Kitabı oku: «Zehn Jahre nach Oscar Cullmanns Tod: Rückblick und Ausblick», sayfa 2

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Martin Sallmann

Forschungsdesiderata aufgrund der Quellenlage im Nachlass Oscar Cullmanns

Leben und Werk sowie die Rezeption Oscar Cullmanns sind nach wie vor wenig erforscht. Nachdem der Nachlass 2009 an die Universitätsbib­lio­thek in Basel überführt worden ist, liegt jetzt ein reichhaltiges, gut geord­netes Archiv für die Erforschung bereit.39 Die Vielfalt des Nachlasses eröffnet un­ter­schiedliche Zugänge zum Cullmann-Archiv. Je nach Fragestellung wird der Zugriff variieren. Denkbar sind Gesichtspunkte, die sich an der Biografie, an behandelten Themen, publizierten Werken oder an bestimmten Quel­len­gattungen orientieren. Im Folgenden versuche ich in fünf Punkten ver­schie­dene Zugänge zum Nachlass aufzuzeigen. Damit sind drei Ziele anvisiert: Zum einen soll ein Eindruck von der Fülle, aber auch von den Konturen des Archivs entstehen. Zum anderen sollen durch Beispiele entle­gene Facetten und Eigenarten des Nachlasses sichtbar werden. Und schliess­lich sollen mög­liche Forschungsprojekte oder Fragestellungen zur Sprache kommen.

I. Biografischer Zugang: Familie, Kindheit, Jugend

Oscar Cullmann stammte aus einer kleinbürgerlichen Familie.40 Sein Vater war Lehrer an der Volksschule. 1902 geboren, wuchs Oscar als Jüngster |24| von neun Geschwistern im zunächst deutschen, nach dem Ersten Weltkrieg wie­der französischen Strassburg auf, wo er das Protestantische Gymnasium besuchte.

In welchem Milieu wuchs Oscar auf? Wer waren seine Eltern? Wie lebte die Familie? In welcher gesellschaftlichen Umgebung bewegten sich die Cullmanns? In welchen Bildungstraditionen wurde Oscar geschult? In wel­che Frömmigkeit wurde er im Elternhaus eingeführt? Und welche Kirchlich­keit begegnete ihm mit der Lutherischen Kirche? Gerne wüsste man mehr über die Kindheit und Jugend Oscar Cullmanns. Die vorliegenden autobio­grafischen Rückblicke aus den Jahren 1960 und 1993 sind für diese Zeit wenig ergiebig.41 Obwohl die Quellen für die frühe Lebenszeit im Vergleich zu den späteren Lebensphasen spärlicher fliessen, enthält das Archiv diverse Unterlagen, die hilfreiche Einblicke erlauben. So gibt es beispielsweise genea­lo­gische Materialien, die Cullmann zu den Familien väterlicherseits und müt­terlicherseits zusammengetragen hatte.42 Auch über die Geschwister existie­ren eigene, zum Teil ausführliche Dossiers.43 Aus der Kindheit stam­men ein Ferientagebuch oder Weihnachtsgedichte für die Eltern.44 Ein Heft mit Auf­zeich­nungen |25| über einzelne Familienmitglieder hatte Oscar zusam­men mit einem Schulfreund 1916 erstellt.45 Für die Schulzeit sind alle Zeug­nisse und einige Arbeiten aus der Zeit am Gymnasium vorhanden.46 Viele Fotografien, die teilweise im Einzelnen beschrieben sind, finden sich an unterschiedlichen Orten im Archiv.47

Cullmann hielt zeitlebens an seinen Strassburger Wurzeln im Elsass fest. In gleicher Weise galt das auch für seine lutherische Heimatkirche, der er verbunden blieb. 1989 korrigierte er John Neuhaus in einem Brief umgehend, da dieser ihn in einem Aufsatz als «a Swiss Protestant» bezeichnet hatte. Er sei aus Strassburg und Mitglied der elsässischen lutherischen Kirche.48 Auf­schlussreich wäre ausserdem, welche Bilder Cullmann von der eigenen Familie und der eigenen Herkunft übernommen und weitergetragen hat. Ha­ben alle Geschwister das Bild der eigenen Familie geteilt oder gab es unter­schiedliche Auffassungen? Wichtig wäre hier eine weitergehende Ein­ord­nung der Familie Cullmann in den historischen Kontext. Das Archiv kann dazu einzelne farbige Mosaiksteine liefern. Selbstverständlich wären weitere biogra­fische Zugriffe denkbar, zum Beispiel die Berufung nach Basel,49 die bewegte Zeit als Rektor50 oder die zahlreichen Ehrungen.51

II. Institutioneller Zugang: Thomasstift und Alumneum

Überblickt man die Biografie Cullmanns, deckt das Leben im Thomas­stift in Strassburg und im Theologischen Alumneum in Basel mit 43 Jahren einen beachtlichen Teil der Lebenszeit ab und umfasst nahezu die gesamte Zeit aktiver Lehrtätigkeit. Selber zuvor als Student im Thomasstift, wurde er 1926 mit der Leitung betraut, die er bis zu seinem Weggang nach Basel 1938 innehatte. Es gibt einige wenige Unterlagen mit einem direkten Bezug zum Tho­masstift. Vorhanden sind unter anderem die Ernennungsurkunde aus |26| dem Jahr 1926, ein Brief mit den Gehaltsvereinbarungen von Anfang 1927 oder ein Antrag der Stiftsbewohner an «les Messieurs les Membres de l’Epho­rat», der einen freien Arbeitstag für die Zimmermädchen am Sonntag vorsah. Über den Ausgang dieser Petition ist nichts bekannt.52 Nicht zuletzt wegen dieser Erfahrungen im Thomasstift wurde Cullmann in Basel 1941 zum Vorsteher des Theologischen Alumneums gewählt, das er bis zu seinem Ausscheiden als Professor an der Universität Basel 1972 leitete.53 Im Archiv gibt es ein Dossier mit Quellen zum Theologischen Alumneum, die zusam­men mit den Archivalien des Theologischen Alumneums im Staatsarchiv Basel ausgewertet werden müssten.54

Das Leben im Alumneum war nicht allein für die Studenten prägend, sondern auch für den Vorsteher. Dem Hausvater, wie der Vorsteher auch genannt wurde, oblagen bestimmte Aufgaben. Cullmann, der selbst nicht ordiniert war und nur selten in öffentlichen Gottesdiensten predigte, hielt im Theologischen Alumneum regelmässig Hausandachten. Schon aus dem Tho­masstift sind zwei Weihnachtsansprachen überliefert.55 Für das Theologische Alumneum sind ungefähr 230 Andachten aus den Jahren 1943 bis 1961 vor­handen, die in einer lectio continua Auslegungen zur Apostelgeschichte, zum Matthäusevangelium, zu einigen Stellen aus dem Markusevangelium sowie zu 1. Korintherbrief, 1. Johannesbrief und den zwei Thessalonicherbriefen enthalten.56 Die Andachten folgten einer festen Ordnung: Lied, Lesung, Ausle­gung, Gebet, Lied. Die Manuskripte, meist auf A5-Blättern hand­schrift­lich notiert, umfassen am Anfang die Nummern der Liedstrophen, die An­gabe der Textlesung, die vollständig ausgeschriebene Auslegung und am Schluss ein Gebet.57 Die Manuskripte zeigen den Exegeten in erster Linie als Homileten. Der Vergleich zwischen Vorlesung und Andacht wäre reizvoll. Gibt es Unterschiede? Wenn ja – welche? Die Andachten zeigen zudem |27| Cullmann als betenden Lehrer. Formulierte er die Gebete selbständig oder lehnte er sich an gängige Liturgien an?

Zum Leben im Alumneum gehörten Ausflüge und Feste der Studen­ten.58 Cull­mann hat auch dafür Andachten und Ansprachen gehalten. Zum 100-Jahre-Jubi­läum des neu eröffneten Alumneums 1944 beispielsweise hielt er sowohl eine An­dacht als auch Ansprachen beim akademischen Festakt.59 Der 80. Geburtstag des Basler Kirchenhistorikers und Vorgängers, Eberhard Vischer, wurde im Alumneum 1945 gefeiert.60 Vischer war als Mit­glied der Kommission dem Hause verbunden. Die Geburtstagsfeier einer grosszügigen Gönnerin fand ebenfalls im Alumneum statt.61 Allerdings stellte sich Cull­mann auch schweren Situationen und hielt die Traueran­spra­che bei der Beerdigung eines Alumnen oder bei der erwähnten Mäzenin.62

Das Alumneum sollte auch ein Hort der Wissenschaft sein. Nach dem Krieg fand 1946 die erste der früher traditionellen Begegnungen der Theo­logischen Fakultäten Strassburgs und Basels im Alumneum statt. Cullmann hielt eine Grussadresse an die Kollegen und überreichte eine Veröffentli­chung, die zum Jubiläum des Alumneums 1944 erschienen war.63 Kollegen der Universität Basel lud Cullmann zu Vorträgen an die Hebelstrasse ein, bei­spielsweise 1948, als er über «Eindrücke vom Christentum Roms» sprach.64 Im Amt des Rektors wurde auch die 50-Jahr-Feier der Basler Studenten­schaft 1968 im Alumneum gefeiert.65

Gerne unterstrich Cullmann den familiären Charakter des Alumneums. 1948 sprach er vor Freunden des Theologischen Alumneums über das Leben und die Bedürfnisse des Studentenhauses.66 An einer Weihnachtsfeier des Alum­neums mit Mitgliedern der Kommission 1950 betonte er den infor­mellen, familiären Rahmen der Feier.67 Auch an einer folgenden Weihnachts­feier |28| wies er auf den persönlichen Charakter der Alumneumsgemeinschaft hin.68 Ähnliche Äusserungen gibt es bereits für die Zeit im Thomasstift.69

Auch die grossen persönlichen Feste fanden im Alumneum statt: 1951 wurde Cullmann zum Chevalier de la Légion d’honneur und 1962 zum Officier de la Légion d’honneur ernannt. Die Übergabe der Insignien und die Feiern wurden bei diesen Gelegenheiten jeweils im Garten des Alumneums in Ge­genwart von illustren Gesellschaften gehalten.70 Auch die Abschieds- und die Geburtstagsfeier 1972 waren mit dem Alumneum verbunden.71 Aus Anlass der Feier seines 50. Geburtstags äus­serte sich Cullmann zur engen Verbin­dung seines Lebens mit dem Alumneum: «Im­mer wieder tritt ja die Frage an mich heran, ob ich nicht nach Paris übersiedeln solle, aber immer ist es vor allem der Gedanke an das Alumneum, der mich zurückhält.»72 Noch 1982 anlässlich einer Dankesrede zum 80. Geburtstag im französischen Kon­sulat Basel nannte Cullmann das Alumneum in einem Zug mit der Uni­versität, wel­che die ausschlaggebende Rolle gespielt hatten, dass er sich trotz mehr­facher attrak­tiver Möglichkeiten, nach Frankreich überzusiedeln, für den Verbleib in Basel entschieden habe.73

Das Alumneum war für Cullmann eine Institution, in der Leben und Lehre, Fa­milie und Studenten eng miteinander verzahnt zu einer Lebens­gemeinschaft wurden. Dieser Zusammenhang erhellt meiner Ansicht nach wenigstens drei weitere Motive in Cullmanns Leben:

Zum einen sprach man in jener Zeit, in der Cullmann wirkte, von Theo­logen­schulen. Es gab eine Barth-, Bultmann- oder Brunner-Schule, nicht aber eine Cull­mann-Schule. Trotzdem hatte Cullmann eine weitverbreitete, viel­fältige und bunte Schar von Schülern in Kirchen und an Universitäten. Zu diesem bemerkenswerten Umstand führte neben Cullmanns Eigenart, seinen Schülern thematisch und inhalt­lich viel Raum für ihre Arbeiten zu lassen, vor allem das Alumneum als Lebensge­meinschaft. Weniger eine bestimmte inhaltlich-theologische Ausrichtung als viel­mehr eine bestimmte Form der Lebenshaltung, des dialogischen Umgangs, auch der Verbindlichkeit war für diese Schülerschaft prägend.

Zum anderen: Cullmann verfolgte als praktische Umsetzung der öku­menischen wissenschaftlichen Betätigung zwei Projekte, die wesentlich von |29| der Lebensgemein­schaft geprägt waren, nämlich das Institut in Tantur und die Villa Alsatia in Chamo­nix post mortem. Beide sind meiner Meinung nach ohne den Zusammenhang mit dem Leben im Alumneum nicht zu ver­ste­hen.74

Schliesslich gehörte für Cullmann zur Lebensgemeinschaft im Alum­neum we­sentlich auch die Frau an seiner Seite, die Schwester Louise, die ihm nach dem Tod der Eltern seit 1930 im Haushalt zur Hand ging. Diese Zusam­menhänge, die selbst­verständlich den institutionellen Zugang übergreifen und deutlich in den biografi­schen Bereich übergehen, müssten in vertiefter Weise untersucht werden.

III. Zugang über Quellengattungen: die Korrespondenz

Eine der reichhaltigen Quellen im Nachlass Cullmanns ist die Korres­pon­denz. Karlfried Froehlich schätzt den Umfang auf ungefähr 30 000 Brie­fe.75 Obwohl Cullmann von wichtigen Briefen jeweils Entwürfe, Abschriften oder Durchschläge hinterliess, sind diese der kleinste Anteil der Korrespon­denz. Die Antworten der Adressaten überwiegen bei weitem. Für die Zu­kunft wäre hilfreich, nach Möglichkeit die Korrespondenz Cullmanns durch Kopien zu sammeln. Erste Schritte dazu hat die Fondation Oecuménique Oscar Cullmann bereits unternommen.76 Weitere gezielte Anstrengungen wären vor allem bei Forschungsprojekten unerlässlich.

Und natürlich stellt sich die Frage, wo genau die Schätze in der Kor­respondenz zu heben sind. Es sind die klingenden Namen der Zeit frei­lich vorhanden, die deut­schen Fachkollegen Karl Ludwig Schmidt und Rudolf Bult­mann oder die frankopho­nen Exegeten Pierre Benoît77 und Stanislas Lyonnet,78 die Dogmatiker Karl Barth, Gerhard Ebeling oder Wolfhart Pan­nenberg, |30| die frankophonen Ökumeniker Yves Congar,79 Jean Daniélou80 oder Jean Guitton81. Und selbstverständlich gibt es auch die Korrespondenz mit den Päpsten.82 Der Zugriff auf den umfangreichen Quellenbe­stand wird von den verfolgten Forschungsinteressen abhängen: ein bestimmter Zeit­abschnitt wie der Zweite Weltkrieg, eine Personengruppe, beispielsweise das Kolle­gium der Basler Theologischen Fakultät, ein konkretes Projekt, etwa die ge­meinsame Kollekte oder die Auseinandersetzungen um eine bestimmte Pu­blikation.

Im Folgenden seien lediglich zwei Beispiele zur Veranschaulichung erwähnt: Während des Zweiten Weltkriegs zeigte sich Cullmann als auf­merk­­samer Beobachter der unterschiedlichen Kulturen im Dreiländereck. 1940 schrieb er in einem Briefent­wurf an einen Freund in Clermont-Ferrand, die Schweizer seien keine Deutschen. Die Schweizer seien Schweizer mit ihren eigenen Fehlern, geprägt durch eine eigene Geschichte. Sie pflegten ein kühles Verhältnis zu den Nachbarn, verachteten und bewunderten zugleich die Deutschen. Die deutschen Kollegen hätten kaum Kontakte mit Schweizer Familien.83 1944 charakterisierte er gegenüber einem Basler, der ihn aus­drücklich danach gefragt hatte, den schweizerischen Nationalcharakter kri­tisch |31| und bat im Gegenzug den Adressaten, ihm die Fehler «bei uns» (den Franzosen) anzugeben.84

Als zweites Beispiel sei auf den Briefwechsel zwischen Cullmann und Lukas Vischer verwiesen. Vischer hatte nach Kriegsende Theologie in Basel, Göttingen sowie Strassburg studiert. Bei Cullmann promovierte er über Basilius den Grossen und verfasste während des Pfarramtes eine Habilita­tionsschrift im Fach Neues Tes­tament.85 Nach dem Pfarramt in Herblin­gen/SH (1953–1961) wurde Vischer theologi­scher Studiensekretär, später Direktor der Abteilung für Glauben und Kir­chenverfassung des Ökume­nischen Rates der Kirchen (ÖRK). Vischer war vom ÖRK als Beobachter an das Zweite Vatikanische Konzil delegiert.86 Regelmässig berichtete er dem damaligen Generalsekretär des ÖRK, Willem Visser ‘t Hooft, aus Rom. Die Berichte und Briefe liegen im Archiv des ÖRK in Genf. Sowohl Vischer als auch Visser ’t Hooft standen mit Cullmann im Briefwechsel.87 Vischers Brief­wechsel ging natürlich über das Zweite Vatikanische Konzil weit hin­aus. Auf die Publikation Einheit durch Vielfalt im Jahr 1986 schrieb Vischer einen langen Brief, den Cull­mann in der zweiten Auflage als weiterfüh­renden Bei­trag ausführlich aufnahm.88

IV. Thematischer Zugang: Ökumene

Thematisch von hervorragendem Interesse ist sicher der gesamte Be­reich der Ökumene. Zum Zweiten Vatikanischen Konzil sprudeln die Quel­len |32| reichlich.89 Reizvoll und noch weitgehend ungeklärt ist die Rolle, die Cull­­mann als Beobachter des Konzils auf Einladung des Sekretariats für die Ein­heit der Christen ausfüllte.90 Welche Beziehungen hatte Cullmann zu den anderen Beobachtern, den Experten, den Konzilsvätern und zu den übrigen Teilnehmern des Konzils? Auf welche Weise und mit welchen Impulsen nahm er Einfluss? Wie gestaltete er seine Berichte und wie orchestrierte er seine öffentlichen Auftritte? Gibt es während der vier Sessionen Verschie­bungen der Akzente? Und in diesem Zusammenhang sind sicherlich auch die Kontakte zu den zwei Konzilspäpsten zu situieren.

Zugleich dürften die verschiedenen Aspekte von Cullmanns ökume­nischer Kon­zeption sowie deren Tragfähigkeiten weiterhin ein wichtiges Thema bleiben.91 Cull­mann hatte sich bekanntlich vor allem auf die soge­nannte grosse Ökumene kon­zentriert. In der erwähnten Reaktion auf die Publikation Einheit durch Vielfalt hatte Lukas Vischer darauf hingewiesen, dass die Spaltungen im Protestantismus weniger «Charismen» als vielmehr ein Missbrauch der «Vielfalt» seien. Der Protestantismus müsse daher diese Entstellungen bekämpfen. Cullmann stimmte mit Vischer überein, wollte die Anregungen ausdrücklich aufnehmen und berücksichtigte Vischers Ein­wurf in der zweiten Auflage von 1990. Überall dort, wo die Absonderungen nicht zur bereichernden Vielfalt beitrügen, sei der Zusammenschluss innerhalb des Protestan­tismus geboten.92 Aber was heisst das im Einzelnen? Wie beurteilte Cullmann die Leuenberger Konkordie von 1973? Hat er sich überhaupt zur Gemeinschaft evangeli­scher Kirchen Europas (GEKE) geäussert?

Im Folgenden verweise ich auf drei konkrete ökumenische Initiativen Cullmanns, die eine vertiefte Untersuchung verdienten. Mit Blick auf die Kollekte, die Paulus in den Gemeinden für Jerusalem sammelte (1Kor 16,1–4; Gal 2,10), schlug Cullmann in einem Vortrag, den er anlässlich der ökume­nischen Weltgebetswoche für die Einheit der Christen am 21. Januar 1957 in Zürich hielt, eine gegenseitige Kollekte der Protestanten und der Katholiken |33| vor.93 Diese praktische Solidarität sollte ein Zeichen der Einheit der getrennten christlichen Kirchen in Christus sein.94 In der Korrespondenz finden sich zahlreiche Reaktionen auf diese Initiative. 1958 veröf­fentlichte Cullmann eine Broschüre unter dem Titel Katholiken und Protestanten. Ein Vorschlag zur Verwirklichung christlicher Solidarität, in dem er seinen Vorschlag ausführte.95 Die Publikation erschien im gleichen Jahr auch in französischer Spra­che.96 Wie er es gewohnt war, liess er die Publikation vielen Persönlich­keiten zukom­men.97 Viele der Adressaten haben mit Briefen oder Buch­bespre­chungen geantwor­tet.98 Die Resonanz war enorm. Das von Karl­fried Froehlich detailliert verzeichnete Material aus den Jahren 1957 bis 1963 um­fasst mehrere hundert Korrespondenzstü­cke. An dieser Initiative lässt sich exemplarisch zeigen, wie Cullmann vorging, eine Idee vorbereitete, das Pro­jekt vernetzt kommunizierte und schliesslich auf unter­schiedlichen Wegen verfocht. Auch das dialogische Motiv wird sichtbar. Cullmann suchte das Ge­spräch und nahm Zustimmung und Ablehnung auf. Sorgfältig führte er darüber Buch, wo seine Initiative aufgenommen und umgesetzt wurde.99

Auf einem Empfang der Konzilsbeobachter während der zweiten Session regte Papst Paul VI. die Errichtung eines Forschungsinstituts an, das der gemeinsamen Erforschung der Heilsgeschichte durch alle Konfessionen gewidmet sein sollte.100 Sowohl im akademischen Rat mit ungefähr dreissig Persönlichkeiten aus der Ökumene als auch im kleineren Exekutivausschuss engagierte sich Cullmann beherzt für dieses Anliegen. In den Jahren 1967 bis 1972 wurde der Bau des Instituts für Höhere The­ologische Studien in Tantur bei Jerusalem erstellt. 1972 bis 1973 verbrachte Cull­mann nach seiner Eme­ritierung |34| das erste offizielle Studienjahr in Tantur. Der Haupt­zweck der Stiftung war eine ökumenische Arbeitsgemeinschaft von Theologen aller Bekenntnisse im Ursprungsland der Christenheit. Wissenschaftliches Lehren und Lernen, gemeinsames Leben und Feiern von Gottesdiensten gehörten zu den Grund­ideen des Projekts. Thematisch sollten die Studien der biblischen Heilsgeschichte gewidmet sein.101 In der Korrespondenz finden sich immer wieder Spuren des Engage­ments für das Projekt in Tantur. In einem Brief­fragment an Papst Paul VI. wird schon 1966 ein möglicher erster Rektor in Tantur erwogen.102 Oder Cullmann charakteri­sierte gegenüber einem Peritus das Projekt in Tantur als eine der schönsten ökumeni­schen Realitäten nach dem Konzil.103 In einem Briefentwurf dankte er Papst Paul VI. für Bücher, die aus der Vatikanischen Bibliothek an die Bibliothek in Tantur gin­gen.104 Bei Jean Kardinal Villot fragte er 1971 wegen einer Audienz beim Papst an, um unter anderem über das Institut in Tantur zu berichten.105 An die Oberin der Schwestern in Tantur schrieb er, um sich vorsichtig für eine Schwester einzusetzen, die offenbar versetzt werden sollte.106 Selbst als er sich bei Papst Johannes Paul II. vorstellte, erwähnte er in einem Briefentwurf neben seiner Freundschaft mit Papst Paul VI. das ökumenische Projekt in Tantur.107 Cullmann hat Tantur in den 1970er Jahren mehrfach besucht und dort auch unterrichtet. Allerdings war dem Projekt nicht der erhoffte Weg vergönnt. Den Rückzug der Orthodoxen von der aktiven Mitarbeit am Institut be­dauerte er ausserordentlich.108 Welche Visionen verfolgte Cullmann mit dem Projekt? Und wie beurteilte er den weiteren Fortgang des Tantur Ecumenical Institute for Theological Studies? Wie sah das Projekt strukturell und inhaltlich aus?109 Eine präzise Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Institu­tion |35| fehlt. Auch Cullmanns Äusserungen über das Projekt sowie sein Enga­ge­ment in Tantur sind nicht untersucht.

Als drittes ökumenisches Projekt sei hier lediglich erwähnt das Konzept für Chamonix post mortem. Cullmann hatte sich vorgestellt, dass die Villa Alsatia in Chamonix eine Stätte des wissenschaftlichen Austausches, der ökumenischen Stu­dien und des gemeinsamen Lebens werden könnte.110

Überblickt man die zwei letzten Projekte, fällt der Leitgedanke einer ökumeni­schen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft auf. Für dieses Motiv dürf­ten die Erfahrun­gen im Thomasstift und im Theologischen Alumneum prä­gend gewesen sein.

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301 s. 2 illüstrasyon
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9783290177416
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