Kitabı oku: «Zehn Jahre nach Oscar Cullmanns Tod: Rückblick und Ausblick», sayfa 3

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V. Zugang über Werke: Das Gebet im Neuen Testament

Neben der Korrespondenz nimmt die Kategorie der «Manuskripte» den Löwenanteil des Nachlasses ein. Aus dieser ursprünglich pragmatisch ange­legten, breiten Kategorie wurden während der Sichtung des Materials ein Bereich umgeordnet: Die Korrespondenzen aus Cullmanns Feder, also Briefe, Brieffragmente, Briefentwürfe, Abschriften oder Kopien, wurden in einer eige­nen Kategorie der Korrespondenz zusammengefasst. Cullmann legte selbst ein Dossier mit Konzilsakten an, das zahlreiche Manuskripte enthält und das geschlossen in die Kategorie «Zweites Vatikanisches Konzil» ein­ging. Ob eine weitere Differenzierung notwendig sein wird, muss die Be­nut­zung des Archivs zeigen. Jedenfalls sind die Quellen in der gegenwärtigen Ord­nung problemlos greifbar.

Die Kategorie der «Manuskripte» ist reich ausgestattet und umfasst eine Vielfalt von Quellengattungen. Ich nenne drei Beispiele zur Illustration: In einem Entwurf aus den Jahren 1938/1939 notiert Cullmann seine Ein­schät­zun­gen der Entwick­lung der Theologischen Fakultät in Basel. Nachdem vertriebene oder geflohene Kollegen aus Hitlerdeutschland aufge­nom­men worden seien, spiele die Theologische Fakultät eine internationale Rolle. Es ist nicht klar, in welchem Zusammenhang der Bericht steht, ob es sich um einen Vortrag oder um eine Stellungnahme handelt.111 1979 hielt Cullmann eine Laudatio für Willem Visser ’t Hooft aus Anlass der Würdi­gung durch die Fondation Boegner in Genf.112 Aus dem gleichen Jahr sind Notizen zur |36| Auseinandersetzung mit Hans Küng vorhanden. Cullmann war der Auf­fassung, Küng stelle Rom unbillige Bedingungen für den Dialog.113

Ein grosser Anteil der handschriftlichen und maschinengeschriebenen Manu­skripte entfällt auf die Vorlesungen und auf unveröffentlichte oder spä­ter veröffent­lichte Publikationen. An den Vorlesungen lässt sich Cull­manns Vorgehen in der Lehre nachvollziehen. Meistens beliess er den Grund­stock einer Vorlesung, bearbei­tete diesen aber im Verlauf der Jahre und benutzte Teile auch für andere Veranstal­tungen. Die Ordnung der einzelnen Manu­skripte, die Karlfried Froehlich vornahm, war nicht einfach, weil einzelne Teile manchmal weit verstreut waren.

Bei den Publikationen ist oft die Genese von den ersten Manuskripten zu einem Thema in Vorlesungen oder Vorträgen bis zur Drucklegung erkennbar. Als Beispiel nenne ich Cullmanns letzte grosse Arbeit zum Gebet im Neuen Testament, die 1994 auf Deutsch und 1995 in französischer, eng­lischer und italienischer Übersetzung sowie 1997 auf Deutsch in zweiter Auflage erschienen ist.114 Schon aus der ersten Hälfte der 1970er Jahre gibt es einen Aufriss für eine mögliche Arbeit über das Gebet sowie Notizen mit einem Zeitplan für die Abfassung eines Vortrags oder eines Arti­kels.115 In Tantur wurde für die Jahre 1978 bis 1981 das Gebet als Studienthema fest­gelegt.116 Aus dieser Zeit zeugen mehrere Manuskripte, die das Gebet bei Paulus und das Gebet im Johannesevangelium behandeln, von einer intensi­ven Arbeit am Thema.117 Die Manuskripte stehen im Zusammenhang mit Vorträgen, die Cullmann in Athen, Tantur und bei den Waldensern in Rom gehalten hatte. Aus dieser Beschäfti­gung gingen dann auch entsprechende |37| Publikationen hervor.118 Aus den folgenden Jahren sind zahlreiche Materia­lien mit Vorbereitungen für das Buch zum Gebet vorhanden. Mehrere Blöcke und lose Blätter aus den Jahren 1985 bis 1994 enthalten Exzerpte, Konzepte und Entwürfe, die anschaulich Cullmanns Arbeitsweise zeigen.119 Verschie­dene Widmungsentwürfe, die Cullmann offenbar vor dem Eintrag in die Ge­schenkexemplare präzis vorbereitet hatte, zeigen seine weitläufigen per­sön­lichen Beziehungen. So sind beispielsweise die Widmungen an Papst Johan­nes Paul II. und an Josef Kardinal Ratzinger vorhanden. Neben Notizen und Bemerkungen liegen Angaben für die Buchanzeigen oder das Vorwort für die zweite Auflage in den Dos­siers.120 Eine Liste aus dem Jahr 1995 mit unge­fähr 100 Personen nennt die frankopho­nen Empfänger der französi­schen Ausgabe.121 So überrascht eigentlich nicht, dass es auch weitere Mate­ria­lien mit Ergänzungen, Korrekturen, Literaturhin­weisen, Fotokopien von Aufsät­zen, Briefen für die Überarbeitung der weiteren Auflagen gibt.122

Das ganze Konvolut gibt Einblick in die beharrliche Vorgehensweise und zeigt eindrücklich die intensive Auseinandersetzung des betagten Wis­senschaftlers mit dem Thema und der einschlägigen Literatur. Für die thema­tische Behandlung des Gebets wären ausserdem Vortragsmanuskripte zum Vaterunser in französischer und deutscher Fassung aus den 1930er und 1940er Jahren sowie die Gebete aus den bereits erwähnten Andachten beizuziehen.123 Cullmann hat seine Monographien über lange Zeiträume vorbereitet. Und er hat mit seinen Veröffentlichungen das Gespräch gesucht. Die Zustellung |38| seiner Bücher an einen weiten Kreis von Kollegen und Freunden verdankt sich nicht einfach der Eitelkeit des Wissenschaftlers, über die er im Übrigen gut Bescheid wusste,124 sondern dem angestrebten Dialog.

VI. Fazit

Überblickt man den Nachlass Cullmanns, so rücken mit Sicherheit die be­kannten, grossen Themen ins Blickfeld, die auch in Zukunft wichtige Be­rei­che der vertiefenden Erforschung bleiben sollten: die Rolle Cullmanns wäh­rend des Konzils, das Konzept der Einheit durch Vielfalt, der neutesta­ment­liche Exeget und Theologe oder das Konzept einer biblischen Heilsgeschich­te. Daneben aber tauchen weitere Themenbereiche auf, die mit der besonde­ren Signatur des Nachlasses zu tun haben, in der sich letztlich die Per­sönlichkeit Cullmanns – wenn auch gebrochen – spiegelt. Ich nenne ab­schlies­send drei Elemente, die dem Nachlass seine spezifische Kontur ver­leihen:

(1) Der Nachlass ist gekennzeichnet durch Vielsprachigkeit. Cullmann verfasste Buchmanuskripte in Französisch und Deutsch, schrieb Vorträge zu­weilen auch in Englisch und trug ausserdem in Italienisch vor. Cullmann leb­te in verschiedenen Kulturen. In Strassburg und Basel unterrichtete er, später lehrte er ausser in Basel auch in Paris und Rom und war schliesslich Gast­pro­fessor in den USA, in Deutschland und als Emeritus auch in Jerusalem. Zu Recht wurde Cullmann «ein Mittler zwischen verschiedenen Kulturen» ge­nannt.125

(2) Mit dieser interkulturellen Prägung hängt die weltweite Vernetzung mit Kol­legen, Geistlichen und weiteren Persönlichkeiten aus Universität, Kir­che und Gesell­schaft sowie mit Freunden und Schülern zusammen. Diesen Umstand dokumentiert die ausgreifende Korrespondenz, aber auch die Art, wie sich Cullmann als Wissen­schaftler selbst verstand. Er strebte das Ge­spräch an und war auch nicht abgeneigt, einen polemischen Disput zu füh­ren, wo er es für notwendig hielt. Das zeigen auch die vielfältigen Reaktionen und Rezensionen, die den Publikationen beschieden waren.

(3) Cullmann dachte über die eigene Fachdisziplin hinaus. Selbstver­ständlich verstand er sich als Neutestamentler, ging in seinen wissenschaft­lichen Bemühungen immer wieder von der Exegese der biblischen Texte aus, schlug dann aber den Bogen über die Kirchengeschichte weiter zur syste­matischen |39| Theologie. Damit hängt auch zusammen, dass er über die eigene Konfession hinausblicken und die Vertreter der römischen Kirche respektie­ren konnte, was wiederum auf die interkulturelle Prägung und die Dialog­fähigkeit verweist.

Weil Cullmann den Dialog über sprachliche, fachliche und konfes­sionelle Grenzen hinaus suchte und auf unterschiedlichen Ebenen pflegte, in der Korrespondenz, der Lehre an der Universität, in den Ansprachen und Vor­trägen an eine engere oder breitere Öffentlichkeit, den Publikationen in Zeit­schriften oder Monographien und nicht zuletzt in persönlichen Gesprä­chen, erhält der Nachlass diese weite und komplexe Anlage. Die Erforschung des Nachlasses stellt daher auch erhöhte Anforderungen, denn der Überblick über das Ganze und die Vernetzung im Einzelnen liegen nicht einfach auf der Hand. Trotzdem lockt ein vielfältiges, gehaltvolles und gut geordnetes Archiv zu Erkundungsgängen, die mit faszinierenden Einblicken in die Ge­schichte von Theologie und Wissenschaft, von Universitäten und Kirchen, Konfessionen und Ökumene sowie von Gesellschaft und Politik über nahezu das ganze 20. Jahr­hundert belohnen. |40|

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Zur Zeitgeschichte

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Karlfried Froehlich

Ein früher Briefwechsel zwischen Rudolf Bultmann und Oscar Cullmann

Sehr bald nach dem Ende der deutschen Kaiser-Wilhelm-Universität Strassburg im Dezember 1918 und der Errichtung der neuen französischen Université de Strasbourg mit ihrer Fakultät für Protestantische Theologie wurde der Plan einer neuen theologischen Zeitschrift gefasst und seine Aus­führung in die Wege geleitet.126 Dieses auf eine breite nationale und internatio­nale Leserschaft zielende Unternehmen knüpfte bewusst an die Tradition der alten Revue de Strasbourg an, die, von Timothée Colani und Edmond Scherer begründet, als Revue de théologie et de philosophie von 1850 bis 1869 die wissen­schaftliche Theologie des französischen Protestantismus vertrat und ein be­deutendes Ansehen genoss.127 Der erste Redaktionsausschuss, dem nur Strass­burger Professoren angehörten, wurde am 25. November 1920 benannt, erweiterte sich aber schon 1921 durch Mitarbeiter aus Inner-Frankreich und dem Ausland. Das erste Heft erschien im Januar 1921, und von da an gingen alle zwei Monate in regelmässiger Folge die Hefte der Revue in alle Welt. Das Titelblatt nannte die Fakultät als Herausgeber: «Publiée par la Faculté de Théologie de l’Université de Strasbourg». Das Redaktionsbüro hatte seinen Sitz im Thomasstift, 1 Quai de Saint-Thomas. Als Direktor zeichnete der Alt­tes­tamentler Antonin Causse, der das Gesicht der neuen Zeitschrift entschei­dend prägte. |44|

Die alte Revue de Strasbourg vertrat eine ausgesprochen liberale wissen­schaftliche Richtung im französischen Protestantismus, und auch die neue Revue verstand sich als wissenschaftliches Organ einer den übrigen europäi­schen theologischen Fakultäten ebenbürtigen Fakultät, die sich einerseits darin selbst vorstellte, andererseits aber den Dialog mit der gesamten theolo­gischen Welt suchte und fördern wollte. Das zeigte sich nicht nur an der Auswahl der in den frühen Jahren angefragten Autoren, die keineswegs nur aus den eigenen Reihen und der elsässischen Region stammten, sondern aus ganz Frankreich, den frankophonen Ländern Europas und dem übrigen Ausland, einschliesslich Deutschlands.128 Wichtiger noch als dieser internatio­nale Charakter der Beiträge war die Gliederung des Inhalts der einzelnen Hefte. Neben Aufsätzen über eine Vielzahl von theologischen und allgemein religionsbezogenen Themen und den üblichen Buchbesprechungen standen informierende Rubriken wie notices bibliographiques, notes et communications, notes et documents und études critiques.129 Eine Besonderheit stellte die Sparte Revue des revues oder Revue des périodiques dar, die die französische Leser­schaft über die neue internationale Zeitschriftenliteratur unterrichtete. Die Inhaltsangaben waren anfangs nicht gezeichnet, aber seit 1925 durch die Initialen des Kompilators identifiziert, vor allem wenn sie über bestimmte Fachbereiche berichteten und kommentiert waren. Die Absicht der Selbstdar­stellung der Fakultät wird besonders deutlich in der ungewöhnlichen Rubrik Vient de paraître. Hier hatten Fakultätsmitglieder und andere mit Strassburg verbundene Wissenschaftler die Möglichkeit, ihre grösseren Veröffentli­chungen ausführlich vorzustellen. In Band 4 (1924) machten der Herausgeber Causse, der Kirchengeschichtler Henri Strohl und der ständige Pariser Mit­arbeiter Maurice Goguel davon Gebrauch, in Band 5 (1925) der praktische Theologe Robert Will und der Systematiker Fernand Ménégoz, aber auch der Osloer Neutestamentler Anton Fridrichsen, der in Strassburg promo­vierte. Oscar Cullmann verfasste eine solche Selbstanzeige seiner Lizentiatsarbeit über die Pseudoklementinen für das September/Oktoberheft 1930.

Cullmann studierte an der neuen Fakultät von 1920–1924. Wie die meis­ten jungen Theologen wohnte er im «Stift», der Fondation Saint-Guillaume, wo er in seinem letzten Studienjahr Stiftssenior war. Auch 1924–25 wohnte er noch im Stift, um seine thèse de baccalauréat zu schreiben, die er im Juni 1925 glänzend verteidigte. Causse erbat das Manuskript umgehend für die Zeit­schrift, und die Arbeit erschien in zwei Teilen unter der Rubrik Etudes |45| critiques bereits in Heft 5 (September–Oktober) und Heft 6 (November–De­zember) des gleichen Jahres.130 Der nächste Schritt der akademischen Lauf­bahn, die Verteidigung der thèse de licence, folgte im Juni 1930. Auch diese Arbeit erschien in einer Publikationsreihe der Fakultät, den Etudes d’histoire et de philosophie religieuses, die von Anfang an als Veröffentlichungsort für die Lizentiatsarbeiten Strassburger Theologen gedacht war. Ihre rechtzeitige Fer­tigstellung war die Voraussetzung seiner Ernennung zum maître de confé­rences im gleichen Jahr.131

Um diese Zeit hatte Cullmann bereits einige Jahre in der Redaktion der Revue mitgearbeitet. Bei seiner Rückkehr als Direktor des Stifts von einem einjährigen Aufenthalt in Paris im Oktober 1926 übertrug ihm Causse die Aufgabe des administrateur der Revue, eine Funktion, die auch sein Vorgänger als Stiftsdirektor, Frédéric Munch, ausgeübt hatte. Mit dem ersten Heft des Jahrgangs 7 (1927) begann eine Reihe von Buchbesprechungen Oscar Cull­manns, und im gleichen Jahr erschien zum ersten Mal unter der Rubrik Re­vue des revues eine mit O. C. unterzeichnete annotierte Bibliographie mit dem Titel Nouveau Testament et christianisme primitif, die er auch 1928 und 1929 weiterführte, die aber 1930, dem Jahr seiner licence und der Ernennung zum maître de conférences, abbrach.

Der erste Kontakt mit Bultmann geht auf eine Initiative des jungen Ge­lehrten zurück, der die zwei Hefte mit seinem Aufsatz von 1925 an den Mar­burger Meister geschickt hatte. Bultmann antwortete mit einer sehr freundli­chen Postkarte unter dem Datum des 20. Juni 1926132, die Cullmanns Darstel­lung seiner Position in Bezug auf die Formgeschichte Anerkennung zollt und sie «als Zeichen der sich wieder knüpfenden Arbeitsgemeinschaft über die Grenzen hinweg» wertet.133 Seinem Hinweis auf das soeben erschie­nene Jesus-Buch134 |46| und der Bitte um Besprechung kam die Revue umgehend nach. Eine aus­führliche Besprechung durch Maurice Goguel erschien schon im ersten Heft des Jahrgangs 1927. Cullmann liess Bultmann ein Exemplar zu­kom­men.135

Die in späteren Jahren stark polemisch geführte Auseinandersetzung Cullmanns mit Bultmann und seinen Schülern und deren ebenfalls scharfe Polemik gegen Cullmann haben den Eindruck einer unversöhnlichen Feind­schaft hervorgerufen, die an keine persönlichen Beziehungen denken lässt. In der Tat ist es kaum jemals zu einer persönlichen Begegnung gekommen. Auf der zweiten Tagung der Middle Atlantic Section der Society of Biblical Liter­ature in Princeton, New Jersey, am 12. April 1959 – Cullmann und Bultmann weil­ten in jenem Frühjahr als Gastprofessoren in den USA – nahmen beide Gelehrten teil. Cullmann referierte am Morgen über die Logien des neuge­fundenen Thomasevangeliums, Bultmann am Abend über den griechischen und christlichen Freiheitsbegriff – beides unverfängliche Themen im Hin­blick auf die strittigen Fragen zwischen ihnen.136 Viele Neutestamentler erwar­teten eine spannende Debatte und waren enttäuscht, als sie nicht kam. Im Gegenteil. Als Teilnehmer an dieser Tagung weiss ich, dass die Begeg­nung völlig harmonisch verlief und keinerlei Konfrontation das kollegiale Zusammensein störte.

Angesichts des Bildes von einer unversöhnlichen Gegnerschaft muss in der Tat betont werden, dass beide Gelehrten zeitlebens brieflich in freund­schaftlichem Austausch standen. Das Cullmann-Archiv enthält 30 Briefe und 14 Postkarten, die Rudolf Bultmann in den Jahren zwischen 1926 und 1976 an Oscar Cullmann geschrieben hat.137 Leider steht es weniger günstig um den Gegenverkehr. Die Korrespondenzlisten des Bultmann-Archivs in der Uni­versitätsbibliothek Tübingen verzeichnen keinen einzigen der zahlreichen Briefe Cullmanns an Bultmann, sondern nur 14 Postkarten und den Durch­schlag eines maschinengeschriebenen Briefes Bultmanns an Cullmann.138 Wie die Tochter berichtet,139 hat Bultmann einen Grossteil der unter seinen Papie­ren vorhandenen Briefe vernichtet. Überlebt hat zur Überraschung der Fami­lie |47| ein Karton mit Ansichtskarten, die der Empfänger, nach Ortsnamen sor­tiert, wegen der Bilder aufgehoben hatte.140 Da Cullmann fast seine gesamte Korrespondenz handschriftlich führte und nur selten einen Entwurf oder eine Zweitschrift behielt, muss seine Seite des Schriftverkehrs mit Bultmann im Wesentlichen als verloren gelten.

Im Anhang sollen hier die ersten erhaltenen Bultmannbriefe vorgestellt werden. Sie stammen aus den Jahren 1926 bis 1930 und sind von ausseror­dentlichem Interesse für die Biografie der beiden Gelehrten, aber auch für die Zeitgeschichte. Glücklicherweise hat Cullmann den Entwurf seiner lan­gen Antwort auf eine Anfrage Bultmanns im Zusammenhang mit der Strass­burger Revue aufbewahrt, so dass der Austausch über dieses Thema zum grössten Teil dokumentiert ist. Den Anfang macht die bereits erwähnte Briefkarte Bultmanns vom Juni 1926.

Der zweite erhaltene Brief Bultmanns an Cullmann trägt das Datum des 27. Februars 1929.141 Er setzt eine Anfrage Cullmanns voraus, der dem Marbur­ger Kollegen einen Strassburger Studenten empfohlen hatte, der in Marburg studieren wollte. Bultmann hatte bei Heinrich Hermelink, dem Professor für Kirchengeschichte und Ephorus des Vereins Studentenheim, nachgefragt und erwartete, dass dieser sich bereits direkt mit Cullmann in Verbindung gesetzt und einen Platz im neueröffneten Heim «Forsthof» an­geboten hatte. Ganz offensichtlich freute ihn die Aussicht auf diese personale Verbindung mit Strassburg. Wie er in einem Beitrag in den Theologischen Blättern 1930 andeutet, ist dieser Plan tatsächlich zur Ausführung gelangt.142 Den Schluss bildet ein Dank für die Zusendung der Besprechung des Jesus­buchs durch Maurice Goguel und das Versprechen, einige eigene Publikatio­nen zu schicken.

Das Datum des dritten Briefs ist der 24. März 1929.143 Es geht daraus her­vor, dass inzwischen ein weiterer Schritt zur wissenschaftlichen Zusammen­arbeit «über die Grenzen hinweg» Gestalt angenommen hatte. Ein Austausch zwischen der Strassburger Revue und der von Bultmann und Hans von So­den herausgegebenen Theologischen Revue war vereinbart und vom Tübinger Ver­lag Mohr Siebeck gutgeheissen worden. Die Hefte 1–5 des Jahrgangs 1928 der Revue waren bereits in Marburg eingetroffen, wie der Schreiber erfreut berichtet. Dann aber kommt er auf ein weniger erfreuliches, unerwartetes |48| Thema zu sprechen, das die zeitgeschichtliche Problematik der von ihm und den Strassburger Theologen so enthusiastisch betriebenen Kooperation schlag­artig beleuchtet. Es war kein Geheimnis, dass die Ausweisung der Do­zenten der Strassburger Kaiser-Wilhelm-Universität und ihre Aufnahme bzw. Eingliederung in das akademische Leben Reichsdeutschlands für Staat und Gesellschaft ein beträchtliches Problem darstellten. Die ehemaligen Pro­fessoren der Theologischen Fakultät, die grosse Schwierigkeiten hatten, in ihrem Fach eine akademische Anstellung zu finden, waren unter den Vor­kämpfern der verbitterten Flüchtlinge und schürten die Ressentiments gegen die neue Ordnung im französischen Elsass.144 Als im Frühjahr 1928 die Univer­sität Frankfurt am Main, die sich des Erbes der Kaiser-Wilhelm-Uni­versität annahm und 1919 sogar die Errichtung einer bislang nicht existie­renden Theologischen Fakultät mit Übernahme der Strassburger Professoren erwog,145 zu einer ersten Tagung einer «Losen Vereinigung ehemaliger Strass­burger Studenten und Dozenten» einlud, war der Aufruf unterschrieben vom Frankfurter Rektor und dem ehemaligen Strassburger Theologieprofessor Gustav Anrich als erstem Vorsitzenden des 1921 gegründeten Elsass-Loth­rin­gen Instituts.146 Im Elsass selbst waren die sozialen und kulturellen Span­nun­gen angesichts des starken Assimilationsdrucks auf die von deutscher Kultur und Erziehung geprägte Bevölkerung gross. Besonders in kirchlichen Kreisen war die «Sprachenfrage» ein heisses Eisen, auch und gerade in der Theo­lo­gischen Fakultät und im Thomasstift, da sie für Paris und die neue franzö­sische Verwaltung eng mit dem Verdacht des Autonomismus verbun­den war.147 Oscar Cullmann spricht von drei Tendenzen unter den elsässi­schen Studenten seiner Zeit, die ja alle keine französische Schulzeit hinter sich hat­ten. Einige ältere Semester blieben ausgesprochen deutschfreundlich, andere waren zu stark auf die deutsche Sprachkultur eingeschworen, und eine dritte |49| Gruppe versuchte zwischen französischen und deutschen Wert­vorstellungen zu vermitteln. Er selber sah sich unter den Letzteren.148

In seinem Bestreben, die internationale wissenschaftliche Zusammenar­beit zu fördern, hatte Bultmann, wie er berichtet, schon 1927 auf eine Anfrage der Strassburger Redaktion hin einen Beitrag für die Revue zugesagt und einen 1928 verfassten Text über die christliche Nächstenliebe für diesen Zweck ins Auge gefasst. Er zögerte, als ihm das von ehemaligen Strassburger Theologen verbreitete Gerücht zu Ohren kam, die Revue erhalte finanzielle Unterstützung durch eine Vereinigung, die die Bekämpfung der deutschen Sprache im Elsass zum Ziel habe. Er bat den Administrator der Revue um eine offene Antwort, wie es sich damit verhalte. Das genannte Ziel könne er genauso wenig billigen wie die deutsche Bekämpfung einheimischer Spra­chen in Grenzgebieten vor 1914. Auf Deutsch, meinte er, könne sein Aufsatz sofort in der Revue erscheinen, auf Französisch auch anderswo in Frankreich, etwa in Paris, aber nicht in Strassburg, weil er damit als an der Bekämpfung der deutschen Sprache im Elsass beteiligt erscheinen müsste, wenn der insi­nuierte Tatbestand zutreffe.

Cullmanns ausführliche Antwort ist im Entwurf erhalten.149 Es handelt sich um fünf handgeschriebene undatierte Blätter, die der Adressat sofort nach Erhalt der Anfrage verfasst haben muss, da Bultmann bereits am 29. März antwortete. Der Brief ist eine engagierte, ehrliche und durch ihre klare Argu­mentation überzeugende Darlegung des Selbstverständnisses der Revue im Rahmen der Neuordnung der Nachkriegszeit. Der Verfasser bleibt durchweg sachlich im Ton, obwohl eine gewisse Gereiztheit nicht zu ver­kennen ist, wenn er auf die vertriebenen Strassburger Professoren im Reich zu sprechen kommt. Für ihre Verbitterung hat er durchaus menschliches Verständnis, spricht ihnen aber ganz entschieden das Recht ab, sich in die politischen und kulturellen Auseinandersetzungen im französischen Elsass einzumischen.

Als Quelle des von Bultmann erwähnten Arguments gegen die Mitarbeit deutscher Gelehrter an der Revue betrachtete Cullmann anscheinend eine öffentliche Erklärung (er spricht von einem «Manifest») ehemaliger Strass­burger Professoren von Ende 1928 oder Anfang 1929, die die Behauptung der finanziellen Unterstützung der Revue durch eine deutschfeindliche Vereini­gung enthielt.150 Es gebe ein einziges Gremium, erklärt er, die Cunitz-Stiftung der Universität, von der die Revue Unterstützung erhalte. Ganz im Sinne |50| ihres Stifters, Eduard Cunitz, eines Strassburger Theologen zu französischer und deutscher Zeit und eines Mitarbeiters an der alten Revue de Strasbourg, fördere diese von jeher rein wissenschaftliche Projekte im Elsass ohne Rück­sicht auf die Sprache. Ihr könne man eine politische Absicht, die deutsche Sprache zu bekämpfen, unmöglich unterschieben. Für Cullmann ist die Un­terstellung als solche geradezu absurd: Welchen Sinn hätte die Unterstüt­zung einer rein wissenschaftlichen Zeitschrift durch eine Vereinigung, die die deutsche Sprache im Elsass ausrotten will? Der gleiche Vorwurf werde umgekehrt von französischen Chauvinisten erhoben. Wissenschaftliche Ver­öffentlichungen auf Deutsch im Elsass, so werde behauptet, würden von deut­­schen nationalistischen Kreisen finanziert. Übrigens gebe es ein ähnliches Dilemma bei Einladungen deutscher Wissenschaftler zu Vorträgen in Strass­burg. Nach Paris dürfe man einladen, nach Strassburg nicht. In einem ausge­strichenen Paragraphen erlaubt sich der junge Administrator sogar eine leise Kritik an den Ausführungen des Marburger Meisters. Dessen Satz, er würde ohne weiteres einen Aufsatz auf Französisch in Paris veröffentlichen, aber nicht in Strassburg, erinnere ihn an diese bittere Erfahrung.

Die Veröffentlichung aller Aufsätze in französischer Sprache erklärt Cullmann im Wesentlichen mit der Leserschaft. Sie rekrutiere sich aus wis­senschaftlich interessierten Theologen im Elsass (nicht den orthodoxen Pfar­rern!), in Frankreich, Belgien, der Schweiz und dem übrigen europäischen Ausland. Aber auch die Zielsetzung spielte eine bedeutende Rolle. Wie ihre Vorgängerin, die alte Revue de Strasbourg, wollte die neue Revue ein Binde­glied zwischen deutscher und französischer Wissenschaft sein und, da sie im Raum des frankophonen Protestantismus die einzige allgemein theologische Zeitschrift war, war sie berufen, als dessen wissenschaftliches Organ den theo­logischen Dialog im weltweiten Rahmen zu führen. Die vorliegenden Jahr­gänge seien der Beweis, dass dieses Ziel zum Teil bereits erreicht sei.

Der gesamte Brief spiegelt deutlich das Dilemma der «Sprachenfrage» im elsässischen Alltag wider, aber auch den Stolz des geborenen Elsässers auf die Doppelkultur seines Landes, die geradezu berufen sei, zwischen deut­scher und französischer Wissenschaft zu vermitteln. Wie er es sieht, ist die deutschfranzösische Sprachkultur im Elsass ein Vorteil – keine Belastung, sondern ein wertvolles Erbe, das nicht aufgegeben werden darf,151 denn ge­rade diese Doppelkultur erlaubt, ja verpflichtet, über den beschränkten Hori­zont der eigenen Sicht hinaus den weiter ausgreifenden Dialog zu suchen und zu führen. |51|

Am Schluss kommt Cullmann noch einmal auf die «unfruchtbare Pole­mik» der hinter dem «Manifest» stehenden Exil-Strassburger zurück. Sie hat keine Zukunft. Wenn es um die Erhaltung des deutschen Geisteslebens im Elsass gehe, so sei unter den gegenwärtigen Umständen nicht die Abschot­tung gegen alles Französische die Antwort, sondern die Ausnutzung des doppelten Erbes, die aktive Teilnahme am französischen Geistesleben, um dadurch die Zusammenarbeit mit deutscher wissenschaftlicher Kultur zu fördern und so am Abbau des Grabens zwischen beiden zu arbeiten. Noch einmal plädiert er für die Mitarbeit an der Revue. Der Brief endet auf einer hoffnungsvollen, positiven Note. Auch in Frankreich, so Cullmann, wachse die Einsicht, dass dem Elsass dank seines Erbes eine besondere Rolle im Ver­hältnis der Nationen zueinander zukomme.

Bultmann antwortete auf das lange Schreiben mit einem warmen, aber kurzen Dankgruss schon am 29. März, unmittelbar vor einer Urlaubsreise.152 Der Inhalt der Mitteilung, so lässt er wissen, bestätige ihn, ganz wie er hoffte, in seiner Sicht der Dinge. Auch deutet er bereits seine Absicht an, sich zum Thema der Zusammenarbeit zwischen deutschen und elsässischen Theolo­gen bald einmal schriftlich zu äussern. Cullmann schrieb noch einmal am 9. April, wohl mit der Bitte um Bultmanns Manuskript. Auch Causse, mit dem Cullmann gesprochen hatte, schrieb im April persönlich an Bultmann. Bultmanns nächster Brief ist auf den 28. April datiert.153 Von seiner Reise zu­rückgekehrt, zeigt er sich von den Argumenten der Strassburger überzeugt: «Ich trage nunmehr gar kein Bedenken, meinen Artikel in französischer Sprache in der Revue veröffentlichen zu lassen.» Es dauerte allerdings noch einen Monat, bis das Manuskript in Strassburg eintraf. Am 27. Mai schrieb Bultmann den Begleitbrief,154 in dem er ausser um Zusendung der Überset­zung zur Durchsicht auch um Rückgabe des deutschen Manuskripts bittet. Er habe kein zweites Exemplar. Der Aufsatz erschien schliesslich unter dem Titel Aimer son prochain, commandement de Dieu im Mai–Juni Heft des Jahr­gangs 10 (1930) der Revue, 222–241.155

Der nächste erhaltene Brief ist auf den 24. August 1930 datiert.156 Bult­mann dankt zunächst für einen Brief und eine Karte Cullmanns. Es muss |52| darin um die Verwirklichung von Bultmanns Absicht gegangen sein, etwas zur Vertei­digung der Mitarbeit deutscher Theologen an der Strassburger Revue zu ver­öffentlichen. Im Sommer hatte Bultmann wahrscheinlich den kurzen Text für die von Karl Ludwig Schmidt redigierten Theologischen Blätter verfasst und schickte nun den Korrekturabzug an Cullmann mit der Bitte um Durchsicht und Begutachtung. Der Text erschien als Miszelle in der Septembernummer 1930 unter dem Titel: Mitarbeit an der Revue d’Histoire et de Philosophie religieuses?157 Bultmann erhielt seine Autorenexemplare Anfang September. Eines davon ging an Cullmann, wie eine Postkarte vom 12. Sep­tember mit­teilt.158 Aus einer kurzen Bemerkung am Schluss geht hervor, dass Cullmann den Korrekturabzug durchgeschaut und an einigen Punkten Änderungen vorgeschlagen oder Fragen gestellt hatte. Bultmann selber hatte schon im August vermutet, dass der Strassburger den Schlussatz bean­stan­den könnte und dass die Sätze über die Cunitz-Stiftung politisch miss­deutet werden könnten. Im Übrigen enthält die Karte einen Dank für das ihm zugeschickte Buch Cullmanns über die Pseudoklementinen, «mit dem Sie mir grosse Freude gemacht haben».

Bultmanns Miszelle beruht in der Tat in allen Einzelheiten auf den Infor­mationen, die Cullmann ihm in seinem langen Schreiben gegeben hatte. Bultmann sagt selber im Begleitbrief zum Korrekturabzug: «Ich hatte in mei­nem Artikel nur Tatsachen erwähnt, die Sie mir in Ihrem früheren Briefe genannt hatten, und von denen Herr Causse mir nachher gesagt hatte, daß ich sie nach Belieben verwenden könnte.»159 Causse und Cullmann werden ausdrücklich als Gewährsleute genannt, und die Argumentation folgt den Cullmann’schen Mitteilungen Punkt für Punkt – bei der Beschreibung der finanziellen Grundlage der Revue und der Cunitz-Stiftung, bei der Frage der Ver­öffentlichung in französischer Sprache, bei der Wertung der Revue als Or­gan des französischen Protestantismus und beim Plädoyer für die Sonder­rolle des Elsass für die gegenseitige Vermittlung zwischen deutscher und franzö­sischer Kultur. Auch Bultmann zeigt Verständnis für die Exil-Strass­bur­ger. «Daß sich die früheren Straßburger deutschen Kollegen, von schmerz­­licher Erinnerung gedrückt, fernhalten, ist begreiflich und wird hü­ben wie drüben verstanden und anerkannt werden. Aber ein Gesetz für die anderen darf aus dieser Haltung nicht gemacht werden.» Noch stärker als Cullmann spricht er |53| von der «Pflicht» der Mitarbeit und fasst seinen Appell am Ende wirkungs­voll zusammen: «Bei aller Tragik, die einem Grenzlande wie dem Elsaß in seiner Geschichte verhängt ist, hat ein solches Land doch eine hohe Aufgabe zu erfüllen: die Gemeinschaft derer, die bonae voluntatis sind, über die Gren­zen hinüber zu erhalten. Auch in dieser Hinsicht hat das Elsaß eine große geschichtliche Tradition. Wir sollen uns freuen, daß die Straßburger Revue diese Aufgabe an ihrem Teile tapfer ergriffen hat, und sollen ihr unsere Mitarbeit nicht versagen. Darin liegt doch wohl auch die beste Gewähr dafür, daß die Teilnahme160 am deutschen Geistesleben dem Elsaß erhalten bleibt.»161

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301 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783290177416
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