Kitabı oku: «Vom Träumen und Aufwachen», sayfa 4

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Nachwort
Populismus und Corona-Pandemie

Zum Zeitpunkt dieses Nachwortes (26. April 2020) hat sich die Corona-Pandemie über nahezu alle Länder der Welt ausgebreitet.

Die wenigen noch nicht flächendeckend betroffenen schwarzafrikanischen Länder wird es wegen der extrem schlechten Struktur ihrer Gesundheitssysteme mit besonderer Härte treffen.

Diese Phase – vor der kausalen Therapie durch einen Impfstoff und vor dem Einsatz wirksamer Medikamente – ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es über die genaue(n) Ursache(n), den weiteren epidemiologischen und in der Folge den möglichen wirtschaftlichen Verlauf (etwa eine Sturmflut von Insolvenzen) noch keine verlässlichen Aussagen und Prognosen geben kann.

Und damit ist gegenwärtig auch nur ein langsames, sehr vorsichtiges Voranschreiten hinsichtlich Schutz- und Freiheitsmaßnahmen möglich.

In diesem kurzen Nachwort möchte ich ein paar Beobachtungen zusammentragen, wie populistische Parteien mit dieser Lage umgehen. Vor allem ist »diese Lage« eines: global – in jeder Hinsicht. Kein einziger Mensch hat vor dem Hintergrund eigener Interessen oder Entscheidungen dieses Virus geschaffen noch willentlich zu seiner grenzenlosen Verbreitung beigetragen. Die Pandemie setzt sich über alles hinweg, so als würde sich aufgrund von kosmischen Ereignissen der Sauerstoffgehalt der Atemluft auf einmal ändern.

Auf einen solchen Sachverhalt hält populistisches Ideengut und Handeln offensichtlich keine adäquate Antwort bereit. Die typisch populistische Polarisierung in »Wir, das eigentliche Volk versus die Eliten, die Anderen, Fremden, Ausländer, Migranten etc.« ergibt keinen Sinn in einer Pandemie – es sind halt alle gleichermaßen betroffen.

Populistische Hochburgen wie Matteo Salvinis Lega Nord mit ihrem Schwerpunkt in Norditalien z. B. in Bergamo; die USA unter Trumps Desorganisation inklusive wahnwitziger »Einfälle« (Desinfektionsmittel zur inneren Anwendung); in Brasilien Jair Bolsonaros Verharmlosung der Pandemie als »Grippchen«; auch Boris Johnsons lang anhaltende Leugnung der Gefahr für Großbritannien – in diesen Einflussgebieten sind besonders schlimme Verläufe der Pandemie zu verzeichnen.

Die AfD hat sich in Sachen Pandemie zerstritten (s. etwa Spiegel 17/17.4.2020) und hat in den vergangenen Monaten deutlich an Zustimmung eingebüßt. In dieser Pandemie kann keine kleinsinnige Fraktion sich mit ihrem lokalen Dialekt als Opfer bzw. potenzieller Retter anbieten – die Fakten sprechen eine ganz andere, eine globale Sprache.

Wir können während dieser Pandemie an vielen Orten beobachten, wie Hilfsbereitschaft, Wohlwollen, freundliche Zuwendung und Anteilnahme Ausdruck finden, so als zeigte sich unser ursprünglich freundliches Wesen unter diesen widrigen Umständen besonders »gerne« oder selbstverständlich – nicht weil das moralisch wünschenswert wäre, sondern weil es allen guttut und weil es sich so einfach besser lebt.

Und wir sind ebenso Zeugen von ganz anderen, üblen und destruktiven Vorfällen, die Fassungslosigkeit hinterlassen.

Ich neige zu der Sicht von Stefano Mancuso, Dozent für Neurobiologe und Botanik an der Universität von Florenz, der das Überleben der Spezies Mensch von der Einsicht abhängig sieht, dass Kooperation viel erfolgreicher ist als Konkurrenz und dass alle Formen von »Wir zuerst« selbstschädigend und am Ende zum Scheitern verurteilt sind. Siehe auch sein einschlägiges Buch Die Intelligenz der Pflanzen (2015).

Das ist es, was ich angesichts einer tatsächlich globalen Bedrohung zu erkennen meine: eine globale menschliche Antwort, die in jedwedem populistischen Rahmen zu eng gefasst ist, ihn sprengt und überschreitet.

Literatur

(Es sind hier auch einige inhaltlich relevante Bücher aufgeführt, die im Text nicht erwähnt sind.)

»Das Einheits-Gold wird braun«. Süddeutsche Zeitung, 1.11.2019.

»Der Aufbruch«. Spiegel, 17/17.4.2020.

Detering, H. (2019): Was heißt hier »wir«? – Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten. Ditzingen (Reclam).

Hochhuth, R. (1993): Wessis in Weimar: Szenen aus einem besetzten Land. Berlin (Volk & Welt).13

»Jeder vierte Deutsche denkt antisemitisch«. Zeit, 24.10.2019.

Köpping, P. (2018): Integriert doch erst mal uns – Eine Streitschrift für den Osten. Berlin (Ch. Links).

Kowalczuk, L.-S. (2019): Die Übernahme – Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. München (Beck).

Ludwig, J. (2018): Populismus. Hamburg (Carlsen).

Mancuso, S. (2015): Die Intelligenz der Pflanzen. München (Antje Kunstmann).

Müller, J.-W. (2016): Was ist Populismus? Ein Essay. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).

Müller, J.-W. (2019): Furcht und Freiheit: Für einen anderen Liberalismus. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).

Pinker, S. (2011): Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt a. M. (S. Fischer).

Pinker, S. (2018): Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Frankfurt a. M. (S. Fischer).

Pohl, R. (2019): Feindbild Frau. Hannover (Offizin).

Pötzl, N. F. (2019): Der Treuhand-Komplex. Legenden. Fakten. Emotionen. Hamburg (kursbuch.edition).

Rosling, H. (2018): Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie ist. Berlin (Ullstein).

Simon, F. B. (2019): Anleitung zum Populismus. Oder: Ergreifen Sie die Macht! Heidelberg (Carl-Auer).

Wüllenweber, W. (2018): Frohe Botschaft – Es steht nicht gut um die Menschheit – aber besser als jemals zuvor. München (DVA).

5Atomwaffen-Division. Verfügbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Atomwaffen_Division [9.8.2021].

6Siehe z. B. im Literaturverzeichnis unter Walter Wüllenweber und Steven Pinker.

7Ein weiteres Merkmal des Populismus ist eine weitverbreitete Frauenfeindlichkeit. Die vermeintliche Schwächung weißer Männer durch eine Überschwemmung mit nichtdeutschen Migranten, deren besondere Fruchtbarkeit und die Verdrängung der »ursprünglichen, gesunden Kleinfamilie« nötigen deutsche Männer, sich jetzt als besonders stark und männlich zu erweisen und die Frauen zur intensivierten Wiedervermehrung des deutschen Volkes in ihre traditionelle Rolle als Mutter zurückzuverweisen. S. auch in der Literaturliste Rolf Pohl (2019). In diesem Text hier wird dieses Thema nicht zusätzlich behandelt.

8Wörtliches Zitat: »Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer übertausendjährigen Geschichte«. Am 2.6.2018 auf dem Bundeskongress der Jungen Alternative für Deutschland. Verfügbar unter https://afdbundestag.de/vollstaendige-rede-dr-alexander-gaulands-vom-02-juni-2018/ [4.10.2021].

9»Lügenpresse« ist ein Begriff aus der 1848er-Revolution, der aus antisemitischen Ressentiments gegenüber den für Freiheit und Gleichheit Kämpfenden gebraucht wurde. »Lügenpresse« wurde in diesem antisemitischen Sinn später oft von den Nationalsozialisten verwendet, was die AfD bisher nicht daran hindert, den Begriff weiter einzusetzen (siehe auch den Eintrag »Lügenpresse« in Graf von Bernstorff 2020).

10Grundgesetz-Artikel 23 ist der sog. Beitrittsartikel für die Aufnahme anderer deutscher Länder in die BRD. Artikel 146: »Dieses Grundgesetz, das nach der Vollendung der Einheit und Freiheit für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.«

11Nach den gesetzlichen Vorgaben können Akten im Bereich des öffentlichen Rechtes erst 30 Jahre nach Auflösung der betreffenden Institution eingesehen werden.

12»Wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung mit den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ursachen und Folgen der Transformation [seit dem Mauerfall, Anm. d. Verf.]. In dieser Aufarbeitung müssen alle Erfahrungsräume Platz finden. […] Historische Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, Prägungen durch den Nationalsozialismus und den SED-Kommunismus, die fehlende Aufarbeitung von Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus und der Transformationsprozess seit 1990 gehören in der Analyse zusammen […] als eine gesamtdeutsche Geschichte […]. Bundesdeutsche und DDR-Geschichte, deutsche und europäische, europäische und globale Geschichte gehören zusammen […]. Das könnte gelingen« (Kowalczuk 2019, S. 214).

13Dieser wichtige und überaus kontrovers aufgenommene Text zur Treuhand wurde mir erst kurz vor Drucklegung dieses Textes hier bekannt.

Meine Biografie. Mein Leben. Mein Beitrag.

Anna Hoff und Ansgar Röhrbein

Politische Bildung und Biografiearbeit – eine geniale, weil aktivierende Verbindung

Das Leben ist politisch. Wir Menschen werden in politische Systeme hineingeboren, die unmittelbar Einfluss auf unser Dasein haben. Unsere medizinische Versorgung vom ersten Lebenstag an, unser Zugang zum Bildungssystem, die uns zur Verfügung stehenden Produkte im Supermarkt bis hin zur Frage, ob wir unsere gleichgeschlechtliche Partnerin heiraten dürfen oder nicht – das alles wird politisch verhandelt.

Was ist, wenn sich das politische System verändert? 1945 (von heute, 2020, aus gesehen vor 75 Jahren) endete die Diktatur des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland. Mit dem Ende des heißen Krieges begann der Kalte Krieg und damit eine Zweiteilung der deutschen Gesellschaft. Die Menschen im Osten der heutigen Bundesrepublik erlebten weitere 40 Jahre Diktatur, diesmal unter kommunistischen Vorzeichen. Seit, von heute aus gesehen, 30 Jahren ist das politische Fundament der gesamten Bundesrepublik nun demokratisch verankert. Wer demnach heute im Osten Deutschlands lebt, rund 80 oder 90 Jahre alt ist und sein Leben überwiegend am gleichen Ort verbracht hat, hat drei politische Systeme erlebt. Das prägt – nicht zuletzt durch unterschiedliche Bildungsansätze (vgl. Hepp 2013). Aber mindestens so wirkmächtig wie Gesellschaftsgeschichte ist die eigene Familiengeschichte.

Denn selbst wenn sich die politische Ordnung, in der Menschen miteinander leben, von heute auf morgen verändert, verändern sich nicht (automatisch) die Menschen (mit). Sie sind geprägt von den Geschichten ihrer Familien, von Glaubenssätzen und persönlichen Wertvorstellungen (vgl. Bode 2019).

Wie bewusst sind uns all diese Zusammenhänge?

Die Demokratie beschert dem einzelnen Menschen im Vergleich zu allen anderen politischen Systemen, die wir kennen, die größtmögliche Freiheit. In keinem anderen Gesellschaftssystem ist das Individuum in der Lage, eigenmächtiger und selbstwirksamer zu agieren. Und doch gibt es Menschen, die sich in unserem demokratischen System ohnmächtig fühlen, weil sie keine Gestaltungsräume sehen. Einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge war 2019 nicht mal die Hälfte der befragten Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mit der Demokratie zufrieden (Decker, Best, Fischer u. Küppers 2019). Sie stellen das System infrage, in dem sie demokratietheoretisch der oberste Souverän sind. Viele von ihnen nutzen keins der ihnen zur Verfügung stehenden demokratischen Instrumente: Wahlen, Petitionen, Demonstrationen, Sprechstunden der Abgeordneten im Wahlkreis. Viele Menschen erleben keinerlei gesellschaftspolitische Selbstwirksamkeit.

Alleine das politische System dafür verantwortlich zu machen und die Menschen, die dieses System aktiv gestalten, wäre verkürzt. Denn auf der anderen Seite stehen Bürgerinnen und Bürger, die ihre Gestaltungsspielräume sehr wohl sehen und wahrnehmen: 2018 sind über 13 000 Petitionen beim zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages eingegangen (vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/9900). Alleine in Berlin wurden 2019 mehr als 5350 Demonstrationen angemeldet (vgl. Tagesspiegel 26.12.2019). Die aktuellsten Erhebungen des Statistischen Bundesamts zur allgemeinen Bürgerbeteiligung zeigen, dass 2016 eine beziehungsweise einer von sechs Bürgerinnen und Bürgern eine Politikerin oder einen Politiker kontaktiert hat (vgl. Weßels 2018).

Was also unterscheidet die Ohnmächtigen von den Selbstwirksamen?

Man hört auf diese Frage zahlreiche Antworten. Denn das Zusammenwirken von Politik und Individuum ist hochkomplex. Wer verunsichert ist, erlebt sich möglicherweise eher als überfordert, sucht nach Orientierung und bleibt tendenziell eher passiv. Andererseits ist es wahrscheinlich, dass das Wissen über die eigenen Handlungsspielräume die Selbstwirksamkeit erhöht. Menschen brauchen Informationen über Politik und Gesellschaft, um mitzuwirken und sich ihre eigene Meinung zu bilden. Sie brauchen aber auch ein Bewusstsein dafür, dass sie als Teil des Systems elementar sind. Sie benötigen die Selbstgewissheit, dass sie relevant sind und durch aktives Handeln Dinge verändern können.

Wissen über Politik und Demokratie vermitteln in Deutschland die schulische und außerschulische politische Bildung. Ihre zentrale Aufgabe ist es, aus passiven Individuen partizipierende Bürgerinnen und Bürger zu machen.

»Ziel Politischer Bildung ist kritisches Bewusstsein, selbstständiges Urteil und politisches Engagement. Voraussetzung für demokratisches Engagement ist, dass dem Bürger die Zusammenhänge zwischen individuellem Schicksal und gesellschaftlichen Prozessen und Strukturen bewusst werden« (Drechsler, Neumann u. Hilligen 2003, »Statt eines Vorwortes«).

Die politische Bildung hat sich in den letzten Jahren stets weiterentwickelt. Sie nutzt alle ihr zur Verfügung stehenden Kanäle (Bücher, soziale Medien, Workshops, Unterrichtseinheiten etc.), um die Menschen zu erreichen. Sie ist in immer mehr Bereichen eine Querschnittsaufgabe (in der Sozialen Arbeit, in Unternehmen, in der Bundeswehr etc.) und dadurch zunehmend aufsuchend tätig. Politische Bildung versucht stets, die Betroffenheit des Einzelnen (»Was hat Politik mit mir ganz persönlich zu tun?«) zu wecken, aber ihre Methoden und Inhalte sind zielgruppenorientiert und weniger selbstreflexiv ausgerichtet. Ungestellt bleiben meist Fragen wie: »Wer bist du, welche Geschichte(n) hast du im Gepäck, und was kannst du ganz konkret in die Gesellschaft einbringen?« Dadurch bleibt Politik für viele häufig abstrakt und wird nicht Teil des persönlichen Bewusstseins.

Unserer Meinung nach ist es daher dringend nötig, Methoden der Selbsterfahrung in die politische Bildung zu integrieren. Die Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen (Familien-)Geschichte kann ein Schlüssel zur Gesellschaft sein und ins Handeln bringen. Denn: Wie soll ein Mensch ein gesellschaftliches System mittragen und mitgestalten, wenn er sich kaum zutraut, sein eigenes, ganz persönliches System zu gestalten? Wie soll ein Mensch gesamtgesellschaftliche Werte verteidigen, wenn er sich seiner eigenen wenig bewusst ist? Wie soll ein Mensch die Biografie eines anderen wertschätzen, wenn er mit seiner eigenen hadert?

Damit Menschen eher ins Handeln kommen, sollten sie sich ihrer Wünsche und Bedürfnisse bewusst sein. Wenn sie ihre Ressourcen und Stärken kennen, fällt es ihnen leichter, sich Verbündete und Gleichgesinnte zu suchen. Wenn sie wissen, auf welchem tragenden Fundament ihr Leben ruht und mit welchen Fähigkeiten sie ausgestattet sind, dann wächst das Zutrauen, etwas bewegen zu können. Mittel und Wege, sich dessen bewusst zu werden und eigenes Handeln zu initiieren, kennt die systemische ressourcenorientierte Biografiearbeit (vgl. Röhrbein 2019). Biografiearbeit ist eine sehr gute Möglichkeit, die Dinge zu sortieren und die eigene Position zu festigen. Sie kann dabei helfen, die eigenen Ressourcen zu erkennen und zu klären, wie sie genutzt werden können, um das künftige Leben gut zu gestalten. Hilfreiche Fragen können dabei lauten: »Was macht mich aus?«, »Welches sind meine Stärken?«, »Was will ich erreichen?« und »Wen habe ich (dabei) an meiner Seite?«

Um allerdings ins gesellschaftliche Handeln zu kommen, müssen Menschen womöglich noch einen Schritt weiter gehen: Sie sollten ihre Werte kennen, im besten Fall verstehen, wodurch diese Werte geprägt sind. Sie sollten eine Idee davon haben, in welcher Gesellschaft sie eigentlich leben möchten und die Instrumente überblicken, die sie nutzen können, um Gesellschaft mitzugestalten. Hier zeigt sich, dass die politische Bildung (Wissenserweiterung) und die systemische Biografiearbeit (sich seiner selbst bewusst zu sein) eine geniale, weil aktivierende Verbindung eingehen können.

Politische Bildung und systemische Biografiearbeit haben im Grundsatz vieles gemeinsam: Sie wollen den Menschen dabei unterstützen, sein eigenes Leben und Umfeld im eigenen Sinne zu gestalten.

Sie lenken den Blick auf Wechselwirkungen und Gesamtzusammenhänge. Sie arbeiten ressourcenorientiert und im besten Sinne des Wortes allparteilich (auf dem Boden des Grundgesetzes). Die Biografiearbeit kann darüber hinaus als Teil der politischen Bildung eine Leerstelle füllen: nämlich das Bewusstsein dafür schärfen, sich selbst als politisches Wesen innerhalb der Gesellschaft wahrzunehmen. Im Zusammenspiel der Disziplinen werden Menschen dazu eingeladen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und aktiv ins Geschehen einzugreifen, weil sie sich der eigenen Wurzeln, Werte und Stärken bewusster werden.

Das Workshopkonzept

Im Rahmen der Tagung »30 Jahre Mauerfall – Die Freiheit, die ich meine. Auf Spurensuche – zwischen Identität und Wandel«, einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen zum Jahrestag des Mauerfalls, hatten wir die Möglichkeit, einen ersten Testballon zu starten und 90 Minuten lang die sinnhafte Verknüpfung von Biografiearbeit und politischer Bildung vorzustellen.

Die drei konkreten Ziele des Workshops waren:

1)ganz grundsätzlich: der Omnipräsenz von Politik im Persönlichen Raum zu geben

2)die Teilnehmenden darin zu unterstützen, sich als Teil der Gesellschaft wahrzunehmen

3)gemeinsam mit den Teilnehmenden Ideen zu entwickeln, wie sie ins gesellschaftliche Handeln kommen können.

Bereits der Einstieg über die Methode der Landkarte (die Teilnehmenden verorten sich anhand einzelner Fragen, z. B.: »Wo bist du aufgewachsen?«, »Wo wohnst du heute?«, »Mit welchem Ort verbindest du einen persönlichen politischen Moment?«) zeigte, wie eng verknüpft die eigene Biografie mit politischen Ereignissen ist. Schnell wurden verbindende Erinnerungen und Gemeinschaftserfahrungen wach: »Da war ich auch dabei!« oder »Ja, das war echt unglaublich«. Kleine Anekdoten und berührende Erlebnisberichte führten zu einer großen »Dichte« und spannenden »Zeitreise«.

In einem weiteren Schritt positionierten sich die Teilnehmenden dann auf einer Skala von 0 bis 100, zu wie viel Prozent sie sich als »politisch« erleben, und begründeten ihren Standpunkt. Nach einem interessanten Austausch im Plenum wechselten wir in kleinere Einheiten.

Im Zweierinterview tauschten sich die Teilnehmenden schließlich darüber aus, wodurch ihre persönliche innere Landkarte geprägt worden ist und wie sie sich als Teil der Gesellschaft wahrnehmen und erleben. Zur Inspiration dienten dabei zunächst die folgenden Satzanfänge, die von den Dialogpartnerinnen und -partnern ergänzt werden sollten:

•»Im Verlaufe meiner bisherigen Biografie/meines bisherigen Lebens habe ich profitiert von …«

•»Meine Zufriedenheit/Mein Wohlgefühl steigt, wenn …«

•»Ich habe im Leben anderer Spuren hinterlassen durch …«

•»Als Teil unserer Gesellschaft kann ich darauf bauen, dass …«

Direkt anschließend setzten die Beteiligten das Gespräch anhand der folgenden Fragen weiter fort und entwickelten erste bzw. weitere konkrete Ideen für eigene Projekte:

•»In welchen Momenten in deinem Alltag fühlst du dich als (ein aktiver) Teil der Gesellschaft?«

•»Für wen spielst du eine wichtige Rolle im Leben? Was würde diese Person sagen, was es ohne dich nicht geben würde?«

•»Wo möchtest du in deinem Umfeld gerne Veränderung anstoßen? Welche zentrale Fähigkeit bringst du dafür mit? Und wen kannst du als Verbündete/-n dafür gewinnen?«

Im Plenum folgte eine längere Diskussion darüber, was genau unter »Politik« zu verstehen ist und wo die Grenze zwischen dem politischen und dem vorpolitischen Raum verläuft. Aus unserer Sicht war es ein weiterer wichtiger Aspekt des Workshops, diese Vielfalt der Einschätzungen stehen zu lassen und keine abschließende Antwort darauf zu finden, denn es existieren diesbezüglich (auch) in der Politikwissenschaft zahlreiche unterschiedliche Auffassungen. Im Rahmen unserer Arbeitseinheit war es uns ein zentrales Anliegen, den Beteiligten eine Auseinandersetzung mit der politischen Sphäre und das Sich-in-Beziehung-Setzen mit Gesellschaft zu ermöglichen. Wo bin ich betroffen? An welcher Stelle kann ich einen Unterschied machen? Was bringe ich dafür mit, und auf wen kann ich dabei vertrauen?

In einem letzten Schritt ging es in unserem Workshop noch einmal in Kleingruppen darum, konkrete Veränderungsszenarien zu entwerfen:

•»Welche Themen treiben dich aktuell um?«

•»Welchen Aspekt in deiner Umgebung kannst und willst du verändern?«

•»Welche Beteiligungsmöglichkeiten siehst du?«

•»Was kannst du gleich heute bzw. morgen, wenn du wieder zu Hause bist, konkret unternehmen?«

Bereichert durch zahlreiche berührende Geschichten, kritische Impulse, spannende Ideen, humorvolle Anekdoten und einer wahrgenommenen Verbundenheit in aller Unterschiedlichkeit, nahmen wir schließlich Abschied von zumeist zufriedenen Teilnehmenden und fühlten uns bestärkt in der Idee: »Davon geht noch mehr, denn es ergibt Sinn!«

Den Ansatz, systemische Biografiearbeit als Methode der politischen Bildung zu nutzen, um Menschen ins gesellschaftspolitische Handeln zu bringen, haben wir nicht erfunden. Er wird schon an vielen Stellen in der Praxis erfolgreich umgesetzt. Allerdings ist er in der Fläche noch wenig bekannt und bislang kaum beschrieben. Da wir dieser Verbindung zutrauen, einen Unterschied bilden und die Demokratie stärken zu können, möchten wir hier einen kleinen Beitrag leisten und dazu ermutigen, systemisches Denken noch stärker für gesamtgesellschaftliche Prozesse nutzbar zu machen (sei es in Form von Workshops, Einzelgesprächen, im schulischen wie außerschulischen Kontext u. v. a. m.).

In keinem anderen Gesellschaftssystem als der Demokratie ist das Individuum in der Lage, eigenmächtiger und selbstwirksamer zu agieren. Wir dürfen die Menschen dazu einladen, ihre Handlungsspielräume noch intensiver zu nutzen.

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