Kitabı oku: «Was bildet ihr uns ein?», sayfa 4

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Deutschland in der Grauzone

Schaut man in andere europäische Länder, so findet man Beispiele, in denen es schon Schulsysteme gibt, die keine Selektion zwischen Schülern mit und ohne Beeinträchtigung vornehmen. Die skandinavischen Länder haben in diesem Bereich eine Vorreiterrolle, beispielsweise Norwegen. Dort gehen seit den 1990er-Jahren alle Kinder gemeinsam zur Schule. Allerdings gibt es an einigen Schulen noch Förderklassen. Diese besuchten im Schuljahr 2001/2002 lediglich 1349 Schüler. Eine Ausgrenzung von Menschen mit Beeinträchtigungen fand offensichtlich nur in absoluten Ausnahmefellen statt.

Auch wenn sich das inklusive Schulsystem dort noch nicht vollständig durchsetzen konnte – in den vergangenen Jahren ist die Zahl der Sonderschüler wieder angestiegen – , ist man von Zahlen, wie sie für Deutschland vorliegen, weit entfernt.44

Norwegen kann Deutschland deshalb als Vorbild dienen. Denn dort spiegelt sich das Ergebnis des Schweizer Professors wider: Auch hier hat die Schule für alle dazu geführt, dass Schüler mit Beeinträchtigung häufiger einen Schulabschluss bekommen und zudem leichter den Zugang zur Fachhochschule oder Universität schaffen. Auch das integrative Schulsystem der USA zeigt diese Entwicklung.45

Deutschland hingegen hat sich noch nicht klar für ein System entschieden. Wie man dem Bericht der Kultusministerkonferenz entnehmen kann, steigen die Zahlen der sogenannten Integrationsschüler, also der Schüler mit Förderbedarf, die eine Regelschule besuchen. Im Schuljahr 2007/2008 waren es fast 85.000 Jungen und Mädchen46, zwei Jahre später noch einmal 12.000 mehr47. Hierbei gibt es aber starke Unterschiede zwischen den Bundesländern. So hat das Bundesland Bremen beispielsweise schon eine Integrationsquote von 45 Prozent, wehrend sich Niedersachsen vom herkömmlichen Sonderschulsystem kaum entfernt hat. Seine Integrationsquote liegt bei 5 Prozent.48 So gilt für Deutschland: Der Großteil der Förderschüler wird weiterhin an separaten Schulen unterrichtet.

Das Märchen von einheitlichen Lerngruppen

Dass in Deutschland in einigen Bundesländern noch so stark an den Förderschulen festgehalten wird, liegt u.a. an einer falschen Annahme, auf der das gesamte deutsche Schulsystem aufbaut: Dass Schüler in einheitlichen Lerngruppen optimal lernen können. Dieser Sicht zufolge haben Schüler, die dieselbe Schulart besuchen, auch die gleichen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Schwierigkeiten. Sie können auch die gleichen Sachverhalte in derselben Geschwindigkeit lernen und verstehen. Nur aufgrund dieser Annahme hat die Aufteilung auf verschiedene Schulen Sinn.

Dies ist aber nicht nur in Bezug auf Menschen mit Beeinträchtigungen eine irrige Annahme. Auch auf andere Klassen, die vermeintlich „gleich gut“ sind, trifft sie nicht zu.

Das zeigt sich daran, dass sich Gruppen, egal ob dort die vermeintlich „Besten“ oder „Schlechtesten“ lernen, erneut sortieren und es auch hier wieder „Bessere“ und „Schlechtere“ gibt. Diese Annahme unterstreicht auch, wie sehr unser Schulsystem auf dem Vergleichen von Menschen untereinander aufgebaut ist und nicht die eigene, persönliche und individuelle Entwicklung gesehen und betrachtet wird.

Es kann nie eine Gruppe von Menschen geben, die auf die gleiche Art und Weise in der gleichen Geschwindigkeit lernt und sich weiterentwickelt. Die allseits anerkannten Normen, die festlegen, in welchem Alter man welche Menge an Wissen gesammelt haben muss, erscheinen aus diesem Grund sinnlos und unmöglich einzuhalten.

Die Annahme der homogenen Lerngruppe hat aber zur Folge, dass man nur bei vermeintlich Schwächeren oder Beeinträchtigten davon ausgeht, dass sie individuelle Förderung benötigen. Vielmehr ist es aber so, dass die Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit aller Menschen eine individuelle Förderung und Bildung jedes Einzelnen notwendig macht. Wünschenswert wäre daher, dass in jeder Lerngruppe auf individuelle Bedürfnisse eingegangen wird, so dass sich jeder Mensch bestmöglich entwickeln kann.

Schule und Bildung neu denken

2006 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) eine Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedet. Darin steht unter anderem, dass Menschen mit Beeinträchtigung nicht vom allgemeinen Schulsystem ausgeschlossen werden dürfen. Der entscheidende Punkt wird allerdings im ersten Abschnitt des 24. Artikels gemacht. Dort heißt es: „States Parties recognize the right of persons with disabilities to education. With a view to realizing the right without discrimination and on the basis of equal opportunity, States Parties shall ensure an inclusive education system at all levels and life long learning […].”49 Die UN schreibt in ihrer Konvention also ein sogenanntes inklusives Schulsystem vor. Dies bedeutet, dass Schule und andere Bildungseinrichtungen neu gedacht werden müssen. Denn eine inklusive Schule zeichnet sich besonders durch eine Grundeinstellung aus, die die Individualität jedes Menschen in den Mittelpunkt stellt. Jan-Åke Klasson von der Universität Göteborg hat dazu treffend formuliert: „Inclusion is not about organization, it’s about attitude.“50 Bei Inklusion geht es folglich in erster Linie um die Einstellung den Menschen gegenüber. Für Kinder mit Beeinträchtigung heißt das, dass sie genauso wie alle anderen Jungen und Mädchen einzigartig sind und nicht auf einer separaten Schule lernen müssen.

Auch Deutschland hat dieses Übereinkommen unterstützt und ratifiziert. Allerdings wurde das Wort „inclusive“ mit „integrativ“ übersetzt. Das ist nicht nur ein Übersetzungsfehler, sondern stellt tatsächlich eine inhaltliche Veränderung der Konvention dar.

Anfang der 1990er-Jahre wurde auf einer Konferenz der UNESCO erstmals bewusst das Wort „inclusion“ statt „integration“ verwendet.51 Damit wurde das Schulkonzept der Inklusion ins Zentrum gerückt. Diese entwickelte sich zwar aus dem pädagogischen Konzept der Integration, der entscheidende Unterschied ist aber die Grundeinstellung: dass jeder Mensch einzigartig ist und individuelle Bedürfnisse hat. Durch die Integration in eine Gruppe hingegen, wie es das deutsche Gesetz vorschreibt, wird lediglich eine Gruppe in eine andere Gruppe eingegliedert – also in diesem Fall die Personen mit Beeinträchtigungen in die der „normal“ Lernenden. Es gibt also ein bestehendes System, in das die Personen, die vormals nicht zu diesem System gehörten, integriert werden. Die Einstellung verändert sich also nicht; stattdessen werden zur Integration Schulbegleiter eingesetzt, die die Lernenden den ganzen Tag oder zumindest abschnittsweise in der „normalen“ Schule begleiten. Ein inklusives System zu schaffen, würde hingegen bedeuten, Schule und andere Bildungseinrichtungen vollkommen neu zu denken. Dabei müsste man von vornherein davon ausgehen, dass alle Menschen in diesem System ihren Platz haben. Anders gesagt: Es gebe dann barrierefreie Schulen – und damit sind nicht nur die Gebäude gemeint: In diesem Konzept müssten unterschiedlich qualifizierte Menschen gemeinsam arbeiten, damit allen Schülern die für sie bestmögliche Entwicklung ermöglicht wird. Also bedürfte es eines anderen pädagogischen Teams in der Schule. Entsprechend müsste das Thema Inklusion zu einem festen Bestandteil des Lehramtsstudiums werden. Wichtig dabei wäre auch, dass methodisch-didaktisch eine andere Unterrichtsform stattfindet: Der Frontalunterricht, in dem alle Kinder an der gleichen Aufgabe mit dem gleichen Schwierigkeitsgrad arbeiten, ist für eine inklusive Schule nicht geeignet. Es muss vielmehr auf die Bedürfnisse der einzelnen Schüler eingegangen und im Hinblick auf Schwierigkeit und Geschwindigkeit innerhalb einer Schulklasse differenziert werden. Nicht die Schüler müssen sich der Schule anpassen, sondern die Schule muss sich nach ihren Bedürfnissen richten und sich auf sie einstellen.

Die Übersetzung von Inklusion durch Integration zeigt jedoch, dass man in Deutschland nicht bereit ist, Vielfalt als etwas Selbstverständliches und Bereicherndes zu begreifen und Menschen nicht in Gruppen einzuteilen. Stattdessen schafft man sich mit der ungenauen Übersetzung eine Hintertür, um öffentlich sein Gesicht zu wahren – denn schließlich will man auch nicht das Land sein, das solch eine Konvention nicht unterschrieben hat.

Solange wir also noch Menschen mit Beeinträchtigungen als die „Anderen“, die „Hilfsbedürftigen“ sehen und davon ausgehen, dass diese Menschen grundsätzlich anders sind als der Rest der Gesellschaft, wird sich an den Organisationsformen von Schule und Bildung und damit auch in der Gesellschaft nichts ändern. Da hilft auch nicht der Artikel 8 der UN-Konvention52, der mit dem Titel „Bewusstseinsbildung“ überschrieben ist und die Verpflichtung der Staaten beschreibt, Vorurteile, Klischees und Stereotypen in der Gesellschaft abzubauen und durch öffentlichkeitswirksame Kampagnen für die Akzeptanz von Unterschiedlichkeit zu werben.

Mit der jetzigen Einstellung in Deutschland, dass beeinträchtigte Menschen in erster Linie Hilfe und Pflege bedürfen, verfestigt Deutschland die Vorurteile, die sich so in der Gesellschaft halten können.

Nur die Integration von Menschen mit Beeinträchtigung in Schulen zu fordern, reicht also nicht aus. Wir brauchen einen neuen, einen veränderten Leistungsbegriff, der individuelle Leistungen und Fähigkeiten anerkennt und nicht nur auf dem Vergleich mit anderen Menschen aufbaut, und eine daraus resultierende andere Lern- und Bildungskultur.

Denn bei Inklusion geht es um mehr als nur die Möglichkeit, eine Regelschule zu besuchen. Es ist die positive Haltung einer Gesellschaft gegenüber Vielfalt und Unterschiedlichkeit.

Gerade durch die UN-Konvention bietet sich die Gelegenheit, ein Schul- und Bildungssystem mit einer solchen Grundlage auch in Deutschland endlich durchzusetzen. Es sind bereits fünf Jahre seit der Konvention vergangen – wir sollten nicht noch mehr Zeit verstreichen lassen und endlich begreifen, dass wir alle anders sind.


Wenn der Migrationshintergrund zum Vordergrund wird
Özlem Ipiv, Elisabeth Leuthardt und Susanne Julia Czaja


Voller Vorfreude und Erwartung ist die Drittklässlerin – denn heute ist Karneval. Bis spät in den Abend hatte sie ihrer Mutter haarklein erklärt, wie das Kostüm aussehen soll. Und bis in die Nacht hatte die Mutter daran genäht. Nun ist es fertig und das kleine Mädchen gespannt, wie ihre Klassenkameraden darauf reagieren werden. Mit ihrem roten langen Rock, der weißen Schürze, der roten Kopfbedeckung und dem üppig gefüllten Korb läuft sie zur Schule. Sie betritt den Klassenraum und begrüßt zunächst mit strahlenden Augen ihre Klassenlehrerin. „Ach!“, sagt die Lehrerin, „Lass mich raten! Du bist heute ein polnisches Trachten-Mädchen, ja?“. Der Satz lässt ihre Freude in Wut und Trauer umschlagen: „Nein“, rief das Mädchen mit tränengefüllten Augen und dreht sich um. Sie wollte doch einfach nur Rotkäppchen sein.

Sie sind in Deutschland geboren, haben einen deutschen Pass und doch schmückt sie ein Wort, das sie von anderen Jugendlichen unterscheidet: der Migrationshintergrund. Es ist ein Anhängsel, durch das deutlich wird, dass zumindest ein Elternteil oder die Großeltern nicht in Deutschland geboren sind. Das trifft auf etwa jeden fünften Schüler zu, und schon längst müsste die Worterfindung Migrationsvordergrund heißen. Denn ihre vermeintliche Herkunft ist nichts, was sich in ihrem Schulalltag verbirgt. Sie steht im Zentrum, und nicht selten werden die Jugendlichen aufgrund derselben bewertet. Oft werden sie mit Bildern wie Schulabbrecher, Schulschwänzer, Sitzenbleiber und Hauptschüler assoziiert – im besten Fall noch mit dem Realschüler. Ein Schüler mit Migrationshintergrund auf einem Gymnasium gilt als vielgesuchte Ausnahme.53

So werden sie als Verlierer des deutschen Bildungssystems gesehen, wobei selbst das fast schon eine positive Bezeichnung ist. Denn verlieren kann bekanntlich nur, wer um etwas kämpft und selbst das wird ihnen abgesprochen.

Ins Abseits gedrängt

Die PISA-Studie hat zumindest die politische Debatte über Jugendliche mit Migrationshintergrund verändert. Denn bis zur Veröffentlichung dieser Ergebnisse gab es kaum Zahlen über diese Schülergruppe. Sie wurde schlicht nicht explizit erfasst. Nichtsdestotrotz herrschte aber die gängige Meinung, die Ursache für ihr schlechtes Abschneiden wäre bei ihnen selbst zu suchen, zumal ihr familiärer und kultureller Hintergrund den Ansprüchen der hiesigen Bildungslandschaft nicht entspreche. Man war gar der Auffassung, dass ihr Hintergrund sie an ihrem Bildungserfolg hemmen würde, denn ihre Herkunftskultur und ihrer Muttersprache galten als rückständig. Selbst wissenschaftliche Erklärungen, die die unterschiedlichen Bildungserfolge von einheimischen Kindern und Kindern mit Migrationshintergrund untersuchten, stützten sich lange Jahre auf diese Erklärungsversuche. Und so waren die Schüler selbst gebrandmarkt und galten schlicht als bildungsunfähig.

Die Ergebnisse der PISA-Studien führten allerdings ein anderes Bild vor Augen: Das deutsche Bildungssystem ist selektiv und fängt schwächere Schüler nicht auf. So ist nicht primär der kulturelle Hintergrund, sondern vielmehr die Schichtzugehörigkeit entscheidend für einen erfolgreichen Bildungsabschluss. Die Schulen sind also nicht in der Lage, Kinder aus sozial schwächeren Familien entsprechend zu fördern und sie zu einem erfolgreichen Schulabschluss zu begleiten. Zudem verdeutlichte der internationale Vergleich, dass in keinem anderen Land die soziale Schichtzugehörigkeit so eng mit dem Bildungserfolg verknüpft ist wie in Deutschland. Und Schüler mit Migrationshintergrund sind der PISA-Studie zufolge am stärksten von diesen Selektionsprozessen betroffen, denn ihre Leistungen weichen im OECD-Vergleich deutlich von Schülern ohne Migrationshintergrund ab.

Die Sozialisation der Jugendlichen wirkt sich dementsprechend direkt auf den jeweiligen Bildungserfolg aus. Außerdem zeigt der Vergleich, dass es allen voran den skandinavischen Ländern, deutlich besser gelingt, Schüler unterschiedlichster Herkünfte einzubinden.

Die Erziehungswissenschaftler Mechthild Gomolla und Frank-Olaf Radtke zeigen mit ihren Studien zusätzlich auf, dass die Schulstrukturen in Deutschland Schüler mit Migrationshintergrund sogar aktiv ins Abseits drängen. Dies zeigt sich bereits beim ersten Übergang vom Kindergarten in die Grundschule: Von den etwa 11 Prozent, die in Deutschland vor dem ersten Schulbesuch um ein Jahr zurückgestellt werden, machen den größten Teil Kinder mit Migrationshintergrund aus. Sie bekommen also öfter als deutsche Kinder eine sogenannte „Schulunreife“ attestiert.54 Insbesondere Schulen ohne separate Auffang- oder Förderklassen für Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen greifen auf diese Maßnahme zurück. Mangelnde Deutschkenntnisse dienen hier als Signal für mögliche Probleme, die das Kind haben könnte. Eine der von den Bildungsforschern Gomolla und Ratcke interviewten Schulleiterinnen kommentierte diese Praxis mit der Aussage: „Mangelnde Sprachkenntnisse gehen oft Hand in Hand mit anderen Schwierigkeiten, die das Kind noch hat.“55

Die Entscheidung, ein Kind einzuschulen oder zunächst in einen Schulkindergarten zu schicken, wird also aufgrund von Vermutungen entschieden. Die Verantwortlichen bedienen sich öffentlicher Vorurteilen und negativer Bildern aus den Medien und stellen sich so eine Umwelt vor, die den Kindern optimale Lernbedingungen verwehren. Hinzu kommen noch einzelne Kalküle der Schulen selbst, die aufgrund ihrer verfügbaren Kapazitäten entsprechende Entscheidungen treffen. Das heißt, neben der Selektion aufgrund der zur Verfügung stehenden Plätze für Schüler nach beispielsweise dem Wohnsitz in der jeweiligen Stadt stellen die Schulen ebenfalls interne Quoten für bestimmte Schülergruppen nach kulturellem Hintergrund auf, um keinen „Imageverlust“ zu erleiden oder ihre Attraktivität für „einheimische“ Schüler und Eltern zu verlieren. Für die Schüler bedeutet dies, dass sie bereits in jungen Jahren erfahren müssen, dass sie nicht der Norm entsprechen und – anders als Gleichaltrige – noch nicht „schulreif “ sind. Hierbei verzögert sich nicht einfach nur die Schullaufbahn, sondern es sind die ersten Erfahrungen mit institutioneller Ablehnung. Es scheint kein Zufall zu sein, dass gerade jene Kinder, die diese Form der Zurückweisung erlebt haben, im Verlauf ihrer Bildungskarriere zu den Leistungsschwächeren zählen werden.56 Und offenbar tritt genau das ein, wovor sie bewahrt werden sollten. Es bedarf keiner Statistik, um sich vorzustellen, was für Auswirkungen eine so frühe Erfahrung des „Versagens“ auf das Selbstbild der Kinder haben kann. Wie muss es sich wohl für ein Kind anfühlen, nicht das tun zu können, was die gleichaltrigen Freunde ganz selbstverständlich dürfen. Vor allem: Wie erklärt man den Freunden, warum man trotz Einschulung wieder im Schulkindergarten ist? Die Antworten, die Kinder dann geben müssen, machen Stigmatisierungserfahrungen nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich.

Doch nicht nur beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule laufen Mädchen und Jungen mit Zuwanderungsgeschichte Gefahr, von einem „regulären“ Schulverlauf abgedrängt zu werden. Auch wehrend der Grundschulphase sind sie deutlich häufiger von Überweisungen auf Förderschulen und dem Sitzenbleiben betroffen. Denn: Sowohl von Schülern mit als auch ohne Migrationshintergrund werden dieselben Leistungen erwartet. Wenn diese zum Zeitpunkt der Versetzungs- oder Übergangsentscheidung nicht bestehen, droht eine Klassenwiederholung oder gar die Überweisung auf die Förderschule. Dabei wird übersehen, dass Schüler mit einer anderen Herkunftssprache nicht nur das schulische Lernziel erreichen, sondern zugleich auch Deutsch als Zweitsprache erlernen müssen. Die Professorin Kerstin Merz-Atalik geht daher davon aus, dass diese Kinder oft sogar die doppelte Leistung erbringen müssen.57

Ein Trichter mit gefährlich engem Hals

Schaut man sich auch den Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe an, so wird einmal mehr deutlich, wie selektiv das deutsche Bildungssystem ist. In der Bildungsforschung spricht man von einem „Bildungstrichter“, der mit jedem Bildungsübergang enger wird. Wehrend noch alle Kinder die Grundschule besuchen, wird bereits mit dem Eintritt in die Sekundarschule der Hals des Trichters zunehmend enger und lässt bis zum Studium nur eine Minderheit durch. Doch der Trichter ist nicht für alle Gruppen gleich eng. So besuchen Jugendliche mit Migrationshintergrund Hauptschulen doppelt so häufig wie deutsche Kinder.58 Und schließen daher auch öfter als andere Gleichaltrige mit einem Hauptschulabschluss ab, für 4,4 Prozent endet die Schulkarriere sogar ohne Abschluss.59

Auf Realschulen und Gymnasien ist diese Schülergruppe kaum anzutreffen.60 Denn die Empfehlung für diese Schultypen erhalten Schüler mit Migrationshintergrund selbst bei guten Noten eher selten. Die Begründung: Perfekte Deutschkenntnisse seien für einen Schulerfolg auf dem Gymnasium unerlässlich und an den Sekundarschulen mangele es an Sprachfördermöglichkeiten.61 Hier geht man bewusst davon aus, dass selbst bei guten Leistungen die Zweisprachigkeit der Schüler bei einem Gymnasialbesuch hinderlich sein werde. Um die Kinder vor diesen „negativen Erfahrungen“ zu „bewahren“, wie Lehrer aus Nordrhein-Westfalen in einer Studie von Gomolla und Radke angaben, werden die Übertrittsempfehlungen seltener ausgestellt als bei deutschen Schülern. Dass dieser Fall selbst dann eintritt, wenn beide Schülergruppen dieselben Noten und die gleiche soziale Herkunft aufweisen, konnten mehrere Studien bereits anschaulich belegen.62 Man nimmt außerdem an, dass die Eltern der Kinder mit Migrationshintergrund nicht in der Lage sind, ihre Kinder entsprechend zu unterstützen, so dass hier Vorurteile die Entscheidungen der Lehrer bestärken. Entscheidungen werden auch strategisch umgangen, indem die Gesamtschule von vorneherein als die Schule für Kinder mit Migrationshintergrund dargestellt wird.

Es wird also mit zweierlei Maß gemessen. Denn man übersieht systematisch, dass gerade Kinder aus einem anderssprachigen Haushalt wesentlich mehr leisten müssen, um dieselben Noten wie ihre muttersprachlichen Mitschüler zu erlangen. Denn Sachverhalte nicht in der Erstsprache aufzunehmen und darin zu arbeiten, erfordert hohe Anstrengung. Diese hohe Leistungsbereitschaft verwundert dabei nicht, denn Schüler mit Migrationshintergrund weisen, so wissen wir seit PISA, neben einer höheren Lernmotivation auch einen stärkeren Bildungswunsch auf als Nichtmigranten.63 Umso erschreckender ist die Tatsache, dass ihr Bildungsweg von Anfang an einem Wettrennen gleicht, bei dem schon vor Beginn feststeht, wer der Verlierer sein wird.

Gerade die Forderung nach „perfekten Deutschkenntnissen“ der Gymnasien ist höchst problematisch. Denn was genau versteht man unter „perfekten“ Deutschkenntnissen? Hier besteht die Gefahr, vor allem aufgrund des Migrationshintergrundes auszusieben. Denn wehrend beispielsweise Schülern mit einer Lese-Rechtschreibschwäche „bei angemessener Gesamtleistung“64 der Gymnasialbesuch ermöglicht werden soll, werden – vorhandene oder angenommene – Sprachprobleme bei Kindern mit Zuwanderungsgeschichte als Hindernis betrachtet. Dabei verliert man auch aus dem Blick, dass Rechtschreib- und Grammatikfehler deutschen Schülern ebenso unterlaufen können wie Schülern mit einem Migrationshintergrund. In diesem Fall würde jedoch kaum jemand sprachliche Mängel aufgrund der Herkunft attestieren.

Eines ist deutlich: Die fehlenden Sprachkenntnisse finden sich als Erklärungsmuster bei allen Übergengen vom Kindergarten bis zum Übergang in die Sekundarstufe I oder II wieder. Obwohl uns PISA eines besseren belehrt hat, werden ungleiche Bildungschancen selbst in der Wissenschaft noch immer als Folge fehlender Sprachkompetenzen von Migranten betrachtet und somit die Ursache vor allem bei ihnen und nicht im System gesucht.65

Deutschland muss endlich aktiv anfangen, sich als Einwanderungsland zu verstehen, denn das ist es bereits seit Jahrzehnten. So gehört der Umgang mit Mehrsprachigkeit und deren Vermittlung zu den Aufgaben, denen sich unsere Gesellschaft stellen muss, um Minderheiten sprachlich auf den Alltag in Schule und Beruf vorzubereiten und vor allem auch, um ihre soziale Integration zu unterstützen.

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