler gemacht haben, die akute Bedrohung durch die Pandemie mit dem langsamen Klimawandel gleichzusetzen, der noch dazu räumlich und personell externalisiert, nämlich genau dort zuerst seine negativen und desaströsen Folgen zeigt, wo die Menschen am wenigsten zu diesem Wandel beitragen – und b) auf die Idee verfallen sind, die auch vor Corona schon anliegenden Transformationsprozesse so stark mit einem Hoffnungsdiskurs zu verknüpfen, dass das Wünschbare, nämlich der Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft, plötzlich als wahrscheinlicher imaginiert wurde. Immer wieder war in unterschiedlichen Varianten zu lesen, dass jetzt ja alle auf Flug- und Urlaubsreisen verzichtet haben und damit bestimmt ganz viele erkennen werden, dass sie das gar nicht brauchen. Jetzt, ein Jahr später, sehen wir: Genau das ist nicht eingetreten, weil nämlich ziemlich viele Menschen ziemlich viel vermisst haben. Es ist ein fundamentales Problem, wenn Zeitdiagnosen das Wünschenswerte zum Wahrscheinlichen ausrufen und dabei die Macht- und Kräfteverhältnisse einfach ausblenden, die dem entgegenstehen. Das ist auch extrem ahistorisch: Wir wissen aus Extremsituationen in der Vergangenheit, zum Beispiel aus Kriegen oder anlässlich großer Naturkatastrophen, dass plötzlich ganz viel geht, was vorher undenkbar war. Nur ist es damit dann auch schnell wieder vorbei, das sind radikale Ausnahmesituationen, die eben nicht organisch und automatisch in Transformation by Design münden. Das muss ich leider nüchtern feststellen. Und es ist im Moment erstaunlich leise in der Debatte. Ich lese nicht mehr so viele Texte von denjenigen, die mir vor einem Jahr erzählt haben, was jetzt alles besser werden kann, warum dieses und jenes nun vielleicht eintritt oder doch nicht eintritt. Diese Schwäche der sozial- und kulturwissenschaftlichen Zeitdiagnose gab es auch nach Occupy, als man sich im Nachgang immer mal gewünscht hätte, von den so vielen euphorischen Stimmen in Wissenschaft und Zivilgesellschaft auch mal was darüber zu lesen, warum so vieles nicht geklappt hat und welche Verheißungen nicht eingetreten sind. Das im Blick zu behalten, heißt natürlich nicht, dass wir nicht nach emanzipatorischen Ansatzpunkten in der Krise suchen sollten, dass wir nicht nach historischen Beispielen schauen und nicht auch im Kultursektor die Frage nach der Transformation stellen sollten: Wie kann eine Situation by Desaster etwas anstoßen, das darüber hinausweist, das Räume öffnet? Wenn wir noch mal an die Pendelbewegungen von Polanyi denken: Führt uns die Pandemie vielleicht doch schneller als gedacht in ein post-neoliberales Zeitalter? Was wird die Rolle des Staates nach der Pandemie sein? Werden Privatisierungen im Gesundheitswesen oder die Ausbeutung von Pflegekräften in Zukunft vielleicht nicht mehr ganz so geräuschlos vonstattengehen? Wie können wir aus der Ausnahmesituation der Pandemie lernen und dazu kommen, die Transformation selbst in die Hand zu nehmen?

wann, wenn nicht jetzt?
ein zwischenruf von adrienne goehler

Nachhaltigkeit braucht Entschleunigung braucht Grund ein aus kommen ermöglicht Entschleunigung ermöglicht Nachhaltigkeit1

Wir befinden uns gegenwärtig nicht in einer ökologischen Krise, im Sinne eines temporären Ausnahmezustands, sondern erleben eine irreversible Mutation des globalen Klimas und der Bewohnbarkeit des Planeten Erde.

Bruno Latour2

Into the Great Wide Transformation

Es hat eine verdammt lange Zeit gebraucht und die immer insistierendere Haltung solch unumstößlicher Autoritäten wie Bruno Latour oder Donna Haraway, bis auch in der Kunst angekommen ist, dass sie ebenfalls auf dem Fundament kolonialer, patriarchaler und ressourcenzerstörender Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise steht und dass es kein Wegducken mehr vor der Schärfe des Klimawandels geben kann. Es muss gehandelt werden. Von allen. Jetzt. Punkt.

Wir brauchen die Vorstellungskraft der Künste für diese Transformation, ihre „Verweltlichungen“, ein schönes Bild von Donna Haraway, um die menschlichen Beziehungen, Zeit, Arbeits- und Denkweisen als Ressourcen zu sehen, als Modelle für die Zukunft, die schon längst begonnen hat, jenseits der noch eher hermetischen Räume der Selbstvergewisserung der Künste wie Museen und Theater. Die Kunst wird sich auf vielfältige Weise neu sortieren müssen. Sich des großen Koordinatensystems bewusst werden, in dem sie steht, zwischen Klimawandel, damit zusammenhängenden Migrationsbewegungen, sich ausweitender sozialer Ungleichheit und maßlosem Ressourcenverbrauch. Werden künftig noch dieselben Themen/Fragen/Zustände/Visionen in denselben Räumen vor demselben Publikum verhandelt werden? Wie kann sich künftig Überfluss, Fülle, Verschwendung in den Künsten zeigen?

Werden die Künstler*innen und ihre Gemeinden weiter von Festivals zu Biennalen jetten können wollen und wollen können? Wird Nachhaltigkeit, als globale Gerechtigkeit verstanden, ästhetisch ein Anliegen? Wie wird spürbar, dass die Künste in der Pandemie system-, vor allem aber gesellschaftsrelevant sind? Hat es Demonstrationen eines hungrigen Publikums für die Öffnung unserer Orte gegeben?

Die Theater, Museen, Kinos haben die ausgeklügeltsten Hygiene- und Abstandskonzepte: Wieso gehen sie eigentlich keine Allianzen mit Schulen ein? Eine Mathearbeit auf der Bühne, Biounterricht vor großer Leinwand im Kino, Kunstunterricht im Museum, das würde sich ins Gedächtnis brennen und ziemlich sicher neues Publikum erschließen.

It matters!

Die zehn reichsten Milliardäre verdienten an Corona mehr als Impfungen für alle Menschen kosten würden. Oxfam zufolge braucht es für Impfstoffproduktion, Verteilung und Impfung weltweit 141,2 Milliarden Dollar3. Eine ihrer älteren Studien belegt, dass das eine – reichste – Prozent der Weltbevölkerung mehr als doppelt so viel klimaschädliches Treibhausgas ausstößt wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen. Dieser Fakt der sich verschärfenden sozialen Ungleichheit wird in den Nachhaltigkeitswissenschaften als systemisches Risiko bewertet.4 Die Weltbank geht bis 2050 von 143 Millionen Menschen aus, die wegen des Klimawandels ihre Heimat verlassen müssen.5

Eine über sich selbst hinausweisende Kunst muss so etwas künftig auf dem Zettel haben. Denn eine weltweit ökologische Transformation ohne sozialen Ausgleich ist nicht vorstellbar. Dort, wo Menschen Bedrohung, Angst und Armut ausgesetzt sind, wo sie mit ihren Fähigkeiten oder mit ihrem Wunsch, zu gestalten und nützlich zu sein, nicht gefragt sind, erodiert die Basis von Sicherheit, von Empathie für die anderen, für die sie umgebende Welt, für den Planeten.

Ein würdevolles Leben für alle geht also nur, wenn die Begrenztheit der weltweiten Ressourcen, der Klimawandel und Klimagerechtigkeit wesentlicher Maßstab des weltweiten Handelns werden. Verknüpft mit der praktischen Kritik an den unausweichlichen Begleiterscheinungen der kapitalistischen Ideologie des „höher, schneller, weiter, reicher, mehr“, die jedem wie auch immer gedachten nachhaltigen Leben entgegensteht.

Dann erst wird der Blick darauf frei, dass Menschen, bezogen auf ihre Lebensgrundlagen, annähernd angstfrei sein müssen, um sich selbst als Subjekte der Veränderung zu erleben und Anteil an der sie umgebenden Welt nehmen zu können.

Ein angstfreies ökonomisches Dasein ist die beste Voraussetzung, um die eigenen Geschicke selbst in die Hand nehmen zu können und mehr Kopffreiheit zu haben für die Fragen, wie will ich eigentlich leben mit und in der mich umgebenden Natur. Dabei wäre ein Grund ein aus kommen6 so etwas wie Hammer und Amboss, um das eigene Glück zu schmieden. Ermächtigung zur Selbstermächtigung eben, um „Gegenwartsmeister*innen“7 sein zu können.

Corona verschärft die Verhältnisse – auch in den Künsten – ökonomisch, wie die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns betreffend. Aus dem Förderungsfüllhorn der BKM gab es Gewinner*innen, aber eben auch sehr viele Verlierer*innen. Die Fördermodalitäten wurden zwar gelockert, es braucht nicht unbedingt ein Produkt zum Schluss, haben sich aber nicht grundsätzlich geändert; es bleibt bei den infantilisierenden und ressourcenausbeutenden Behauptungen des „eben ganz neu gedachten“, des „noch nie dagewesenen“. Wir sind weiterhin gefangen in der Logik von Innovation, Einmaligkeit, Wettbewerb, Formalität, Kontrolle und rigidem Zeitmanagement.

Zunächst hat die Pandemie das Diktat der Beschleunigung und Selbstoptimierung schlagartig in sein Gegenteil verkehrt und uns – die Freiberufler*innen, Soloselbstständigen, die Nicht-Angestellten und Nicht-Abgesicherten – in das Paradoxon verstrickt, aus einem rasend schnellen Leben heraus bis zum Stillstand zwangsentschleunigt worden zu sein. Aber wegen der damit einhergehenden, beängstigend steigenden harschen, ökonomischen Unsicherheit sitzen wir seither im kleineren Hamsterrad des Homeoffice, in Bademantel und Hausschuh, und schreiben weiterhin Anträge über Anträge, stellen uns super aktuell, super innovativ, super digitalisiert dar und warten auch noch im April auf die Novemberhilfen … Wollen wir uns das wirklich weiter antun: „Ich stelle einen Antrag, also bin ich! Ich habe einen Antrag bewilligt bekommen, also bin ich Künstler*in!“?

Wir brauchen einfach andere, entschleunigte, nachhaltige Förderstrukturen (siehe „Aufruf zur Kompliz:innenschaft, für einen Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit | FÄN“, S. 144)

Hartmut Rosa kennzeichnet die Corona-Zeit als die Gleichzeitigkeit von Erschöpfung und Ruhelosigkeit, von Beschleunigung von Zeit und Daten und eine Entwirklichung des Raums und des Sozialen.

Wie kann die erzwungene Entschleunigung zu einer selbstbestimmten werden? Wie können wir die kostbare Erfahrung der Entschleunigung in unserem Denken und Handeln bewahren? Wie könnte die Erfahrung des Pandemischen eine grundsätzlich andere Art zu denken, zu essen, zu reisen, zu wirtschaften, Kunst zu machen etc. ermöglichen, um auf den sich vollziehenden Wandel angemessen zu reagieren?

Wir könnten der chorischen Rede der Künstlerin und Aktivistin Anna Rispoli folgen, über Verteilungsgerechtigkeit, Prekarität und Nachhaltigkeit.8

Wann, wenn nicht jetzt, könnten wir uns daran erinnern, dass eine Hauptstadt Laboratorium für Veränderung sein muss, und deshalb die Regierenden der Stadt höflich oder besser insistierend auffordern, statt uns durch Antrag auf Antrag zu jagen, die Künstler*innen und Soloselbstständigen der Stadt zu Pilot*innen des Grund ein aus kommens zu machen; so nahe wie möglich an der Bedingungslosigkeit, jedenfalls ohne Zwang zur Produktion, aber mit der Erwartung, den Wissenschaften über die Erfahrung zu berichten und dies mit allen Mitteln der Kunst. Wir würden mit dieser Freiheit zu Chronist*innen der Pandemie, zu Pilot*innen der Transformation. Mit der Perspektive, dass Alle das Grundauskommen kriegen müssen, damit es wirklich bedingungslos sein kann. Diese Art von Aus- und Aufbruch würde sich gar einer Mehrheit erfreuen können. (Siehe Nachtrag)

Wie wäre es, wenn sich die Künste aufschwingen würden, als Erste ihre Boxen zu verlassen und danach handeln zu können, was wir längst verstanden haben: dass alles mit allem zusammenhängt. Dafür gibt das Grundauskommen den Möglichkeitsraum. Für ein neues Verständnis von Avantgarde, das sich in Zusammenhang sieht, mit dem was auf der Welt passiert. Mir fällt ein Satz der Trobadora des Aufbruchs in der DDR, Irmtraud Morgner, ein: „Mein Antrieb wäre nicht, Kunst zu machen; mein Antrieb wäre, Welt zu machen. Natürlich mit der größtmöglichen Wucht an Worten“.9

Nachtrag.
Was Andere zum Grundeinkommen sagen:

__ 494.549 Menschen unterschrieben die Forderung der Berliner Modedesignerin Tonia Merz nach einem Grundeinkommen für Soloselbstständige als Soforthilfe, zunächst auf die Corona-Zeit begrenzt. Damit eher Helikoptergeld als Grundeinkommen, aber dem Gedanken der Bedingungslosigkeit folgend, weil schon Jede*r selber am besten wüsste, was das jeweils Wichtigste für sie/ihn sei.10

__ Das Deutsche Wissenschaftsinstitut | DIW Berlin begleitet mit einer Studie 1.500 Proband*innen, die drei Jahre lang monatlich 1.200 Euro kriegen; mehr als zwei Millionen Menschen bewarben sich um die Teilnahme.11

__ Das UN-Entwicklungsprogramm UNDP fordert angesichts der Corona-Krise ein Grundeinkommen für knapp drei Milliarden. Menschen in 132 Entwicklungsstaaten. Mit dem Grundeinkommen könnten Personen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, während der Pandemie zu Hause bleiben; dies könne die Ausbreitung des Coronavirus bremsen.12

__ marktforschung.de ermittelt im Februar 2021 eine Präferenz der Bevölkerungen für das bedingungslose Grundeinkommen |BGE in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Schweden: „In allen vier Ländern ist die Unterstützung für ein bedingungsloses Grundeinkommen sehr hoch und tendenziell steigend“. In Deutschland unterstützen 55 Prozent der Befragten das Konzept des BGE; das Votum hat sich durch die Pandemie verstärkt, unabhängig von Alters- und Einkommensklassen. Besonders hohe Zustimmung gibt es bei den Selbstständigen (63 Prozent), während Verbeamtete eine kritische Sicht haben (28 Prozent Zustimmung).13

__ Im Wahlprogramm der GRÜNEN steht zur Abstimmung: „Kulturschaffende sollen für die Zeit der Corona-Krise mit einem Existenzgeld von 1.200 Euro im Monat abgesichert werden. Um kreatives Schaffen langfristig finanziell unabhängig zu machen, setzen wir uns dafür ein, ein Pilotprojekt des Grundeinkommens für Kulturschaffende – eine Kreativsicherung – zu realisieren“14.

__ Und selbst der Papst propagiert: „Das Grundeinkommen könnte die Beziehungen auf dem Arbeitsmarkt umgestalten und den Menschen die Würde garantieren, Beschäftigungsbedingungen ablehnen zu können, die sie in Armut gefangen halten würden.“ … „Maßnahmen wie solch ein Grundeinkommen können dazu beitragen, dass die Menschen frei dazu werden, das Verdienen des Lebensunterhaltes und den Einsatz für die Gemeinschaft zu verbinden.“15

1Adrienne Goehler: Nachhaltigkeit braucht Entschleunigung braucht Grund ein aus kommen | Grund ein aus kommen ermöglicht Entschleunigung ermöglicht Nachhaltigkeit, Parthas Verlag 2020. Layout: ©anschlaege.

2Bruno Latour: Kampf um Gaia, Suhrkamp 2020.

3https://www.oxfam.de/ueber-uns/publikationen/oxfams-bericht-covid-19-auswirkungen-ungleichheitsvirus und https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/klimawandelungleichheit-reichste-1-prozent-schaedigt-klima-doppeltso-stark

4Diskussionspapier Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS)I, „Systemische Risiken und Dynamische Strukturen“, 2017.

5https://www.welthungerhilfe.de/informieren/themen/klimawandel/klimafluechtlinge-klimawandel-und-migration/

6Ich will Sie einladen, das bedingungslose Grundeinkommen als ein bedingungsloses Grundauskommen weiterzudenken, weil Auskommen den Bezug herstellt zu dem individuellen Menschenrecht und den Gedanken daran, „was man zum Leben braucht“. Es schimmert auch die Idee des Miteinander-Auskommens, des Zurechtkommens durch. Bei Grundeinkommen indes dominiert der auf bezahlte Arbeit bezogene Aspekt, der Gedanke des Verdienstes, der Lohn für Leistung; es schwingt letztlich zu wenig Freiheit mit. Gleichwohl benutze ich den Begriff weiterhin alternierend, weil er breit eingeführt ist.

7Postulat der Dramaturginnen Maria Milisavljevi, Maxi Obexer, in: taz, 21.04.2021.

8 https://www.festwochen.at/einkommen-die-bedingungsloserede

9https://schriftsaetzer.wordpress.com/tag/robert-menasse/

10 https://www.change.org/p/finanzminister-olaf-scholz-und-wirtschaftsminister-peter-altmaier-mit-dem-bedingungslosen-grundeinkommen-durch-die-coronakrise-coronavirusdeolafscholz-peteraltmaier-bmas-bund-hubertus-heil

11 https://www.diw.de/de/diw_01.c.797109.de/erste_langzeitstudie_deutschlands_zur_wirkung_des_bedingungslosen_grundeinkommens.html

12 https://unric.org/de/23072020-grundeinkommen/

13 https://www.marktforschung.de/aktuelles/marktforschung/bedingungsloses-grundeinkommen-je-laenger-die-kriseandauert-desto-groesser-der-zuspruch-in-der-bevoelkerung/

14 https://antraege.gruene.de/46bdk/kapitel_5_zusammen_leben-11305/12815

15 Vorabdruck Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2020.

NOCH nicht gesichtet


NOTATION_SFBODIES 00‘54~

tina lorenz
endlich.

Das Jahr, in dem sich das Theater endgültig dem Digitalen annähern würde, war 2014. Da war ich mir sicher. Gerade hatte nachtkritik einen Artikel von mir zum Streaming aus dem Theater veröffentlicht1, im Jahr zuvor war ich erstmals in Dortmund gewesen und hatte mir in einem Festival-Setting angesehen, wie das Schauspiel, zusammen mit dem örtlichen Chaos Computer Club, ein für mich radikal neues Theater machte – eines, in dem die Erzählweisen des Internets mit den Erzählweisen des Theaters verschmolzen. Die Nerds hatten während des Cyberleiber-Festivals2 aus dem oberen Foyer des Schauspielhauses einen temporären Hackspace gemacht, und da dachte ich schon, dass das vielleicht noch was würde, das mit den Nerds und den Theaterleuten. Aber es ist ja immer leichter, sich das Außen einzuladen, dorthin, wo man selber noch die Kontrolle und die Deutungshoheit über sich und sein Wirken hat. Selber rausgehen und sich in andere Kulturkreise bewegen braucht dann immer noch ein bisschen mehr Mut. Weshalb das Jahr, in dem sich das Theater endgültig an das Digitale rangetraut hat, erst ein Jahr später war. Da saß ich nämlich zwischen den Jahren in Hamburg. Genauer gesagt im Hamburger Congress Centrum CCH, in dem zwischen 2012 und 2016 der Chaos Communications Congress, das jährliche Großtreffen des Chaos Computer Clubs, stattfand. Noch genauer gesagt hing ich im Kidspace rum, der riesigen Zwischenetage, gefüllt mit Legosteinen, Retrokonsolen, Anfänger-Lötkram, Chaos, Krach und unfassbar vielen Nerdkindern, die das von klein auf so kennen. Auf einmal jedenfalls stand da dieser Typ. Dreiteiler. Kariert. Der etwas verloren in der Gegend rumguckte und dann mit einem „Ha, dich kenn ich!“ auf mich zukam, offenbar glücklich über ein bekanntes Gesicht, wenn auch aus einem anderen Kontext. Kay Voges war auf den Congress gefahren, und damit hatte sich das Theater endgültig aus seiner analogen Komfortzone getraut.

Die 2010er-Jahre waren für den Themenbereich „Theater und Digitalität“ sehr vielversprechend gestartet (okay, Herbert Fritsch war schon vorher losgerannt und hatte seit 2001 die Texte zu seinem hamlet_X in einem Wiki gesammelt): 2012 schrieb die Intendant*innengruppe des Deutschen Bühnenvereins im Rahmen der re:publica einen Wettbewerb aus, der neue Formen der Inszenierung für digitale Kanäle prämierte.3 Die Bayerische Staatsoper fing an, ausgewählte Produktionen zu streamen (und das Theater Ulm auch, dieser heftige Underdog der digitalen Pionierarbeit!). Auch die erste Vereinbarung des Bühnenvereins zum Thema Streaming (eingebettet in einen Vorstoß zur Reformierung des Urheberrechts), in dem Vorschläge zur Vergütung und zur Vertragsgestaltung für die an einem Stream beteiligten Ensembles gemacht wurden, stammt aus der Jahreshauptversammlung 2012.4 Das Thalia Theater veranstaltete 2012 ein erstes Barcamp zum Thema Internet und Social Media (ohne Internet)5. 2013 wurde die Konferenz „Theater und Netz“ von der Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik ins Leben gerufen (mit Internet)6. 2014 stand mit Kay Voges zum ersten Mal ein Intendant eines deutschsprachigen Stadttheaters auf einem CCC-Congress. Und dann passierte …

Nichts. Die zweite Hälfte der 2010er-Jahre war dann irgendwie überwiegend geprägt von Ratlosigkeit gegenüber diesem seltsamen Phänomen namens „Internet“. Dortmund hatte mit seinem Theater eine Nische besetzt und zu seinem Markenzeichen gemacht, ansonsten schien man den digitalen Wandel zumeist aussitzen zu wollen. Natürlich: Ein paar mehr Stadt- und Staatstheater legten sich Facebook-Accounts zu (und fragen sich bis heute, was sie damit eigentlich machen sollen und warum sie die Betreuung eines Instruments, das sich eigentlich so gar nicht für Marketingzwecke eignet, noch mal in die Marketingabteilung einsortiert haben). Einige Theater experimentierten mit digitalen Formaten, aber weit weniger als zuvor. Vielleicht hatte Effi Briest 2.0 sie abgeschreckt, eine sehr verunglückte Social-Media-Inszenierung aus dem Jahr 2012,7 in der die Werbeagentur Jung von Matt maßgeblich mit Regie geführt hatte, und mit der man nicht interagieren durfte, um die Figurendialoge nicht zu stören. Die Ehrenrettung für das Format „Social-Media-Inszenierung“ sollte tatsächlich noch acht Jahre auf sich warten lassen.8 Während der mobile Datenstandard LTE um 2010 herum in Deutschland Verbreitung fand und wir damit selbst unterwegs zunehmend mit dem Internet verbunden waren, wurden am Theater eher Mammutprojekte im Schauspiel wie ein achtstündiger Faust (Nicolas Stemann, 2011)9 oder Dionysos Stadt (zehn Stunden, 2018)10 gefeiert, in der implizit auch die Abkehr von der permanenten Erreichbarkeit mitzelebriert wurde (in der Oper kannte man das Prinzip ja schon etwas länger …) Dem gegenüber stand ein launiger, aber begreiflicherweise auch kurzlebiger Trend des Live-Twitterns aus dem Theater.11

Noch im Jahr 2018 titelte die Neue Musikzeitung anlässlich der Jahreshauptversammlung des Bühnenvereins in Lübeck, dieser würde einen „Kulturwandel“ anstreben.12 Zentrale Teile der Tagesordnung: der wertebasierte Verhaltenskodex für die Eindämmung von Machtmissbrauch und Übergriffen am Theater und die Digitalisierung. Während der wertebasierte Verhaltenskodex noch auf der Jahreshauptversammlung selbst als Minimalkonsens mit Vorschlagscharakter verabschiedet wurde (und auch das nicht ohne Widerstand), blieb es im Themenkomplex Digitalisierung zumindest vonseiten des Bühnenvereins aus beim interessierten Exkurs, dem keine strukturellen Taten folgten.

Dass das Staatstheater Augsburg Ende 2019 VR-Brillen für ein hybrides Opernprojekt anschaffte, war angesichts dieser Entwicklung zwar kein Zufall, sondern logische Fortführung, wäre aber vermutlich ein Einzelfall-Leuchtturmprojekt in einer ansonsten immer noch am analogen Zeitalter klammernden Theaterlandschaft geblieben. Das gemächliche Tempo, in dem sich die Theater der Digitalität gerne angenähert hätten, haben die globalen Ereignisse der Jahre 2020 und 2021 und die damit einhergehende Schließung der Bühnen für die längste Zeit seit 1944 gehörig beschleunigt. Die Realisierung einiger Theater, dass der eigene Facebook-Account, den man vor ein paar Jahren noch in der Marketingabteilung geparkt hatte, nun quasi über Nacht die einzige Möglichkeit war, überhaupt noch mit einem Publikum in Kontakt zu treten, muss hart gewesen sein. Dass dann an ganz vielen Häusern überhaupt etwas passiert ist – irgendetwas! – sowohl im ersten wie auch im zweiten Lockdown ein halbes Jahr später, zeugt davon, dass Theater in kürzester Zeit Berge bewegen und komplette Wertesysteme auf den Kopf stellen kann. Wenn es will. Oder wenn es muss.

Mittlerweile hat sich wohl jedes Theater im deutschsprachigen Raum mit digitalen Formaten auseinandergesetzt und eruiert, wo es eigentlich steht im digitalen Kulturwandel. Dabei sind an vielen Stellen auch die Desiderate des am Theater lange Zeit ignorierten Innovationsstaus zutage getreten: Man hat gemerkt, dass Abteilungen schlecht ausgestattet, Personal nicht hinreichend geschult und Infrastruktur nicht angemessen entwickelt worden ist. Auf der anderen Seite hat sich aber auch die eigene Haltung den digitalen Ausspielkanälen gegenüber gewandelt. Der vorherrschende Diskurs ist nicht mehr einer, der den physischen Raum gegen den digitalen ausspielt und – wie früher oft gehört – eine pauschalisierende Wertung vornimmt, sondern einer, der sich fragt, ob man eigentlich an der Aura des Produkts erkennt, ob das jetzt ein Live-Stream ist oder nur die temporäre öffentliche Ausspielung einer Aufzeichnung. Im Gegensatz zu früher tragen wir die Begriffe Ko-Präsenz, Liveness, Immersion und Durchlässigkeit nicht mehr als Monstranz und Beweis unserer unverrückbaren analogen Existenz vor uns her, sondern versuchen, sie auf die neuen Gegebenheiten, die neuen Bühnen anzuwenden. Was beispielsweise heißt es für einen als live empfunden werden sollender Theaterabend, wenn die vierte Wand im Stream nicht mehr durchlässig ist, und mit welchen Mitteln können wir diese Durchlässigkeit wieder herstellen? Was bedeutet es für die autopoietische Feedbackschleife, wenn der gemeinsame Raum auf einmal ein digitaler ist? Und wie können wir Ko-Präsenz für uns umdeuten, wenn keine Körperlichkeit mehr involviert ist?

Wir sind noch ganz am Anfang einer fundierten Auseinandersetzung mit dem Digitalen. Aber irgendwann – und hoffentlich bald – werden wir auch dieses Themenfeld öffnen, in die Intersektionalität überführen und in einer kritischen Reflexion betrachten müssen, wie genau wir die Digitalisierung unserer Branche und unserer Kunst eigentlich umsetzen wollen. Dann sprechen wir vielleicht darüber, wie digitale Methoden im Betrieb eingesetzt werden können, um Hierarchien zu verflachen. Oder wie Automatisierung von Prozessen dabei helfen kann, die am Theater arbeitenden Menschen vor Burnout zu schützen. Oder warum wir eigentlich einer umfassenden Open-Access-Strategie verpflichtet sein müssten. Und wie man Digitalisierung eigentlich nachhaltig gestalten kann, angefangen von den verbrauchten Kilowattstunden und der Herkunft unseres Stroms, bis hin zu den unerträglichen Ausbeutungsszenarien, die wir in der gesamten Herstellungs- und Verwertungskette unserer modernen Elektronik sehen, vom Lithium-Raubbau bis zur Entsorgung unseres Elektroschrotts zum Beispiel in Ghana. Auch die Frage, wie Software und deren Nutzung nachhaltig, offen und nachnutzbar gestaltet werden kann, gehört hier dazu. Hier einzusteigen in eine differenzierte Debatte, die vielleicht keine Patentlösungen für diese globale Problematik mitbringt, in der aber ein klarer Wille der Theaterbranche erkennbar wird, hier bewusste Entscheidungen zu treffen, wünsche ich mir für 2022.

Die Spielzeit 21/22 am Staatstheater Augsburg trägt unter anderem auch deshalb das Motto „endlich.“. Der Begriff steht dabei sowohl für den Stoßseufzer, mit dem wir die Öffnung unserer physikalischen Spielorte wieder herbeisehnen, als auch für die Endlichkeit natürlicher Ressourcen, die Endlichkeit des Zeitfensters, in dem wir uns gegen den immer unaufhaltsamer werdenden Klimawandel stemmen können, für die Endlichkeit unserer Kräfte, und letztlich auch für die Endlichkeit eines Theaters, in dem die Verschwendung der Kunst in allen Facetten propagiert wird, ohne Rücksicht auf Verluste. In einer Auseinandersetzung mit der Endlichkeit von Ressourcen in der Welt können wir nicht ausblenden, dass ein Theaterbetrieb derzeit nicht sonderlich nachhaltig agiert. Am plakativsten sehen wir das derzeit vielleicht daran, wie Theater mit Arbeitskraft umgeht.

Es gab mal ein spannendes Interview in Theater der Zeit mit einem Coach zum Thema Machtmissbrauch an Theatern, in dem er berichtete, dass Theater in ihrer Personaldecke mitunter einen exorbitant hohen Krankenstand hätten. Er wertete das als Zeichen dafür, dass hier Mitarbeitende möglicherweise „verschlissen“ würden und eine gewisse Flucht anträten.13 Auch Hubert Eckart, Vorsitzender der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft DTHG, beschreibt in seinem FAZ-Interview von 2019 ähnliche Zustände: „Vorne verkünden wir die Menschenrechte, hinten wirst du angeschnauzt.“14

Die Digitalisierung kann Machtmissbrauch an Theatern nicht verhindern, kann nicht dafür sorgen, dass ein respektvoller Umgang miteinander herrscht und dass die Leute, die dort arbeiten, weniger angeschnauzt werden, um bei Hubert Eckart zu bleiben. Aber kluge Automatisierung könnte helfen, die Kraftressourcen von Mitarbeitenden zu schonen und in Gebiete zu verlagern, in denen wir Menschen den Maschinen noch haushoch überlegen sind: in das Bearbeiten komplexer, vielschichtiger Felder, die Empathie und Miteinander verlangen. Im 21. Jahrhundert müsste niemand mehr Tabellen abtippen, Social Media Posts anhand von Premierendaten anlegen, eine Monatsdispo von Hand entwerfen oder Tickets auf Sicht kontrollieren. Alleine die Stunden, die ich am Theater schon mit stupider, repetitiver Handarbeit verbracht habe, würden ganze Monatsabrechnungen füllen – wir alle, die wir am Theater arbeiten, egal, in welcher Funktion, haben diese Tätigkeiten, die eigentlich Maschinen machen könnten. Wir werfen derzeit menschliches Personal auf sämtliche Arbeiten am Theater und wundern uns dann, dass wir zum einen keine guten Leute mehr finden und zum anderen, dass die, die da sind, sich irgendwann mit Burn-out in das innere Bienenzüchten abmelden.

Die vielbeschworene Gefahr, dass Automatisierung Arbeitsplätze abschafft, besteht dabei gerade am Theater nicht. Der Kern von Theater ist seine Menschlichkeit und nur, weil unsere administrativen Prozesse irgendwann vielleicht nicht mehr so handgemacht sind wie unsere Schuhe, Kostüme und alles, was die Cacheur*innen mit Styropor zaubern, heißt das nicht, dass wir die Menschen damit aus der Gleichung nähmen. Im Gegenteil: Vorderhaus-Mitarbeitende beispielsweise, die nicht mehr nur zur reinen Ticketkontrolle an den Eingangstüren stehen, sondern die im Gegenteil diesen Aspekt einer Maschine überlassen, könnten sich stattdessen auf ihr eigentliches Kerngeschäft – Hospitality – konzentrieren, da sind Roboter nämlich notorisch miserabel drin. Ein Künstlerisches Betriebsbüro, das seine Disposition nicht händisch mit quergelegten Worddateien, Excel, Papier und Stift oder einer Software mit dem Look und Feel einer überteuerten 90er-Jahre-Industrieanwendung erstellen muss, hätte wieder die Konzentration, um die zentrale Anlaufstelle für alle logistischen und organisatorischen Belange, also das Herz, eines Theaterbetriebs zu sein. Die Übersetzung von Bauproben ins Digitale, wie sie auch jetzt schon pandemiebedingt an einigen Häusern vonstattengeht, würde uns auch langfristig erlauben, künstlerisches Personal nicht extra von weit weg für diesen Termin einzufliegen. Das spart nicht nur Zeit und Nerven, sondern auch CO2.

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